zum Hauptinhalt
Erst kurz vor ihrem Tod erlangte Ruth Asawa mit ihren Skulpturen Weltruhm.

© The LIFE Picture Collection/Gett

Die Künsterlin Ruth Asawa im Porträt: Eine Form von Freiheit

Zur Kunst kam sie im Internierungslager, und kurz vor ihrem Tod auch zu Weltruhm: Wie es Ruth Asawa immer wieder gelang, Schicksalsschläge in Glück zu verwandeln.

Poesie aus Maschendraht: Von der Decke des Hamburger Bahnhofs schweben die luftigen Kugeln, man weiß nicht, wie sie ineinander gekommen sind. Aber was soll’s, es hat etwas Magisches. Die abstrakte Skulptur ist eine Entdeckung innerhalb der Ausstellung über das Black Mountain College, das seinerseits für viele Besucher eine Entdeckung ist – eine interdisziplinäre Hochschule, so progressiv, so kreativ, dass sie auch knapp 60 Jahre nach ihrem Ende wie eine Utopie wirkt.

Man schaut auf das Schild unter der Arbeit: Ruth Asawa. Nie gehört.

Wer ist diese Frau, die dieses ganz und gar ungewöhnliche Werk geschaffen hat?

Eine japanisch-amerikanische Bauerstochter, Künstlerin, Aktivistin, Pädagogin und Mutter von sechs Kindern, der es wie vielen ihrer Kolleginnen ging: Ihre Arbeiten, die sie aus scharfem Draht flocht, der ihre Finger zerriss, wurden von den Kritikern trotz anfänglicher Erfolge bald als Häkelkunst abgetan, sie selber in Ausstellungsbesprechungen als „Hausfrau“ vorgestellt. Beirrt hat sie das nicht. Ruth Asawa (1926-2013), deren Werk seit ein paar Jahren wieder gefeiert wird, ging ihren Weg. So eigensinnig, wie sie schon als junges Mädchen war.

Damals, in den 1930ern, weigerte sie sich, nach Japan zu fahren, eine Reise, auf die die Familie jahrelang gespart hatte. So wurde statt ihrer die kleine Schwester geschickt. Und Ruth war zu Hause, in Kalifornien, als das FBI im Februar 1942 vor der Tür stand und den Vater mitnahm. Nicht, dass Umakichi Asawa etwas verbrochen hätte. Obst- und Gemüsebauer ist er gewesen, fleißig, tüchtig, die ganze Familie half mit im Betrieb. Vor der Schule, nach der Schule und am Wochenende mussten die sieben Kinder aufs Feld. Möhren und Blumenkohl waren ihnen vertrauter als Baseball und Micky Maus. Und jetzt wussten sie nicht mal, wo der Vater steckte, wie es ihm ging. Monatelang herrschte Schweigen. Nach dem Angriff auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 war jeder Japaner in den USA verdächtig, der Bestseller „Schnee, der auf Zedern fällt“ erzählt davon.

1942 wurde die Familie interniert

Im Mai 1942 waren sie selber dran. Einen Koffer durfte jedes Familienmitglied packen, ihr Haus sahen sie nie wieder. Das Aufnahmelager Santa Anita war eine Pferderennbahn, auf der 1984 Wettbewerbe der Olympischen Spiele stattfanden. Die Familie schlief im Stall, sofern der heftige Gestank sie schlafen ließ, die Brüder teilten sich eine Pferde-Box, Mutter und Töchter eine andere. Ein halbes Jahr später kamen sie in ein anderes Lager, in Arkansas.

Ausgerechnet Roosevelt, der progressivste Präsident, den die USA je hatten, für viele damals eine gütige Vaterfigur, hatte den zutiefst undemokratischen Akt angeordnet. 110 000 japanische Amerikaner wurden deportiert und in Lager gesteckt, Männer, Frauen, Babys lebten in Baracken irgendwo im Nirgendwo. Jeden Morgen, wenn die Kinder in der Lagerschule den Fahneneid schwören mussten und zur Passage „Freiheit und Gerechtigkeit für alle“ kamen, setzte Ruth Asawa hinzu: „außer für uns“.

Der Rassismus war nicht neu. Japanischen Einwanderern war schon vorher die amerikanische Staatsbürgerschaft versagt, auch Land durften sie nicht kaufen. Seine Felder musste Asawa pachten, nach Ende des Kriegs war alles weg.

Selbst wenn die Camps keine Konzentrationslager waren, wie sie manchmal genannt werden – die Internierung in dem auf seine Freiheit und Demokratie so stolzen Land war nicht nur für Ruth Asawas Eltern traumatisch. Ihre Tochter dagegen fand im Unglück ihr Glück, das hat sie immer wieder getan. Ausgerechnet dem Leben in Gefangenschaft verdankte sie ihre Freiheit und Stärke.

Wie das Black Mountain College Ruth Asawa prägte

Erst kurz vor ihrem Tod erlangte Ruth Asawa mit ihren Skulpturen Weltruhm.
Erst kurz vor ihrem Tod erlangte Ruth Asawa mit ihren Skulpturen Weltruhm.

© The LIFE Picture Collection/Gett

So viel Freizeit hatte sie noch nie. Im Lager musste das Mädchen weder auf dem Feld ackern, noch am Sonnabend Kalligrafie und Japanisch lernen. Zu Hause auf der Farm hingen keine Bilder an der Wand, gab es nur zwei Bücher: eine Enzyklopädie und die Bibel. Hier wurde sie von echten Künstlern unterrichtet, darunter Zeichner aus dem Disney-Studio, die ebenfalls interniert waren. Ja, sie konnte sogar studieren. Engagierte Quaker, die sich schämten für das Unrecht in ihrem Land, verschafften ihr ein Stipendium fürs Milwaukee State Teachers College. Kunstlehrerin wollte Ruth Asawa werden.

Aber, wieder so ein Un-Glücksfall: Die Schulen in Wisconsin wollten auch nach dem Krieg keine japanische Amerikanerin haben. So landete sie 1946 im Black Mountain College in North Carolina, von dem ihre besten Freundinnen ihr vorgeschwärmt hatten: „Da musst du hin!“

„Die Natur war zauberhaft, der Geist experimentell, die Ausstattung bescheiden“, beschreibt die Kunsthistorikerin Mary Emma Harris die idyllisch in den Bergen North Carolinas, am See namens Eden gelegene, sagenumwobene Hochschule, wo Dozenten und Studenten zusammen lebten, arbeiteten, stritten und feierten. Die intellektuellen und sozialen Fähigkeiten wurden hier ebenso gefördert wie die emotionalen und künstlerisch-handwerklichen. „Es hat ihr Leben völlig verändert“, sagt Asawas Tochter Addie Lanier im Gespräch am Telefon. Hier waren alle irgendwie Ausgestoßene, die Flüchtlinge aus Deutschland, darunter etliche Bauhausveteranen, die progressiven Professoren, die keine Noten vergaben, die avantgardistischen Künstler.

Nur 1200 Studenten waren eingeschrieben

Nur 1200 Studenten haben das abgeschiedene College besucht, das immer kurz vor dem Ruin stand, 1933 öffnete und 1957 schon wieder schloss. Doch sein Einfluss ist bis heute zu spüren, zu lesen, zu sehen und zu hören, die Liste von Lehrern und Schülern klingt wie ein „Who is Who“ der modernen amerikanischen Kultur: Hier gründete Merce Cunningham seine berühmte Tanzkompagnie, John Cage inszenierte sein erstes Happening, Walter Gropius unterrichtete Architektur, Robert Rauschenberg studierte Malerei.

Ruth Asawa war in ihrem Element. Alle mussten anpacken, Hühner füttern, Häuser bauen, Gemüse ernten, aber kaum jemand tat das so gern wie sie, die außerdem Professoren die Haare schnitt, Käse machte, sich als Studentenvertreterin in der Selbstverwaltung engagierte.

Hier ging es nicht darum, ein Fach, sondern Denken zu lernen, Ideen zu entwickeln. Drei zentrale Figuren des pädagogischen Experiments haben Asawa in ihren drei Jahren im Paradies besonders geprägt. Allen voran Josef Albers, der, von den Nazis aus dem Bauhaus und der Heimat vertrieben, mit seiner Frau Anni, die Weberei lehrte, gleich im Gründungsjahr 1933 berufen wurde. Von Albers lernte sie Zeichnen, das Experimentieren mit alltäglichen Materialien, und vor allem Sehen: „Albers brachte uns bei, die Dinge im Kontext zu sehen. Dass der Raum unter dem Tisch genauso wichtig ist wie der Tisch selbst.“ Mit Buckminster Fuller, dem Architekturgenie, den viele damals noch für einen Spinner hielten, baute sie seine ersten geodätischen Kuppeln, und was sie vom Mathematiker Max Dehn über Geometrie und Proportionen lernte, wandte sie in ihrer Bildhauerei praktisch an.

Im Sommer in Mexiko hatte Ruth Asawa den Frauen beim Flechten von Drahtkörben zugeguckt. Jetzt entwickelte sie ihre eigenen amorphen Skulpturen, räumliche Formen, die dennoch transparent sind – als Linien in der Luft beschrieb die geübte Zeichnerin ihre bauchigen Objekte. Raum zu umfassen, ohne anderen die Luft zu nehmen, das war ihr Ziel.

Wie die Künstlerin zur Lehrerin wurde

Erst kurz vor ihrem Tod erlangte Ruth Asawa mit ihren Skulpturen Weltruhm.
Erst kurz vor ihrem Tod erlangte Ruth Asawa mit ihren Skulpturen Weltruhm.

© The LIFE Picture Collection/Gett

Auch ihren Mann, den Architekten Albert Lanier, lernte Asawa auf dem College kennen. Beider Eltern waren gegen die Verbindung, die Hochzeit fand 1949 in San Francisco, ihrer neuen Heimat, in kleinem Kreise statt. Dass sie überhaupt heiraten konnten, war schon ein Glück: Ein paar Jahre zuvor waren „interracial marriages“ in Kalifornien noch verboten.

Mangels elterlichen Segens hatte sich das Brautpaar diesen von ihren Mentoren geholt, von Buckminster Fuller, der ihren Trauring entwarf, und Josef Albers. Der ermahnte den Bräutigam, dafür zu sorgen, dass Ruth ihre Kunst auf keinen Fall aufgab. Als ob Lanier das nötig hatte: Er bewunderte seine Frau, unterstützte sie sein Leben lang, baute ihre Ausstellungen auf.

Und Ruth? Dachte nicht daran aufzuhören, auch nicht, als sie, zwischen 1950 und 1959, ihre sechs Wunschkinder bekam. In jeder freien Minute flocht Asawa an ihren tropfenartigen Körben. Bildhauerei sei wie die Landwirtschaft. „Wenn man dran bleibt, kann man ziemlich viel schaffen.“ Immer, erzählt ihre Tochter, habe die Mutter was mit den Händen gemacht: „gegärtnert, gekocht, gezeichnet, Objekte geformt“. Der Umtriebigen reichten vier, fünf Stunden Schlaf. Nur für ihre Karriere hatte sie keine Zeit. Der Kunstmarkt spielte sich an der Ostküste ab, doch ihr Leben war im Westen. Hier führten die Laniers ein offenes Haus, in dem sich Künstler, Black-Mountain-Veteranen und Aktivisten trafen.

In den 60ern wandelt sich der Fokus ihrer Arbeit

Denn in den 60er Jahren entwickelte sich die Gegend um San Francisco zur Hochburg des amerikanischen Protests. Auch der Fokus von Asawas künstlerischer Arbeit wandelte sich: von den „privaten“ Drahtobjekten, wie die Tochter sie nennt, zu ihren öffentlichen Arbeiten. In San Francisco ist Asawa vor allem als „Fountain Lady“ und leidenschaftliche Förderin des Kunstunterrichts bekannt. Ihre öffentlichen Brunnen gehören zur Folklore der Stadt; dass sie den Kritikern zu figürlich, fast sentimental erschienen, war der Künstlerin egal. Für sie war das Teil ihres Black Mountain-Erbes: öffentlich und pädagogisch zu wirken. Sie fand, dass jedes Kind Kunstunterricht von Künstlern, und zwar den besten, bekommen sollte. Die von ihr mitgegründete San Francisco School of the Arts trägt heute Asawas Namen.

Nun also werden ihre abstrakten Arbeiten wieder entdeckt. Die alte Dame hat es gerade noch erlebt. Überrascht hat es sie nicht. Sie fand, dass sie einen Platz in der amerikanischen Kunst hatte, wusste um ihren Wert. Nicht so sehr um den Marktwert – großzügig, gab sie eher, als dass sie nahm. Vor allem als Zeichen der Anerkennung hat es sie daher gefreut, dass Christie’s wenige Monate vor ihrem Tod, am 5. August 2013, eine ihrer Skulpturen für mehr als eine Million Dollar versteigerte. Das Auktionshaus hatte der Bildhauerin ungewöhnlicherweise eine ganze Ausstellung gewidmet – wohl auch, um zu zeigen, dass es da ein ganzes Werk zu entdecken gibt, die Skulptur kein Zufallstreffer ist. In aktuellen Gruppenausstellungen hängt sie nun zwischen Größen wie Agnes Martin und Louise Bourgeois, ihr schriftlicher Nachlass, 275 Kisten, wird an der Stanford University gehütet und katalogisiert. Und wenn im Herbst in Boston die erste große US-Ausstellung über das Black Mountain College eröffnet, ist Ruth Asawa natürlich, mit acht Arbeiten, dabei.

Wie ein Ballett aus schwebenden Tänzern

Das de Young Museum in San Francisco hatte ihr schon 2006 eine große Ausstellung gewidmet, „Konturen in der Luft“, die vielen die Augen öffnete. Hier hat sich auch ein Berliner Sammler in Asawas Kunst verliebt, als er mehrere Objekte in der Lobby des Aussichtsturms entdeckte: wie ein Ballett aus schwebenden Tänzern, die, immer leicht in Bewegung, Schatten an die Wände werfen, die wie eigene Kunstwerke wirken. So kratzte er sein Geld zusammen und kaufte in einer Galerie die Arbeit ohne Titel, die nun hier, im großen Bild, auf unserer Seite – und im Hamburger Bahnhof hängt. Ohne ihn hätten die Berliner Ruth Asawa nicht entdeckt.

Der Sammler hat sie sogar noch besucht. Da kam die 87-Jährige aus dem Bett nicht mehr heraus, hing, sprachlos, an Schläuchen. Aber sie blickte in ihren eigenen Himmel: an der Decke des Wohnzimmers schwebten seit eh und je ihre Skulpturen wie luftige Wolken.

Die Ausstellung über das Black Mountain College ist bis zum 27. September im Hamburger Bahnhof zu sehen. Zum Abschluss findet am Freitag und Sonnabend ein öffentliches Symposium über die Reformpädagogik an der Hochschule und die künstlerische Avantgarde statt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false