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Die Schriftstellerin Anne Tyler, die für ihre Familienromane bekannt wurde.

© Jesseca Salky/dpa/pa

Die US-Schriftstellerin Anne Tyler: Heimarbeit

Jonathan Franzen und Nick Hornby zählen zu ihren Fans: Anne Tyler ist nominiert für den Man-Booker-Literaturpreis. Ihre Romane spielen meist in Baltimore. Hier erklärt sie, warum

Als wir 1967 nach Baltimore kamen, fand ich die Stadt ziemlich abweisend. Niemand hat an der Tür geklingelt, Brot oder ein Glas Marmelade vorbeigebracht, wie das anderswo üblich war. Ohne es zu ahnen, waren wir in eine Gegend mit sehr altmodischen Nachbarn voller Standesdünkel gezogen, die beim Anblick der jungen Familie und meines iranischen Mannes wahrscheinlich dachten: „Oh je, jetzt geht’s mit unserem Viertel bergab.“ Ich habe dann mit der Situation meinen Frieden geschlossen, indem ich so tat, als befände ich mich in einer Zeitmaschine, und mir sagte: Lehn dich zurück und amüsier dich. Vielleicht kommt etwas davon in meinen Büchern rüber.

Ich schreibe gern bei offenem Fenster. Ich liebe den Klang spielender Kinder, die Gespräche der Arbeiter über ihre Arbeit. Selbst wenn ich die einzelnen Worte nicht verstehe, mir gefällt der Rhythmus, der Ton alltäglicher Unterhaltungen. Das hilft mir, glaubwürdige Dialoge zu schreiben. Beobachtungen und Gesprächsfetzen stecke ich immer in eine spezielle Schachtel. Heute morgen zum Beispiel habe ich im Radio gehört, wie eine Frau getrockneten Schlamm als „the potato chip kind of mud“ („die Kartoffel-Chip-Art von Schlamm“) beschrieb. Der geht definitiv in die Box.

Eine Stadt wie eine Patchworkdecke

Ich habe immer in bürgerlichen Vierteln von Baltimore gelebt, so wie Familie Whitshank in meinem neuen Roman, „Der leuchtend blaue Faden“. Aber selbst dort sind die rauen Ecken nicht weit weg. Die Stadt ist wie eine Patchworkdecke, die einzelnen Flecken sind sehr klein. Deshalb sollte man Baltimore nicht nach der Gegend beurteilen, in der man zufällig landet; laufen Sie einfach zwei Blocks weiter, und Sie finden sich an einem völlig anderen Ort wieder.

Vor ein paar Jahren habe ich mich verkleinert. Komischerweise ist mir die Trennung von unserem alten Haus leichtgefallen, meine Töchter hatten mehr Probleme damit. Ich habe schon immer gern Sachen weggeschmissen, mich von Besitz getrennt. Ich bin in eine Neubauwohnung gezogen, nicht ins Altersheim. Obwohl ich mir das immer ziemlich gemütlich vorgestellt habe – und „immer“ heißt, dass ich diese Möglichkeit schon als Kind geprüft habe. Aber wenn ich es mir heute genau überlege, hat man da wahrscheinlich zu wenig Privatsphäre.

Sehnsucht nach Wurzeln

Heimat und Zuhause – diese deutsche Unterscheidung gefällt mir. Ich bedaure, dass ich nirgendwo Wurzeln habe. Als ich klein war, sind wir ganz oft in den Südstaaten umgezogen, von einer Kommune zur nächsten, und überall fanden die Leute uns komisch. Ich habe mich immer wie ein Ausländer gefühlt. Aber wahrscheinlich ist das eine gute Erfahrung, wenn man Schriftsteller werden will – es gibt einem einen leicht distanzierten Blick auf die Welt. Als unsere Kinder klein waren, war ich wild entschlossen, ihnen Wurzeln zu geben, sie sollten nicht umziehen, nicht mal die Schule wechseln müssen. Lustigerweise schrieb meine Tochter dann in ihrer College-Bewerbung von ihrer benachteiligten Kindheit, weil sie sich nie auf eine neue Umgebung einstellen musste.

Echte Baltimoreans würden mich wahrscheinlich immer noch als Außenseiter betrachten; ihrer Ansicht nach darfst du dich nur als Baltimorean bezeichnen, wenn deine Großmutter schon hier geboren ist. Aber in dem kleinen Bereich, den ich mir geschaffen habe, fühle ich mich sehr zu Hause. Meine Freunde sind seit Jahrzehnten meine Freunde, selbst mein Klempner ist seit Jahrzehnten mein Klempner. Die meisten Leute, denen ich im Alltag begegne, wissen gar nicht, dass ich Schriftstellerin bin. Das ist mir lieb so.

Sympathie für Seepferdchen

Die Schriftstellerin Anne Tyler, die für ihre Familienromane bekannt wurde.
Die Schriftstellerin Anne Tyler, die für ihre Familienromane bekannt wurde.

© Jesseca Salky/dpa/pa

Das Haus der Romanfamilie Whitshank – luftig und komfortabel stelle ich es mir vor, je mehr Details ich beschrieb, desto mehr wünschte ich mir, selbst dort zu leben! – spielt eine zentrale Rolle im neuen Buch. Dabei ist es weniger Bühne als eine eigene Figur. Am Ende, als die Familie es verlässt, war ich selbst überrascht, dass ich Mitleid mit dem Haus empfand – als wäre es tatsächlich eine Person, die sich im Stich gelassen fühlt.

Im Mittelpunkt steht die große Veranda. Für Junior, den Patriarchen des Clans, symbolisiert sie das Erreichen eines bestimmten Status. Für mich dagegen ist das Wichtigste ihre Großzügigkeit, dass sich all die jungen Leute dort treffen, ein Zeichen für Wärme und Gastfreundschaft. Der arme Junior kommt aus so einer unterprivilegierten, erbarmungslosen Welt, für ihn ist das Haus Symbol für alles, was er früher vermisst hat. Dass es ihn nicht glücklich macht, dafür kann das Haus nichts, sondern die Wirklichkeit: Nichts kann einer so gewaltigen Fantasie gerecht werden.

„Dinner im Heimweh-Restaurant“ ist derjenige meiner Romane, der mir am meisten am Herzen liegt. Er ist geradezu schmerzhaft ehrlich in Bezug auf meine Ansichten über die guten wie die schlechten Seiten des Familienlebens. Ich selber kriege jedes mal Heimweh, wenn ich nicht in meinem eigenen Bett schlafe, egal, wie sehr ich eine Reise genieße. Ich verbringe gern viel Zeit zu Hause. Als ich mal einen Fragebogen ausfüllen sollte, warum ich mich für den Beruf des Schriftstellers entschieden habe, fiel mir zu meiner eigenen Überraschung als Erstes ein: weil ich da zu Hause arbeiten kann.

Ich mag das Gefühl, dort verankert zu sein. Ich habe immer große Sympathie für Seepferdchen empfunden, die angeblich ihr ganzes Leben innerhalb eines ein Meter großen Radius verbringen und den Kringel am Schwanzende nutzen, um sich an einen Strang Seetang festzukrallen.

Wir sind wegen der Arbeit meines (inzwischen verstorbenen) Mannes nach Baltimore gezogen. Und ich bin geblieben, obwohl ich kein Stadtmensch bin. Wie das Sprichwort sagt: „Blühe, wo Du gepflanzt wirst.“ Ich mag die Art der Menschen, diese Mischung aus Humor und unerschütterlichem Individualismus. Meine Figuren spiegeln diese Qualitäten, glaube ich, wider. Und sie sind freundlich, ehrlich freundlich; das glaube ich selbst nach den dramatischen Ereignissen der letzten Zeit, nachdem der Afroamerikaner Freddie Gray bei einer Festnahme durch die Polizei starb.

Seriensüchtig: The Wire

Die Schriftstellerin Anne Tyler, die für ihre Familienromane bekannt wurde.
Die Schriftstellerin Anne Tyler, die für ihre Familienromane bekannt wurde.

© Jesseca Salky/dpa/pa

Die meisten meiner Romane, auch „Der leuchtend blaue Faden“, spielen hier. Das hat erst mal praktische Gründe – Baltimore liegt vor der Haustür. Würde ich die Geschichten anderswo ansiedeln, wäre ich mir nicht so sicher, was die Details angeht: die Redewendungen, die Eigenheiten, die Traditionen. Außerdem fehlt mir jeder Orientierungssinn, ich finde nie den Weg irgendwohin, fühle mich fast buchstäblich hilflos treibend auf der Erde. Der andere Grund, warum ich die Romane in Baltimore spielen lasse: Mir gefällt das Sonderliche hier – das Handfeste, der störrische Stolz. Das bildet den Hintergrund für die Geschichten. Es ist eine wunderbare Stadt für Außenseiter.

Ob es das Baltimore meiner Romane wirklich gibt? Einmal habe ich eine Figur auf Cow Hill beerdigt, einem grünen Hügel in der Nähe meines eigenen Hauses. Ein Leser schrieb mir, dort gäbe es doch gar keinen Friedhof, und ich schrieb zurück: „In meinem Baltimore schon.“

Ich bin ein großer Fan der Fernsehserie „The Wire“, gucke mir die Folgen immer wieder mit Freunden an. Jedes Mal bemerken wir neue Details, kommentieren, diskutieren – lautstark! Es ist nicht so, dass wir die Armut, den Rassismus, die Gewalt in Baltimore nicht mitbekommen. Trotzdem ist die Serie wie ein Augenöffner gewesen. Es war mir peinlich, dass Bekannte aus aller Welt nach den Rassenunruhen in diesem Jahr Mails schickten, ob bei mir alles in Ordnung sei. Und ich zugeben musste, dass ich dort, wo ich lebe, nicht mal auf die Idee gekommen wäre, dass irgendwas los ist. Meine Romane zeigen eine völlig andere Welt. Aber eine, die nicht weniger real ist.

Baltimore versucht sich ja mit dem glatten Werbeslogan „Charm City“ zu vermarkten, auf Bänken an Bushaltestellen steht „The Greatest City in America“. Einmal kam ich mit meinem kleinen Enkel aus San Francisco an so einer Bank vorbei, und er fragte erstaunt: „Baltimore is the greatest city in America?“ Ich liebe diese Stadt wirklich sehr, aber ich bin nicht blind.

„Der leuchtend blaue Faden“ (aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner, Kein & Aber, 22,90 Euro), ist für den Man Booker Prize, den wichtigsten britischen Literaturpreis, nominiert. Der Gewinner wird nächste Woche bekannt gegeben.

Anne Tyler, Protokoll: Susanne Kippenberger

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