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Georgis Vichas leitet eine Poliklinik, wo Ärzte allen Patienten ohne Krankenversicherung kostenlos Hilfe bieten.

© Yannis Kolesidis

Ein griechischer Arzt berichtet: „Wer kein Geld hat, der stirbt“

Griechenland muss sparen, und das sieht so aus: Krebskranke bleiben ohne Hilfe, Polio kehrt zurück, Diabetiker erblinden. Georgis Vichas berichtet aus der Praxis.

GIORGIOS VICHAS, 53, ist Arzt und Herzspezialist in einem Athener Krankenhaus. Nebenbei leitet er seit vier Jahren eine Poliklinik, wo Ärzte und andere medizinische Fachkräfte in ihrer Freizeit allen Patienten ohne Krankenversicherung kostenlos Hilfe bieten. Vichas ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Herr Vichas, müssen Sie fürchten, bald einen Herzinfarkt zu bekommen?

Nein, warum sollte ich?

Weil Sie zwei Vollzeitjobs gleichzeitig machen. Sie sind fest angestellter Kardiologe in einem Krankenhaus und leiten auch noch eine Einrichtung, wo Sie und Ihre Kollegen ehrenamtlich tausende Patienten behandeln, die ansonsten keine medizinische Hilfe mehr bekämen. Das hält niemand auf Dauer durch.

Ich arbeite viel und schlafe nur fünf Stunden pro Tag, das stimmt. Aber ich bin fit, und ich würde ganz bestimmt richtig krank werden, wenn ich es nicht tun und abseitsstehen würde, während viele unserer Landsleute so hart kämpfen müssen und leiden.

Ihre Familie macht das mit?

Meine Töchter haben vor einem halben Jahr aufgehört zu fragen, wann die Krise mal zu Ende ist. Und meine Frau arbeitet selbst bei uns mit, sie sieht, wie nötig wir gebraucht werden.

Wie kamen Sie dazu, eine Klinik mit Freiwilligen für kostenlose Behandlungen zu gründen?

Ich arbeite seit vielen Jahren in einem öffentlichen Krankenhaus, und so sah ich im Frühjahr 2011 die Folgen, als die Menschen plötzlich zu Hunderttaussenden ihren Job und damit auch ihre Krankenversicherung verloren. Damals hatte ich einen 52-jährigen herzkranken Patienten, der fast gestorben wäre, weil er ein halbes Jahr lang die nötigen Medikamente nicht bekommen konnte. Das hat mich tief getroffen, ich fühlte mich schuldig.

Warum? Sie konnten doch nichts dafür.

Ich sah, wie die Menschen litten, und tat nichts dagegen, weil ich nicht wusste, wie. Das änderte sich erst im August 2011. Ich war bei einem Konzert mit Mikis Theodorakis, unserem großen Komponisten. Er hielt eine leidenschaftliche Rede und sagte unter anderem, was ich die ganze Zeit schon dachte, nämlich dass die Ärzte endlich etwas unternehmen sollten, um den Menschen ohne Versicherungsschutz in ihrer Not und Angst beizustehen. Das hat mich kalt erwischt. Das Konzert fand hier auf dem Gelände des alten Flughafens statt, und dann kam mir die Idee: Es gab all die leer stehenden Gebäude, und ich dachte, in einem können wir vielleicht ein freies Ambulatorium einrichten. Zum Glück hat uns dann der Bürgermeister des Bezirks unterstützt. Er überließ uns dieses Haus, Strom und Wasser werden bezahlt.

Lässt denn Ihr Arbeitgeber Sie einfach eine weitere Arbeit machen?

Der Geschäftsführer unseres Krankenhauses war der Erste, den ich überzeugte. Er sah ja die Not und arbeitet selbst mit. Die Mittel für den staatlichen Gesundheitsdienst sind mit den Auflagen der Kreditgeber und ihrer Troika aus Internationalem Währungsfonds, EZB und EU-Kommission um mehr als 40 Prozent gekürzt worden. Die Hälfte aller Ärzte in den öffentlichen Krankenhäusern und Ambulatorien wurde entlassen. Gleichzeitig verlor rund ein Viertel der Bevölkerung mit den Jobs auch ihre Krankenversicherung. Und selbst jene, die noch Löhne oder Renten bekamen, haben oft so wenig, dass sie die hohen Zuzahlungen für die Medikamente oder Behandlungen nicht zahlen können.

Was heißt das praktisch, wenn jemand nicht mehr versichert ist?

Stellen Sie sich vor, Sie werden krank und müssen wegen einer Operation oder Behandlung ins Krankenhaus. Dann bekommen Sie eine Rechnung über ein paar tausend Euro. Und wenn Sie nicht bezahlen, dann rechnet Ihnen das Finanzamt das als Schulden gegenüber dem Staat an, und die Beamten eröffnen ein Verfahren gegen Sie, mit dem sie Ihr Haus oder Ihre Rente pfänden oder Sie sogar ins Gefängnis werfen lassen können.

Und das geschieht wirklich?

Zum Glück nur ab und zu. Die Drohung ist jedoch real und hat schlimme Folgen: Die Menschen vermeiden jede Behandlung, solange sie nur können, und machen damit ihre Krankheit häufig viel schwerer, als sie sein müsste.

In Griechenland sterben Menschen, nur weil sie nicht mehr versichert sind?

Ja, so ist das. Nur wird das von keiner Statistik erfasst. Doch wir haben es in unserer Praxis erfahren. Wir hatten in den ersten drei Jahren 200 Krebspatienten. Davon kamen zehn Prozent erst in einem sehr späten Stadium der Krankheit, die Hälfte von ihnen ist gestorben, weil sie nicht rechtzeitig therapiert wurde. Und die gleichen Erfahrungen berichten Kollegen aus den anderen Freiwilligen-Kliniken. Wir müssen davon ausgehen, dass Tausende gestorben sind, weil sie nicht behandelt wurden.

"Was bei Diabetikern gespart wurde, wird künftig 200 Millionen Euro Kosten verursachen"

Georgis Vichas leitet eine Poliklinik, wo Ärzte allen Patienten ohne Krankenversicherung kostenlos Hilfe bieten.
Georgis Vichas leitet eine Poliklinik, wo Ärzte allen Patienten ohne Krankenversicherung kostenlos Hilfe bieten.

© Yannis Kolesidis

Gibt es Krankheiten, die typisch für die Krise sind?

Aids, Tuberkulose und Hepatitis. Die Infizierten sind oft gerade die Armen, die sich keine Behandlung leisten können. Darum stecken sie weitere an, und die Infektionen breiten sich aus. Hart trifft es auch Diabetiker, die ihre Diät nicht halten können oder nicht genügend Insulin bekommen, ihnen drohen Blindheit oder Amputationen. Und viel häufiger als früher sehen wir unterernährte Mütter, Babys und Kinder. Das wird viele Kinder für ihr ganzes Leben schädigen.

Wenn das stimmt, dann sind die Kürzungen selbst gemessen an rein ökonomischen Kriterien völlig unsinnig.

Das ist ja das Absurde. Diese Sparmaßnahmen werden die griechische Volkswirtschaft am Ende mehr kosten, als sie der Staatskasse insgesamt einbringen. Allein was bei den Diabetikern in den drei Jahren nach 2010 gespart wurde, wird künftig 200 Millionen Euro an zusätzlichen Kosten verursachen. Das wurde in einer Studie genau vorgerechnet.

Hat das die Verantwortlichen nicht ins Grübeln gebracht?

Hören Sie, wir hatten hier bis August vergangenen Jahres einen Gesundheitsminister, der hat sogar verfügt, dass die Krankenhäuser den Müttern ihre neugeborenen Babys nicht geben, bis sie ihre Rechnung bezahlt haben. Den interessierte das nicht!

Sie übertreiben.

Das ist tatsächlich geschehen, sechs Monate lang wurde das in den öffentlichen Kliniken praktiziert. Und noch schlimmer ist, dass sogar bei den Impfungen gespart wird. Die meisten Kinder, die zu uns kommen, sind nicht geimpft. Darum müssen wir nun damit rechnen, dass die Polio, die Kinderlähmung, wieder ausbricht. Das ist ein Risiko für ganz Europa. Die Erreger werden nicht an den Grenzen haltmachen.

Haben Sie je mit Vertretern der Kreditgeber aus der Eurozone oder der Troika darüber gesprochen, wie kontraproduktiv die Kürzungen sind?

Nur mit Abgeordneten aus den nationalen Parlamenten und dem Europaparlament. Gerade erst war eine Delegation aus dem deutschen Bundestag hier. Die haben dann zugegeben, dass sie selbst schlechte Erfahrungen mit Sparmaßnahmen haben, die darum wieder zurückgenommen werden mussten. Ich sagte ihnen, dann sollten sie doch die Regierung von Frau Merkel dazu bringen, auch auf Rücknahme der Kürzungen im griechischen Gesundheitswesen zu drängen. Da bekam ich von den Abgeordneten die Antwort, dafür sei die Troika verantwortlich, nicht die deutsche Regierung.

Aber sie ist es, die gemeinsam mit den Regierungen der anderen Eurostaaten die Troika beauftragt hat, diese Maßnahmen in Griechenland durchzusetzen.

Richtig. Die Abgeordneten fühlten sich trotzdem nicht zuständig.

Auch nicht die aus den Regierungsparteien CDU und SPD?

Nein, selbst die nicht. Stattdessen haben sie uns Spenden für die Klinik hier angeboten.

Es gab gute Gründe, das alte System gründlich zu reformieren. Schließlich war es hochgradig verschwenderisch und korrupt.

Sicher, Reformen waren dringend nötig, es wurde jedoch nicht reformiert, das ganze System wurde zerstört. Man hätte die Ärzte und Praxen besser im Land verteilen müssen, man hätte den Einkauf von Medikamenten billiger machen und den Einfluss der Pharmafirmen zurückdrängen müssen. Und natürlich musste die Korruption bekämpft werden. Das ist alles nicht geschehen, sondern es kam einfach nur zu Kürzungen und Entlassungen.

Aber war das die Schuld der Gläubiger aus Deutschland und der Eurozone? Die Verantwortung dafür liegt doch vielmehr bei der früheren griechischen Regierung aus Konservativen und Sozialdemokraten.

Formal liegt die Hauptverantwortung sicher bei den früheren griechischen Regierungen. Und die Beamten der Troika werden das auch immer so sagen. Nur, wenn Sie die Memoranda und Berichte der Troika lesen, dann sehen Sie, dass sie dieses brutale Programm bis ins Detail geplant hat.

Warum sollten unbeteiligte Beamte aus Brüssel oder Washington so etwas wollen, wenn es gar nichts bringt?

Das habe ich mich auch oft gefragt. Warum erzwingen sie eine so radikale Ausgabenkürzung, obwohl es doch nur zu noch mehr Schulden führt? Am Ende blieb nur eine Erklärung übrig: Hier ging es darum, eine Ideologie umzusetzen, die sagt: Wer Geld hat, darf leben, wer keines hat, stirbt.

"Viele schämen sich für das, was ihre Regierungen in Griechenland durchgesetzt haben"

Georgis Vichas leitet eine Poliklinik, wo Ärzte allen Patienten ohne Krankenversicherung kostenlos Hilfe bieten.
Georgis Vichas leitet eine Poliklinik, wo Ärzte allen Patienten ohne Krankenversicherung kostenlos Hilfe bieten.

© Yannis Kolesidis

Früher haben griechische Ärzte zusätzlich zu ihrem staatlichen Gehalt auch von den Patienten noch Geld gefordert. Sie auch?

Nein, habe ich nicht. Das Unerträgliche ist, dass es sogar heute noch vorkommt – und keiner von denen bisher vor Gericht gestellt wurde, nicht ein einziger. Ich versuche seit Monaten, im Ärzteverband die dafür zuständigen Ausschüsse dazu zu bringen, dagegen vorzugehen. Leider bisher ohne Erfolg.

Gleichzeitig gibt es aber auch viele, die etwas gegen das Elend tun. Wie viele Ärzte arbeiten hier unbezahlt?

Wir sind 100 Ärzte aus allen Fachrichtungen und dazu 200 Schwestern, Pfleger und Fachkräfte.

Und wie viele dieser kostenlosen Ambulatorien für Notleidende gibt es?

In ganz Griechenland sind es 50, davon acht in Athen.

Wie finanzieren Sie das?

Wir nehmen grundsätzlich kein Geld an, nur Sachspenden. Davon bekommen wir zum Glück sehr viel von Bürgern aus ganz Europa, vor allem aus Deutschland und Österreich. Ein kleinerer Teil kommt auch aus Frankreich und Italien. Vergangen Monat konnten wir mit dem Material unserer Spender sogar zwei ganze Lastwagenladungen an öffentliche Krankenhäuser weitergeben.

Die Spenden kommen von den Exilgriechen?

Nein, nicht von Griechen, unsere Spender sind ganz normale Leute aus anderen europäischen Ländern.

Da leisten also Bürger die Solidarität, die ihre Regierungen verweigern?

Es gibt eben auch in Deutschland oder Frankreich jene, die nicht mit dieser Politik einverstanden sind. Ich habe viele getroffen, die sich schämen für das, was ihre Regierungen in Griechenland durchgesetzt haben.

Können Sie und Ihre Kollegen in den anderen Freiwilligen-Gesundheitszentren nun die Versorgung leisten, die wegen der Kürzungen im öffentlichen System fehlt?

Ach, da ist gar nicht dran zu denken. Wir können das Leid lindern, aber das ersetzt keine ordentliche Gesundheitsversorgung. Es ist wirklich eine Tragödie. In den öffentlichen Krankenhäusern fehlt es an allem, nicht nur an Ärzten, sondern sogar an Verbandsmaterial oder Desinfektionsmitteln. Das hat oft schlimme Folgen. Vergangenes Jahr gab es zum Beispiel in einer Geburtsklinik im Norden Griechenlands über Monate keine richtigen Nabelschnurklemmen. Das hat viele Babys fast das Leben gekostet.

Wenn die Lage so schlimm ist, rufen vermutlich jeden Tag viele Leute bei Ihnen an, und bitten dringend um Hilfe. Wie halten Sie das aus?

Manchmal ist es furchtbar. Dann wache ich mitten in der Nacht auf und denke zum Beispiel an die Mutter, die ihr Kind nicht retten kann, oder den Krebskranken, der eigentlich eine teure Behandlung braucht, die wir ihm nicht bieten können. Es gibt Tage, da fühle ich mich sehr frustriert und deprimiert.

Die neue Linksregierung hat versprochen, diese humanitäre Notlage zu bekämpfen. Hat sich die Lage seit deren Amtsantritt im Februar nicht gebessert?

Na ja, wenn ein Wagen mit Vollgas bergab fährt, und man wechselt den Fahrer, dann ist die Fahrt in den Abgrund noch lange nicht vorbei. Immerhin gibt es jetzt Nahrungsmittelgutscheine und Strom für die ganz Armen. Die neue Regierung hat außerdem ein Gesetz verabschiedet, wonach auch die Nichtversicherten Zugang zu den öffentlichen Kliniken haben. Praktisch ist das allerdings noch keine wirkliche Hilfe, weil das öffentliche System mangels Personal und Ausrüstung völlig überfordert ist.

Es fehlen Ärzte und Pfleger.

Ja, sicher. 4000 Ärzte sind ins Ausland gegangen, davon 2500 nach Deutschland. Und selbst wenn die Menschen einen Termin bekommen, heißt es nicht, dass ihnen auch geholfen wird. Oft fehlen die nötigen Geräte, oder die Medikamente sind unbezahlbar teuer. Wir müssen also weiter kämpfen und die Regierung unter Druck setzen.

Die Chance auf Besserung der Lage ist gering?

Ehrlich gesagt, ich erwarte wenig von den Regierungen, sowohl hier als auch im übrigen Europa. Die Lage ist zu verfahren und aufgeheizt. Am meisten Hoffnung schöpfe ich aus der ungeheuren Solidarität der Menschen untereinander bei uns und aus der großen Unterstützung unserer Freunde in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Das macht mir Mut.

Haben Sie je erwogen, selbst in die Politik zu gehen, um das System auf diesem Weg zu ändern?

Ja, ich habe darüber nachgedacht. Mehr aus Verzweiflung als aus Überzeugung. Ich habe mich sogar für Syriza bei der vergangenen Wahl nominieren lassen, weil ich mich verpflichtet fühlte. Aber ich habe dann keinem Journalisten davon erzählt, keinerlei Wahlkampf gemacht und bin auch nicht gewählt worden. Darüber bin ich jetzt ganz froh. Mein Platz ist bei den Kranken, die brauchen mich.

Mehr über die "Metropolitan Community Clinic" erfährt man auf der englischsprachigen Website.

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