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Balboa wird mal sehr eng, mal weniger eng getanzt: Der "pure ball" ist die eng geschlossene Tanzhaltung, im "ball swing" dagegen sind Figuren erlaubt, die etwas mehr Distanz erfordern, aber weniger raumgreifend sind als etwa im Lindy Hop.

© Christian Mang

Ein Tanz erobert die Stadt: Balboa swingt Berlin

Nach dem argentinischen Tango erobert nun der amerikanische Balboa die Hauptstadt – nicht in traditionellen Tanzschulen, sondern in Clubs und Bars. Ein Selbstversuch auf nach Kaffee duftendem Boden.

Es war eines dieser typischen Berlin-Erlebnisse. Mit Freunden waren wir spontan in unserem früheren Lieblingsclub eingekehrt, da bot sich ein seltsames Bild. Wo sonst Rockbands spielen, saßen jetzt fünf alte Männer auf der Bühne. Einer blies die Posaune, ein anderer spielte Klarinette und ein Dritter malträtierte ein Waschbrett. Noch erstaunlicher als die an ihrem blechern-übermütigen Sound klar als Dixieland erkenntliche Musik, war das Publikum. Auf der Tanzfläche drängten sich junge Paare in enger Tanzhaltung und spendeten den Musikern, die ihre Großväter hätten sein können, frenetischen Applaus. Was war das nun wieder für ein Trend? Heike, die immer alles weiß, war sofort Feuer und Flamme: Das muss die Berliner Balboa-Szene sein. Sie hatte davon gehört: Was ich mit einer Stadt im Baskenland verwechsele, sei tatsächlich ein Tanz der 30er Jahre.

LEKTION 1: FÜRCHTET EUCH NICHT

„Balboa ist intimer Kontakt mit dem Partner auf sehr wenig Raum“, sagt Anna am darauffolgenden Dienstag. Wir sind wieder im Bassy, einem Club an der Schönhauser Allee, der mit einem ausgestopften Coyoten und einem Plakat von Saddam Hussein dekoriert ist. Nicht die typische Tanzschul-Atmosphäre. Kurz nach unserem Besuch begann ein Kurs, und Heike bestand darauf, dass wir uns sofort anmelden. Anna Porzelt ist unsere Tanzlehrerin. Ihre Mission ist es, den Paartanz aus den oft aseptischen Tanzschulen herauszuholen und wieder heimisch zu machen, wo er einst entstand: in Clubs und Bars. Nach ihren Kursen spielen oft Berliner Brass-Bands wie die Dizzy Birds und Rentner-Kapellen wie La Foot Creole, die sich über ein junges tanzwütiges Publikum freuen. DJ-Größen wie Karel Duba aus Berlin und Mosquito Hopkins aus Hamburg spielen die unterschiedlichen Balboa-Musiken von Vinyl oder Schellack: vom Trad-Jazz bis zum Gypsy-Swing à la Django Reinhardt. Seinen Ursprung hat Balboa in den urbanen Zentren der Migration an der US-Westküste. Er entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Schmelztiegeln überfüllter Ballrooms. Derzeit erlebt er ein weltweites Revival in Los Angeles, New Orleans, aber auch in Frankreich und England. Berlin entwickelt sich seit Kurzem zum Hotspot in Europa, es gibt viele hundert Aktive in der Stadt.

Wer dazugehören will, muss zunächst den Grundschritt lernen. Die Kunst besteht darin, ihn quasi in den Boden hineinzustampfen, was eher aussieht, als würden wir auf den Schuhsohlen herumschlittern. Damit die Füße besser rutschen, hat Anna gemahlenen Kaffee auf die Tanzfläche gestreut. Es duftet wie in einer Tchibo-Filiale. „Eure Oberkörper sollen sich möglichst wenig bewegen, nur eure Füße müssen schnell sein“, erklärt sie. Balboa ist ein Paartanz. Er wird eng getanzt. „Es muss aussehen, als würde man zwei Tintenfische mit den Körpern aneinanderpressen und schütteln, so dass unten alle Beine zappeln, während sich oben nichts bewegt.“ Anna liebt anschauliche Vergleiche.

Einer geht so: Um eine gute Körperspannung zu erzielen, sollen wir uns vorstellen, wir hielten eine Erbse mit dem Bauchnabel und unsere Schultern seien mit Gummibändern verbunden. „Follower!“, ruft sie den Frauen zu: „Drückt euch an die Brust eurer leader, nur so bekommt ihr connection.“ Sie spricht Englisch, weil das die offizielle Balboa-Sprache ist, und damit alle sie verstehen. Berliner Tanzkurse sind multinational. Eine Frau tritt zaghaft auf mich zu. Sie scheint ebenso große Angst zu haben wie ich. Ich breite die Arme aus und lerne meine erste Lektion: Wer Balboa tanzen will, darf keine Angst vor körperlicher Nähe zu Fremden haben.

LEKTION 2: BENEHMT EUCH
Man darf sich das nicht zu erotisch vorstellen. Wer Füße, Arme, Tanzrichtung und eine eingebildete Erbse koordinieren muss, hat anderes im Kopf. Ein paar Wochen und viele Umarmungen später geht der Grundschritt schon ganz passabel. Wir lernen verschiedene Varianten: Down-hold und Up-hold, close und open position. Bei alledem müssen wir pulsen, das heißt, mit dem ganzen Körper im Takt schwingen, ohne dabei zu hüpfen. „Balboa verzichtet auf große Gesten und Show-Einlagen“, sagt Anna. Er ist ein Social Dance, das ist ihr wichtig. In ihren Kursen braucht man keine festen Tanzpartner, denn es wird reihum gewechselt. Im Unterschied zum Sport der Turniertänzer und zum Show-Charakter raumgreifender Swing-Tänze wie dem Lindy-Hop gehe es dabei um Kommunikation mit dem Partner – nicht mit dem Publikum. Daher gelte er auch als Tanz für Tänzer. Zuschauer können den sparsamen Bewegungen und den kleinen Trippelschritten weniger abgewinnen.

Anna selbst hatte eine klassische Tanzschul-Ausbildung und eine exzessive Techno-Phase hinter sich, bevor sie auf Swing-Tänzen hängen blieb, wie sie selber sagt. Ihren Beruf als Regisseurin hat sie inzwischen aufgegeben, um sich ganz dem Tanz zu widmen. Sie will den Kontakt zwischen den verschiedenen Balboa-Zentren fördern. Darum lädt sie Nachwuchs-Weltstars wie die Sängerin Meschiya Lake aus New Orleans nach Berlin ein, die als die Amy Winehouse des Balboa gilt.

Zur Vorbereitung auf solche Höhepunkte lernen wir den basic. Ich bin mit meinem inzwischen ganz zufrieden. Meine Tanzpartnerinnen nicht. „Du hüpfst zu sehr“, sagt eine von ihnen nach einer Runde. „Das muss sich leicht anfühlen, irgendwie smoother.“ Mein neu erworbenes Balboa-Lächeln gefriert. Zum Glück setzt Anna zu einer ihrer Ansprachen an: „Follower, das Wichtigste ist, dass ihr nett zu den leadern seid. Kritisiert sie nicht, denn sie haben es schwerer als ihr.“ Meine Kritikerin guckt schnell weg, als ich sie streng ansehe. Die zweite Lektion: Balboa ist Benimmunterricht für Erwachsene.

Ohne Internet wäre der Balboa Craze nicht denkbar

Balboa wird mal sehr eng, mal weniger eng getanzt: Der "pure ball" ist die eng geschlossene Tanzhaltung, im "ball swing" dagegen sind Figuren erlaubt, die etwas mehr Distanz erfordern, aber weniger raumgreifend sind als etwa im Lindy Hop.
Balboa wird mal sehr eng, mal weniger eng getanzt: Der "pure ball" ist die eng geschlossene Tanzhaltung, im "ball swing" dagegen sind Figuren erlaubt, die etwas mehr Distanz erfordern, aber weniger raumgreifend sind als etwa im Lindy Hop.

© Christian Mang

LEKTION 3: VERNETZT EUCH
Heike ist nervös. Seit zwei Monaten üben wir mit mäßigem Erfolg. Nun wird Peter als Gastlehrer erwartet. „Was, du kennst Peter Loggins nicht?“ Empörtes Augenrollen. Alle Balboa-Schüler kennen seine YouTube-Videos. Ich nicht. Wenn ich „Balboa“ eingebe, kommen immer nur Mickey und Kelly, ein Tanzlehrerpaar aus New York. Heike guckt ungnädig. Mickey und Kelly tanzten „ok“, Peter und Mia hingegen – Heike ringt nach Worten –, die seien fantastisch! Ich beschließe, mehr Zeit auf YouTube zu verbringen.

Ohne Internet wäre der neue Balboa Craze nicht denkbar. Es wird gegoogelt, geshared und geliked, was das Zeug hält. Kursanmeldungen finden online statt, man trifft sich in Facebook-Gruppen und twittert Termine. Am Ende jeder Stunde klatscht Anna in die Hände und schreit „Video“. Sofort stellt sich der gesamte Kurs mit gezückten Handys in den Halbkreis und filmt die Lektion des Tages mit der Kamera. Manche treffen sich privat und üben das Erlernte nach den selbst gefilmten Mini-Videos. Auch analoge Kulturen profitieren von der Digitalisierung.

LEKTION 4: GESCHICHTE IST TANZBAR
Peter Loggins sieht mit extrem weiten Hosen, Einstecktuch und einem Clark-Gable-Moustache aus wie ein Film-Gangster aus einem frühen Hitchcock. Der ehemalige Skater und gelernte Tätowierer ist nicht nur ein exzellenter Lehrer, der jede Bewegung akkurat mit seinen bunten Armen in die Luft zu malen versteht, sondern auch eine Art lebender Gedächtnisspeicher des Balboa. Seine Lektionen würzt er mit scheinbar beiläufig eingestreuten Anekdoten. Sie handeln von berühmten Tänzern wie Lawrence „Lolly“ Wise, dem Erfinder eines Tanzschrittes, der nun seinen Namen trägt. Wenn Peter spricht, setzt eine andächtige Stille ein.

Jeder weiß, dass er schon zu einer Zeit, in der andere zu Grunge oder Hip-Hop zappelten, durch die altmodischen Ballrooms von Los Angeles zog und das Tanzwissen von lang ergrauten Hipstern anzapfte, die den Balboa bereits in seiner Entstehungszeit in den 20er und 30er Jahren getanzt hatten. Balboa, benannt nach einer Halbinsel südlich von L. A., entstand als Reaktion auf überfüllte Ballsäle mit mehr als 1000 Tänzern. Peter kennt die historisch korrekte Engführung, mit der man ihn praktisch auf einem Bierdeckel tanzen kann. Dieses Körperwissen ist sein Kapital. Er ist die Verbindung zwischen den Enthusiasten der ersten und den Novizen der jüngsten Generation und wird nicht nur als Tanzlehrer, sondern auch als Geschichtsdozent gebucht. Seine Talks sind mittlerweile ein unverzichtbares Element auf den Weekendern rund um den Globus und sichern ihm einen festen Platz im Jetset der Szene. Er ist ein Verfechter des West-Coast-Stils, den der Filmtänzer Dean Collins bekannt gemacht hat. Anders als der New Yorker Savoy-Stil wird er geradlinig getanzt und deswegen auch Hoovercraft-Style genannt, weil die Partner quasi schwebend übers Parkett gleiten.

Weekender sind eine Mischung aus Ausflug, Kurs und Party

Balboa wird mal sehr eng, mal weniger eng getanzt: Der "pure ball" ist die eng geschlossene Tanzhaltung, im "ball swing" dagegen sind Figuren erlaubt, die etwas mehr Distanz erfordern, aber weniger raumgreifend sind als etwa im Lindy Hop.
Balboa wird mal sehr eng, mal weniger eng getanzt: Der "pure ball" ist die eng geschlossene Tanzhaltung, im "ball swing" dagegen sind Figuren erlaubt, die etwas mehr Distanz erfordern, aber weniger raumgreifend sind als etwa im Lindy Hop.

© Christian Mang

LEKTION 5: ÜBERSCHÄTZT EUCH NICHT
Ich fühle mich im Kurs wieder mal unwohl, und das liegt nicht nur daran, dass ich, anstatt wie ein Luftkissenboot über den Kaffee zu schlittern, noch immer mit der Eleganz eines Presslufthammers auf der Tanzfläche stampfe. Auch komme ich mir in meinen Jeans zunehmend underdressed vor. An meinen Mittänzern sind bemerkenswerte Veränderungen vor sich gegangen. An Frauenfüßen tauchten vereinzelte Kreationen mit geflochtenen Riemchen und eleganten Absätzen auf. Dann Glockenröcke, die sich bei richtiger Drehgeschwindigkeit zu konzentrischen Kunstwerken aufplustern. Irgendwann folgten die Männer: T-Shirts wichen Hemden, Turnschuhe zweifarbigen Budapestern. Offenkundig wirft das Berlin Balboa Weekend seine Schatten voraus.

Weekender sind eine Mischung aus Wochenendausflug, Intensivkurs und Party. Ganz nebenbei fungieren sie als Stilschule, Gerüchteküche und Kaderschmiede der internationalen Szene. Besonders begehrt ist das einwöchige Balboa Castle Camp in einem Schlosshotel in Sachsen-Anhalt. Auch das Berlin Balboa Weekend, gegründet von den Berliner Tanz-Pionieren Philippe Cause und Tycho Gallinaccio, gilt als einer der wichtigsten Termine im weltweiten Balboa-Kalender. Es ist Wochen, manchmal Monate im Voraus ausgebucht. Insider wissen das und melden sich frühzeitig an. Für die wenigen Unwissenden hat Anna ein Ersatzprogramm in Neukölln organisiert. Angeleitet wird es von Nejc Zupan. Auf den Dielen des Berliner Zimmers einer Neuköllner Kreativ-Etage führt der Slowene ein militärisches Regiment, um uns fit für den Abend zu machen. Auch er liebt Vergleiche, entlehnt sie aber vorzugsweise dem Boxsport. Ich übe ein paar linke Haken mit Heike und fühle mich dann bereit für die Tanzparty.

LEKTION 6: AUFGEBEN IST KEINE OPTION
Das Berlin Balboa Weekend versammelt, was Rang und Namen in der Szene hat. Wer an Workshops teilnehmen will, muss erst vortanzen. Ein Einstufungsgremium teilt sie dann je nach Niveau den Kursen zu. Am Abend treffen sich alle in der Tanzschule Bebop am Spreeufer. Das Andreas Hofschneider Quartett hat Vibraphon und Kontrabass aufgebaut, und die Schrankkoffer sind geleert: Verschleierte Hütchen konkurrieren mit Seidenkrawatten, Netzstrümpfe mit Nadelstreifen. Beim Tango Argentino, so hatte Anna erklärt, gelte es als striktes No-Go, wenn eine Frau einen Mann auffordert; beim Balboa hingegen sei das völlig normal. Sie hält das für einen Vorteil, aber mir steht der Angstschweiß auf der Stirn. Wie in den meisten Tanzszenen mangelt es an Führungskräften. Ich verstecke mich hinter Heike und bin jedes Mal nahe am Herzinfarkt, wenn sich eine mir unbekannte Tänzerin nähert. Irgendwann passiert das Unvermeidliche: Vor mir steht eine Fremde und fordert mich unmissverständlich zum Tanz auf. Meine Beteuerungen, ich sei sehr schlecht, versteht oder akzeptiert sie nicht.

Auf dem Parkett versuche ich mich gleichzeitig an Annas und Nejcs Instruktionen zu erinnern. Ich denke an das imaginäre Gemüse im Bauchnabel und an die unsichtbaren Bänder zwischen uns. Die spürbar fortgeschrittene fremde Tänzerin erträgt meine Fähigkeiten höflich, entfernt sich aber nach Ende der Musik rasch. Nach diesem entmutigenden Erlebnis positioniere ich mich an der Bar und verlege mich auf den ersten Teil des Begriffspaares Social Dance. Ein Tänzer aus Schweden versichert mir beim Wein, Berlin sei die einzige Stadt der Welt, die eine Balboa-Szene habe, die unabhängig vom Lindy-Hop bestehe.

Wir spekulieren, ob sich Berlin deshalb so gut zur Balboa-Stadt eignet, weil es keine Sperrstunde gibt, oder ob es sich bei der altmodisch scheppernden Musik um eine Gegenbewegung zur cleanen Digitalkultur handelt. Vielleicht, so wirft mein Gesprächspartner ein, ist Berlin aber auch in einer ähnlichen historischen Situation wie damals Los Angeles: viele Menschen aus aller Welt auf vergleichsweise engem Raum. Zwei Irinnen mischen sich ein und heben hervor, dass man hier an mehreren Abenden in der Woche in Clubs wie dem Kater Blau und Bars wie dem Crack Bellmer tanzen kann. Ich nehme diese Komplimente an die Balboa-Stadt Berlin, als gälten sie mir persönlich, halte mich aber vorsichtshalber von der Tanzfläche fern.

Die meisten Tänzer, die vorzeitig aufgeben, sagt Anna am Dienstag darauf im Kurs, scheitern daran, dass sie nicht genug Selbstbewusstsein besitzen, sich mehrere Monate lang vor Publikum zu blamieren. Es ist eine eigenartige Definition von Selbstbewusstsein, denn meines war lange nicht mehr so zerstört wie in den vergangenen sechs Monaten meines Balboa-Novizentums. Andererseits: Was ist schon ein halbes Jahr gegen eine bald 100-jährige Tanzgeschichte?

Am 19. April um 19 Uhr geben Meschiya Lake & Russell Welch (New Orleans) mit den Dizzy Birds (Berlin) ein Konzert im Bassy Club, Schönhauser Allee 176a. Dort findet jeden Dienstag ab 21 Uhr „Jassy Bassy“ statt, mit DJs und Bands. Mittwochs gibt es den „Balboa Swing Club“ bei Kater Blau auf dem Holzmarktgelände, am Ende der Woche den „Balboa-Sonntag“ im Crack Bellmer in Friedrichshain. Wechselnde Termine im A Compás in Neukölln. Mehr über Balboakurse von Anna Porzelt unter bravenewswing.de; Balboa-CDs von DJ Stefan Wuthe: swingtime.de. Anmeldung zum Berlin Balboa Weekend 2016: berlinbalboaweekend.de. Weitere Termine für Swing und Balboa: swinginberlin.de

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