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Der Mann im Hintergrund. Spalatin (hier in Eric Tills "Luther" aus dem Jahr 2003 gespielt von Benjamin Sadler) steuerte Luther durch die Reformation.

© imago/United Archives

Erinnerungen an die Gegenwart: Eine Hymne auf Spalatin

Wieso jubeln alle über Luther, aber niemand über Georg Spalatin? Solche Politiker bräuchten wir heute, findet unser Kolumnist.

Wer kennt Georg Spalatin? Wie sähe die Welt heute aus ohne Spalatin? Wieso berichten und jubeln seit Monaten alle über Martin Luther, aber niemand über Spalatin?

Vermutlich wäre Luther ohne Spalatin 1521 nicht mal bis nach Worms zum Reichstag gekommen, der ihn noch berühmter machte. Und selbst wenn er bis nach Worms gekommen wäre, so wäre er ohne Spalatin niemals wieder nach Wittenberg zurückgekommen, sondern von Häschern des Papstes oder Kaisers als Vogelfreier geschnappt und verbrannt worden. Ohne Spalatin wäre vermutlich die evangelische Bewegung beendet worden, bevor sie überhaupt begonnen hatte, und fast die ganze Welt wäre noch immer katholisch.

Man darf allerdings auch nicht nur schönen. Ohne Spalatins Überlebensstrategien für Luther hätte dieser niemals die Bauernbewegung verraten oder seinen unsäglichen Anti-Judaismus verbreiten können, den dann die Nazis aufnahmen, die dann vorwiegend durch evangelische Wähler erstmals bei den Reichstagswahlen 1932 stärkste Partei wurden. Natürlich konnte Spalatin, als er Luther durch die Reformation steuerte, nicht ahnen, dass irgendwann die Sicherheitsratssitzungen der amerikanischen Regierungen mit Lesungen aus dem von Luther übersetzten Alten Testament beginnen würden, um danach im Irak oder sonst wo einzumarschieren, ja, vermutlich liest auch der jetzige Präsident hin und wieder Luther, das hat Spalatin nicht verhindern können.

Trotzdem gäbe es ohne Spalatin keinen Johann Sebastian Bach, keinen Mendelssohn Bartholdy, keinen Dietrich Bonhoeffer, sogar keine Margot Käßmann, keinen Joachim Gauck, von Pastor Fliege oder Bismarck ganz zu schweigen oder der Siegessäule oder Preußen.

Wir brauchen Politiker, die über die Macht hinausragen

Wenn man heute einen Diplomaten feiern, verabschieden oder beglückwünschen müsste, man sollte bei diesem Georg Spalatin beginnen. Er war der erste deutsche Diplomat, der Urdiplomat, ein Ur-Frank-Walter-Steinmeier. Ein studierter Jurist, ausgebildeter Humanist und ab 1524 Geheimsekretär des Kurfürsten Friedrich des Weisen, so eine Art Kanzleramtschef. Später, als Spalatin immer wieder Wege fand, zwischen dem machthungrigen spanischen Kaiser Karl V., den Drohungen der Kurie in Rom und dem katholischen Kurfürsten zu vermitteln, war er eigentlich der erste Außenminister der Deutschen.

Er liebte die Künste, das geistige Leben, lenkte als Beauftragter die Geschicke der Universität in Wittenberg, wo er Luther und Melanchthon kennenlernte und die Reformation nach außen vertrat. Luther gab dabei den groben, keine Rücksichten nehmenden Machtmenschen; Spalatin den vorsichtigen, auf Ausgleich bedachten Feingeist. Die neue Agenda wäre ohne Spalatin sofort zerschlagen gewesen.

Und wer seine Briefwechsel mit Luther, mit Erasmus, mit dem Kurfürsten, mit den Unterhändlern des Kaisers oder des Papstes liest, bekommt vermutlich eine ähnliche Sehnsucht: Wo sind heute die politischen Persönlichkeiten hin, die unter den schreienden, tumben, trumpigen Machthabern noch die Kunst des Ausgleichs, des Zuhörens, des Miteinanders können und wollen? Deren Persönlichkeiten über die Macht hinausragen?

Was also das Reformationsjubiläum im Jahr der Bundestagswahl bereithält, ist die Entdeckung eines Politikers, der fehlt. Und wahrscheinlich bleibt am Ende, und gerade jetzt, gar nichts anderes übrig als jene Pfarrerstochter, die schon im Kanzleramt sitzt – und die es ohne Spalatin auch nicht gäbe.

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