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Finnische Tango-Enthusiasten.

© Laif/Touku Hujanen/The New York Times

Finnische Musik: Tango in Moll

Ganz Finnland tanzt, auch wenn die Männer kein Talent dazu haben. Tango wird in der Schule gelehrt – und dient der Fortpflanzung.

Ich verstehe nur Üxi. Üxikacksi. Eins, zwei – „yksi, kaksi“, hämmert der Lehrer seinen Schülern die Schritte im hölzernen Tanz-Pavillon ein. Freitagabend, im Industriegebiet am Rande von Helsinki. Kleine Männer mit roten Schaffnermützen weisen den Besuchern den Weg zum Wochenendvergnügen. Das Ambiente: 70er Jahre. Das Publikum: 50 plus. Bevor der eigentliche Abend beginnt, lernen die eifrigen Schüler Samba. Tango können sie schon, den lernt hier jeder Gymnasiast. Die einheimische Variante auf jeden Fall.

Die Paare schieben, stolpern, manche schweben sogar, immer im großen Kreis herum, wie ein Karussel. Jetzt ist Tango-Time: In jedes Set baut die Kapelle zwei Tangos ein, das ist Standard, so wie die regelmäßige Damenwahl. Das ist der Moment, in dem Jorma Tulonen sich verdrückt.

Denn seit 55 Jahren tanzt er ihn, seit 35 bringt er ihn seinen Landsleuten bei, sogar den Abgeordneten im Parlament. Als Könner ist Tulonen – weiße Haare, aufrechte Haltung, Goldkettchen am Arm – ein begehrter Mann auf dem Parkett. Denn der finnische Mann als solcher ist da nicht so begabt. Sagt ein finnischer Mann, einer der bekanntesten im ganzen Land: M.A.Numminen, Soziologe, Philosoph, Musiker, Schriftsteller, Fernsehstar, Anarchist und Dadaist.

Finn-Tango, erklärt das menschliche Gesamtkunstwerk beim Gespräch in seinem Stammlokal „Elite“, wird nicht getanzt, sondern gegangen. Das ist einer der Gründe des Erfolgs. „Der Finne hat ein so schlechtes Gefühl für Rhythmus, dass er nur tanzen kann, wenn der Takt mit der großen Trommel gedroschen wird“, schreibt Numminen in seinem Klassiker „Tango ist meine Leidenschaft“, den der Haffmans Verlag gerade neu aufgelegt hat. Halb Roman und halb Kulturgeschichte, halb Satire und halb Hymne, ist das Buch ein Hybrid. So wie der Tanz, der sich im Laufe von 101 Jahren zu einer Mischung aus argentinischen Ursprüngen, deutscher Marschmusik, russischen Schmonzetten und finnischer Seele entwickelt hat. Aus aufsteigendem Dur zu absteigendem Moll. Verwechslungsgefahr besteht nicht, wie der Tanzlehrer erklärt. „Das Tempo ist ganz anders.“ Die acht argentinischen Schritte wurden auf vier reduziert, das Akkordeon ersetzt das Bandoneon.

Am 2. November 1913 kam der argentinische Tango nach Finnland, ein Datum, das hier jedes Kind zu kennen scheint. Damals führte ein dänisches Paar den verruchten Tanz im Restaurant Börs auf, das feine Publikum war begeistert. Bis der Tango dann zur Volksmusik wurde, dauerte es noch ein bisschen, wesentlich dazu beigetragen haben vor allem drei Musiker: Toivo Käki, Olavi Virta und Unto Mononen.

Seinen Höhepunkt erreichte der Finn-Tango zu Beginn der 60er Jahre. Heute gilt er als etwas altmodisch, in Helsinki selbst kann man ihn kaum finden, umso häufiger im Sommer auf dem Land. Von Mai bis September reicht in der Regel die Saison der Tanzböden im Freien, zwischen Birken am See, und der überdachten Pavillons.

Die Texte sind mindestens so wichtig wie die Melodie

Der Höhepunkt findet im Juli statt: Da verwandelt sich das ganze Städtchen Seinäjoki für fünf Tage in einen Open-Air-Tanzsalon – eine höchst erfolgreiche Marketingidee aus den 80er Jahren, um die Popularität wieder anzukurbeln. Mehr als 100 000 Finnen schieben dann über den Asphalt. Bei der Krönung von Tango-König und -Königin gucken zu Hause vor dem Fernseher noch mal eine Million zu. Bei insgesamt 5,4 Millionen Einwohnern eine beachtliche Einschaltquote.

Die Texte der Lieder sind mindestens so wichtig wie die Melodie, beide sind von schwermütiger Sehnsucht getragen: ein gefühlvolles Klagen. Als „Blues der Finnen“ hat Aki Kaurismäki den Tango beschrieben, der in seinen Filmen regelmäßig getanzt wird.

Auch wenn die Finnen das nicht gerne hören mögen (kein Volk wirkt so stolz auf seine Melancholie, ist mit solcher Lust traurig), ist die Sehnsucht doch häufig erfüllt worden. Denn dass die Finnen es überhaupt auf 5,4 Millionen Einwohner brachten, haben sie dem Tanz zu verdanken. Sagt M.A. Numminen. In einer so „nicht-taktilen Gesellschaft“, wie ein deutscher Finnlandkenner sie nennt, ist der Tango die Rettung. Denn hier darf man sich ganz nahe kommen, Brust an Brust, Knie an Knie, die Frau lehnt sich mit der Stirn an ihren Partner. Und da der Finne ja bekanntlich die Zähne nicht auseinander kriegt, um „Ich liebe Dich“ zu sagen, erledigen die Musiker das für ihn. Mag der Tango in Argentinien ein dramatischer Kampf der Geschlechter sein, hier ist er eher der Versuch einer schleppenden Annäherung.

„Ran-tán-tan-tan, rata tan-tan tan-tán-tan-tan!“, schlägt M.A. Numminen den Takt auf den Tisch. Der mittlerweile 74-Jährige hat viel zum anhaltenden und internationalen Erfolg der Musik beigetragen, hat der Anarchist doch Tangos gedichtet und komponiert, gesungen und gespielt, zusammen mit seinem „Neo-rustikalen Orchester“ und immer auf seine sehr spezielle Art. Mit brüchiger Stimme und osteuropäischem Akzent, das Rrrr rollend, ein Gesang, so zerknautscht wie sein Gesicht. Oft auf Deutsch, wie in seinem bekanntesten Song, „Mit meiner Braut im Parlamentspark“. Der galt lange als so frivol, dass er im Radio verboten war.

Eigentlich haben die Argentinier den Finnen ja den Tango geklaut. Das behauptet Aki Kaurismäki zumindest zu Beginn der hinreißenden Dokumentation „Mittsommernachtstango“ von Viviane Blumenschein, die gerade als DVD herausgekommen ist. Darin tritt natürlich auch M.A. Numminen auf, zusammen mit Tango-Prinzessin Sanna Petiäinen, mit der er auch mehrere CDs produziert hat, im Münchener Trikont Verlag. Denn nach den Finnen sind die Deutschen die größten Finn-Tango-Fans. In Hamburg fand vor zwei Wochen ein ganzes Festival zu seinen Ehren statt. So weit ist Berlin noch nicht. Aber immerhin: Am 8. November tritt das junge Pieni Orkesteri in der Neuköllner Ma Thilda Bar auf.

Gut möglich, dass der Finn-Tango reif ist für eine neue Renaissance. Denn selbst bei jungen finnischen Kosmopoliten weckt er nostalgische Gefühle, nach einer Zeit, die sie gar nicht mehr erlebt haben, einer Welt, die noch einfacher war. Genau wie der Tanz, so Lehrer Jormo Tulunen: „Man muss nur laufen können.“ Aber mit Gefühl.

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