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Alfred Wolf machte 1946 auch Station in Furth am Wald. Das Bild stammt aus dem Buch „Das Grenzdurchgangslager Furth im Wald 1946-57“, das bei Druck und Verlag Ernst Vögel erschienen ist.

© Druck und Verlag Ernst Vögel

Flüchtlinge in Deutschland: Die Parallelen zwischen 1946 und 2016

In Deutschland leben tausende Geflüchtete in Turnhallen und Auffanglagern. Die Gesellschaft diskutiert, wie viel sie schafft. Nicht das erste Mal.

Als die Türen unseres Güterwaggons aufgeschoben wurden und wir aussteigen durften, fühlte ich mich ziemlich derangiert. Zwei Tage und Nächte hatte ich auf dem nur notdürftig abgedeckten Waggonboden verbracht, nun taten mir alle Knochen weh, ich war übermüdet, durstig und hungrig, von den Strapazen abgestumpft.

Als Erstes wurden wir registriert und ärztlich untersucht. Im Grenzdurchgangslager Furth im Wald gab es Toiletten, Waschbaracken und Kinderbadestuben. Wir bekamen warmes Essen. Dann folgte die Entlausung. Meine Mitreisenden waren beleidigt, dass die US-Armee annahm, wir kämen aus einem verseuchten Land und müssten jetzt erst mal menschlich gemacht werden. Wir wussten nicht, dass es nur eine Routinebehandlung war. Wer in die amerikanische Zone wollte, musste da eben durch. Die Amerikaner hatten irgendwie einen Hygienefimmel. Wir traten also in Reihen in einen Barackenraum, in dem drei junge Männer, Deutsche, mit großen, vielleicht 40 Zentimeter langen Röhren mit spitzer Düse warteten. Diese Röhren waren mit DDT gefüllt – einem stark wirkenden und lang anhaltenden Insektenvernichtungsmittel. Nach der Prozedur sahen wir aus, als seien wir mit Mehl bestäubt worden.

Das bayrische Grenzdurchgangslager Furth im Wald bestand aus etwa 40 Baracken und war eigentlich für maximal 1200 Menschen gedacht. Tatsächlich wurden zwischenzeitlich pro Tag vier Züge mit 4800 Personen abgefertigt. Alle wie wir aus dem Sudetenland. Für den Aufnahmeprozess waren pro Zug etwa drei Stunden Zeit vorgesehen.

Auf einer Sitzbank fand ich eine aktuelle deutschsprachige Zeitung mit einem dramatischen Bericht über die Arbeitslosigkeit in Westdeutschland. Meine Mutter sagte, davon würden wir jetzt auch betroffen sein.

Im Lager gab es Schaulustige

Im Lager gab es Schaulustige, für die Flüchtlingstransporte irgendwie spannend waren. Eine Frau fragte uns, ob wir in unserem bisherigen Leben nur Tschechisch gesprochen hätten. Hatten wir vielleicht, ohne es zu merken, einen slawischen Akzent?

Furth im Wald, das liegt im Böhmerwald, war nur eines von mehreren Grenzdurchgangslagern, die eingerichtet worden waren, um den Strom der Ankommenden zu kanalisieren. Es war, ähnlich wie heute, da Angela Merkel optimistisch sagt: „Wir schaffen das“, ein gewaltiger logistischer Kraftakt: Von den gigantischen Fluchtbewegungen und Vertreibungen im Osten waren etwa zwölf Millionen Menschen betroffen. Diese mussten möglichst geordnet in ihre Aufnahmegebiete geleitet und dort untergebracht werden.

Ein wirkliches Glück hat meine Familie – zwar nach dem festgelegten Verteilungsschlüssel, aber doch zufällig – in den Bereich der USA, der reichsten und vielleicht tolerantesten Besatzungsmacht geführt. Fast alle Gestrandeten des Kriegs wollten dorthin. Auf der Potsdamer Konferenz war beschlossen worden, dass von allen eintreffenden Menschen 37 Prozent in die britische Zone, 14 Prozent in die französische, 21 Prozent in die sowjetische und 28 Prozent in die amerikanische Zone kommen sollten. Die Franzosen, die an der Potsdamer Konferenz nicht beteiligt waren, verweigerten allerdings die Aufnahme.

Die USA rechneten mit nur zwei Millionen Menschen

Die Amerikaner rechneten zunächst mit 2,1 Millionen Menschen in ihrer Zone, es wurden dann mehr als drei. Die meisten Transporte fanden zwischen Dezember 1945 und Juli 1946 statt. Der Zug, in dem meine Familie war, erreichte am 18. Juni 1946 den US-Sektor.

Wie die drei anderen Besatzungsmächte wollten auch die Amerikaner das Problem der deutschen Minderheiten aus dem Osten durch dauerhafte Aufnahme und Assimilation ohne Rückkehrmöglichkeit lösen. Sie versuchten zu verhindern, dass die Vertriebenen in Westdeutschland eine Minderheit mit eigenen, unerwünschten politischen Zielen würden. Deshalb sollten sich die Flüchtlinge möglichst in keiner Hinsicht von der Altbevölkerung abgrenzen können – weder politisch noch sozial noch räumlich. Auch sollten die Neuankömmlinge die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und möglichst schnell in privaten Wohnungen unterkommen. Wohngettos mit ausschließlicher Flüchtlingsbevölkerung sollten vermieden werden – und Aufenthalte in Zwischenlagern nicht länger als zwei Wochen dauern. Die endgültige Unterbringung sollte, wegen der Zerstörung der Städte, vor allem in ländlichen Gemeinden mit weniger als 20 000 Einwohnern erfolgen. So jedenfalls war der Plan.

Hungern und warten: Das Leben im Lager

Flüchtlinge im Jahr 1946. Das Bild stammt aus dem Buch „Das Grenzdurchgangslager Furth im Wald 1946-57“, das bei Druck und Verlag Ernst Vögel erschienen ist.
Flüchtlinge im Jahr 1946. Das Bild stammt aus dem Buch „Das Grenzdurchgangslager Furth im Wald 1946-57“, das bei Druck und Verlag Ernst Vögel erschienen ist.

© Druck und Verlag Ernst Vögel

Nach dem Zwischenstopp in Furth im Wald fuhr unser Zug weiter westwärts. Wir fühlten uns als Treibgut, nicht als Fahrgäste mit einem bestimmten Ziel. Wir waren entsetzt darüber, wie kaputt alles war. Unsere Heimat war von Fliegerbomben und Frontkämpfen weitgehend verschont geblieben. Als die zerstörten Städte aus dem fahrenden Zug heraus für uns sichtbar wurden, jammerten viele, was wir denn in diesem Land voller Trümmer sollten. Schließlich endete unsere Zugfahrt auf einem Abstellgleis des Bahnhofs Hockenheim in Baden.

Helfer verteilten klebriges Brot, das keinen Vergleich mit unserem Backofenbrot aushielt. Drei Tage blieben wir im Waggon, wurden auf dem Bahnhof versorgt. Das verunsicherte uns und verstärkte die Befürchtung, dass in diesem zerstörten Land eigentlich kein Platz für uns war.

Nach drei Tagen wurden wir auf Zwischenlager verteilt

Nach drei Tagen wurden wir auf verschiedene Zwischenlager verteilt. Unsere Waggongruppe kam in Hockenheim in einer Schule in einen leer geräumten Klassenraum. Jeder bekam ein Feldbett der US-Armee. Die amerikanische Militärregierung hatte, kurz vor unserer Ankunft, allein im Raum Nordwürttemberg/Nordbaden 150 000 Stück zur Verfügung gestellt. Ein eigenes Bett schien uns wie der erste Schritt in ein geordnetes Leben. Die Familien bildeten wie im Waggon kleine Gruppen. Meine Eltern und ich schliefen wirklich prima.

In der Turnhalle der Schule war mit langen Reihen von Tischen und Bänken eine Kantine eingerichtet, in der wir Frühstück, Mittag- und Abendessen bekamen. Ein großer Fortschritt in unserem Flüchtlingsdasein, dachten wir. Allerdings holte uns die Realität schnell ein. Das Essen war erbärmlich und knapp bemessen, wir hungerten, aber das ging den übrigen Deutschen ja nicht anders.

Hunger macht schnell aggressiv. Es herrschte die Meinung, dass wir unerwünscht seien und deshalb vernachlässigt würden. Im Nachhinein war das sehr ungerecht, wenn man bedenkt, welche Leistungen insgesamt vollbracht wurden.

Wer die Entscheidung traf, wussten wir nicht

Nach 14 Tagen wurden wir verlegt. Wer diese Entscheidung getroffen hatte und warum, wussten wir nicht – auch nicht, wohin es gehen sollte. Man war den Entscheidungen fremder Mächte, die man nicht kannte, ausgeliefert. So müssen sich heute wohl auch die Tausende von Flüchtlingen aus Syrien in Berlin fühlen, die nicht verstehen, warum sie bisher nicht registriert wurden oder warum ihr Asylverfahren so lange braucht. Jedenfalls sollten wir unsere Sachen zusammenpacken, die US-Feldbetten durften wir mitnehmen. Am Vormittag, es war ein Samstag, fuhr ein klappriger kleiner Lkw auf den Schulhof, unser Gepäck wurde auf die offene Pritsche geladen, auch wir 20 Menschen stiegen auf und quetschten uns zusammen. Dann ging die langsame Fahrt über schlechte Straßen bis nach Mauer bei Heidelberg.

Der Transporter hielt auf der Straße vor dem Rathaus. Der Fahrer beeilte sich, unser Gepäck auf der Straße abzuladen, dann fuhr er weg. Wir standen etwas verloren da. Vielleicht war die Gemeindeverwaltung auf unsere Ankunft gar nicht vorbereitet? Vielleicht hatte uns das Zwischenlager in Hockenheim nach Ablauf der Bleibefrist einfach loswerden wollen? Überforderte Bürgermeister haben damals ja immer wieder heftig protestiert, dass ihnen die Probleme mit den Flüchtlingen unvorbereitet aufgeladen würden.

Selbstversorger: Die ersten Tage in der neuen Heimat

Verpflegung im Flüchtlinge. Das Bild stammt aus dem Buch „Das Grenzdurchgangslager Furth im Wald 1946-57“, das bei Druck und Verlag Ernst Vögel erschienen ist.
Verpflegung im Flüchtlinge. Das Bild stammt aus dem Buch „Das Grenzdurchgangslager Furth im Wald 1946-57“, das bei Druck und Verlag Ernst Vögel erschienen ist.

© Druck und Verlag Ernst Vögel

Nach einiger Zeit kam ein Mann aus einer Querstraße und begrüßte uns freundlich. Er hieß Johann Müller und war der Bürgermeister von Mauer. Er erzählte uns, dass in seiner kleinen Gemeinde von nur 1500 Einwohnern schon sehr viele Zuzügler angekommen seien, eine Unterbringung in Wohnungen sei deshalb nicht möglich. Wir sollten also in den Saal des Gasthauses „Zur Rose“. Die Betreiber waren sehr herzlich. Wie selbstverständlich sie unsere verängstigte Menschengruppe aufgenommen haben, wurde für mich eine bleibende, dankbare Erinnerung. Wir stellten im Saal unsere Betten auf. Am Sonntag gingen wir in die Kirche. Ich weiß nicht, wie sehr uns die Katholiken in Mauer als Fremde wahrnahmen, ich fühlte mich wohl: die lateinische Messsprache, die deutschen Texte, die Melodien, alles war vertraut.

Gleich am Montag gingen wir rüber ins Rathaus auf der anderen Straßenseite. Mein Vater meldete uns an, Personalpapiere wurden beantragt. Auf der „Karte“, die mein Vater später erhielt, ist als Staatsangehörigkeit „Volksdeutscher C.S.R. z.Z. Staatenlos“ angegeben.

Die Problematik der Staatsangehörigkeit war den Alliierten und den deutschen Behörden völlig bewusst. Um die Gleichstellung mit den Einheimischen zu sichern, verlangten die Besatzungsmächte, dass alle Flüchtlinge die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten sollten. Die deutsche Seite lehnte dies ab. Zum einen, weil damit der Verlust der ursprünglichen Staatsangehörigkeit verbunden gewesen wäre, was ihre angestrebte Rückführung hätte erschweren können. Zum anderen war schwer zu überblicken, welche Rechte und Ansprüche die Zuwanderer mit der deutschen Staatsangehörigkeit automatisch erlangen würden. 

Wie wir im Quartier kochen sollten, war ein Rätsel

Nach dem Besuch im Rathaus bekamen wir endlich Lebensmittelkarten, wobei die Zuteilungen extrem bescheiden waren. Wie die wenigen Lebensmittel im Gemeinschaftsquartier zubereitet werden könnten, war ein Rätsel. Denn im Tanzsaal gab es keine Kochgelegenheit. Wasser konnte man nur von einem Hahn eine Treppe tiefer im Hof holen, dort durfte man sich auch ein bisschen waschen, dort war die Toilette, die eigentlich für die Gäste des Lokals bestimmt war. Möglichkeiten zu duschen oder zu baden gab es nicht. Wie er es geschafft hat, weiß ich nicht. Jedenfalls hat mein Vater irgendwo im Dorf einen alten, kaputten, weggestellten Küchenherd ausfindig gemacht. Als findiger Schlosser hat er den Herd ziemlich schnell brauchbar gemacht. Wir waren nun wieder Selbstversorger.

Dann kam die letzte Oktoberwoche. Ein von der US-Militärverwaltung ermächtigter Kommissär, ein Deutscher, kam ins Dorf und verschaffte allen Familien aus dem Tanzsaal Wohnraum – auf etwas rabiate Weise. Er hatte sich wohl von der Gemeindeverwaltung über den Wohnungsbestand unterrichten lassen.

Die Frau drohte, sich aufzuhängen

Meine Eltern und mich brachte er in ein Haus in der Kirchenstraße, in dem eine Frau mit ihren Töchtern lebte, deren Mann sich in russischer Kriegsgefangenschaft befand. Der Kommissär schaute sich alle Zimmer an, dann entschied er, dass die zwei Räume im Dachgeschoss an uns abzutreten seien. Dort lebte eigentlich die Mutter der Frau. Sie schluchzte und drohte, wenn man sie aus ihren Zimmern werfe, werde sie sich aufhängen. Der Kommissär antwortete: „Wenn Sie sich umbringen wollen, tun Sie das doch bitte gleich. Dann wird die Wohnung sofort frei.“

Wir arrangierten uns bald. Viele im Dorf dachten, das alles gehe wieder vorbei. Mein Vater war da viel realistischer. Er hatte erkannt, dass diese gewaltige Bevölkerungsbewegung nicht rückgängig gemacht werden konnte. Wir dachten nur noch an eine Zukunft in Westdeutschland. Eine Rückkehr ins Sudetenland war keine greifbare Option.

Alfred Wolf wurde im Jahr 1931 in Mährisch-Schlesien geboren und im Juni 1946 gemeinsam mit seinen Eltern aus der Tschechoslowakei nach Süddeutschland in die amerikanische Besatzungszone verschickt. Seine

Geschichte, die er in den Büchern „Im Schlagschatten der Machtpolitik“ und „Zugewiesene Heimat“ (beide Gerhard Hess Verlag) festhielt und die die Grundlage für diesen Text bilden, weist große Parallelen zu heutigen Fluchtbewegungen auf. Deshalb verraten seine Erinnerungen nicht nur viel darüber, wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Integration von zwölf Millionen Flüchtlingen organisierte, sondern auch darüber, wie dies heute angesichts der erneuten Einreise von tausenden Flüchtlingen gelingen kann. Alfred Wolf lebt in Kleinmachnow bei Berlin.

Alfred Wolf

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