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Die erste Kicker-Ausgabe

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Fußballmagazin "Kicker": Walther Bensemann: Der Spielmacher der Nation

Walther Bensemann gründete die Zeitschrift „Kicker“ und baute den Deutschen Fußball-Bund mit auf. Vor 80 Jahren starb der Fußball-Pionier im Exil.

Von Andreas Austilat

Der Zug in die Schweiz ist pünktlich. Wenn schon abtreten, dann erster Klasse, denkt Walther Bensemann. Er hat nur einen Koffer dabei, den Rest muss er zurücklassen: Pokale, Wimpel, stapelweise Fotos, die blaue Collegemütze. Georges Richert, der Besitzer des Nürnberger Grand Hotel Fürstenhof, in dem Bensemann seit acht Jahren lebt, hat ihm beim Abschied versprochen, auf die Sachen aufzupassen, solange er fort ist.

Wenige Tage vorher, am 28. März 1933, hat Walther Bensemann in seinem „Kicker“ den vorläufigen Abschied verkündet. Wegen gesundheitlicher Probleme fahre er zur Kur, schreibt er. Und dann einen Satz, der sich nachträglich wie eine böse Prophezeiung liest, die weit über die Zukunft seiner eigenen Zeitung hinausgeht: Die Sportpresse werde künftig „eine mehr referierende als kritische Aufgabe“ haben. Dass der 60-Jährige sein Lebenswerk aufgibt, weil er Jude ist und die Nazis ihn loswerden wollen, schreibt er nicht.

Seine Redakteure machen weiter, als sei nichts gewesen. Dabei hat Bensemann den „Kicker“ 13 Jahre lang geprägt, er hat ihn gegründet, war zeitweise Herausgeber, Autor und Vertriebsleiter in einer Person, viele sagen: Bensemann ist der „Kicker“. Und noch mehr. Er habe den Fußball nach Deutschland gebracht, wird Sportfeuilletonist Richard Kirn später schreiben. Bensemann hat den Deutschen Fußball-Bund mitaufgebaut, die ersten Länderspiele organisiert, mehrere deutsche Klubs gegründet, darunter die Vorläufer von Eintracht Frankfurt und Karlsruher SC sowie mit dem MTV die Keimzelle des FC Bayern München.

Fußball gilt zunächst als undeutsch

Den ersten gründet der Sohn eines Bankers im Sommer 1889, da ist er 16 und geht in die Unterprima des Bismarckgymnasiums in Karlsruhe. Für zehn Mark hat er einen Fußball für die Klasse gekauft. Die Schüler treffen sich nach dem Unterricht auf einer Wiese an der Moltkestraße direkt neben der Schule. Ihre Trikots, ebenfalls von Bensemann gesponsert, liegen nebenan im Feuerwehrturm versteckt. Die Eltern sollen nichts davon wissen. Denn während Fußball in England seit Jahrzehnten gespielt wird und bereits 1888 eine Profiliga gegründet wurde, die zehntausende Zuschauer ins Stadion lockt und Arbeitern den sozialen Aufstieg ermöglichen kann, gilt die Sportart hierzulande noch als exotisch und undeutsch.

Als Bensemann im September den „International Football Club“ ins Leben ruft, den ersten Verein in Süddeutschland, droht ihm sein Klassenlehrer Julius Keller, ein Anhänger der Turnbewegung, mit Karzerhaft. Die Turner, 1807 von Friedrich Ludwig Jahn gegründet, bemühen sich um die korrekte Ausführung ihrer Übungen, ohne leistungsorientiert zu sein. In der Schrift „Fußlümmelei – über Stauchballspiel und englische Krankheit“ hetzt ein Turnlehrer 1898 gegen „sinnloses Getrete“. Das hat Folgen: Fußballer werden verprügelt, Spiele von aufgebrachten Bürgern systematisch gestört.

Walther Bensemann
Walther Bensemann

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Besonders stört Klassenlehrer Keller, dass in Bensemanns Klub Engländer mitspielen. Der Schüler gibt dem Druck schließlich nach, alle deutschen Spieler treten aus und gründen mit dem KFV, genannt die „Bensemann-Kickers“, einen neuen Klub. Der existiert noch heute, die Mannschaft spielt derzeit in der Kreisklasse C, Staffel 1. Alle Fußballvereine, die ein „Kickers“ im Namen tragen, beziehen sich auf Bensemann.

Eine Zeitschrift ohne journalistische Erfahrung

Er selbst hat den Fußball als Zehnjähriger entdeckt; da ist er Internatsschüler in der französischen Schweiz. Weil dortviele Briten leben, ist Fußball bereits etabliert. Mit 14 gründet Bensemann den FC Montreux, wird dessen „Clubsekretär“. Mitglieder rekrutiert er auf der Straße. Als Tore dienen Äste, Kappen oder Kleidung. Bei der ersten Partie gegen La Villa spielt mangels Mitspielern der Schulleiter mit.

Der Fußball wird Bensemann von da an nicht mehr loslassen, fortan wird er sein ganzes Leben auf den Sport ausrichten. Für einen guten Fußballer ist Bensemann selbst zu langsam und ein bisschen zu dick. Im Spiel bei den „White Rovers Paris“ spielt er im Winter 1898 als Mittelstürmer so schlecht, dass Andrew Pitcairn-Knowles, der englische Herausgeber der „Sport im Bild“, ihn kritisiert. Das macht Bensemann wütend, seine Reaktion wird ebenfalls abgedruckt: „Durch unsere Worte in seinem Ehrgefühl gekränkt, besaß Herr Bensemann die seltene Unverfrorenheit, dem Verfasser eine Forderung auf Säbel ohne Binden und Bandagen zu überbringen“, schreibt Pitcairn-Knowles. Ein Säbelduell ist lebensgefährlich und verboten. Die Forderung wird verweigert.

Die Zeitschrift ist das Wagnis seines Lebens

Die erste Kicker-Ausgabe
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Bensemann scheut selten ein Risiko. Mit 47, er ist Lehrer für Fremdsprachen, kommt er in Konstanz auf die Idee, eine wöchentliche Fußballzeitung herauszubringen. Es ist das Wagnis seines Lebens. Der „Kicker“ wird einmal Deutschlands wichtigste Sportzeitung werden. Journalistische Erfahrung hat Bensemann, der vorher nur kurze Beiträge in Zeitungen verfasst hat, kaum. Trotzdem schreibt er für die erste Ausgabe fast alle Texte selbst. Außer ihm und einem Handlanger ist nur eine Sekretärin für die Anzeigen angestellt. Erst kurz vor Redaktionsschluss am 13. Juli 1920 bekommt das Büro ein Telefon. In der Nacht ziehen Helfer eine Handkarre mit Erstausgaben aus der Druckerei. Quer durch Konstanz rollen sie den Wagen, über die kleine Zollstation ins schweizerische Kreuzlingen. Die ersten Zeitungen, Stückpreis 1,50 Reichsmark, gehen ins Ausland. Zunächst sind es nur 25 Abonnenten, meist Verbände und Klubs.

In seinen Leitartikeln und Glossen schreibt er über Spiele, aber mehr noch über das Drumherum. Befreundete Korrespondenten wie der österreichische Trainer Willy Meisl berichten aus dem Ausland. Fremdsprachen werden nicht übersetzt. Er zitiert in Englisch genauso wie in Altgriechisch. „Geh zu, Spießer, kauf dir ein anderes Blatt, wo nur vom Fußball drinsteht“, antwortet er einem Kritiker. Sein Leser ist der intellektuelle Fußballfan.

Die Zeitschrift soll Ideale vermitteln

Zu Großereignissen wie dem olympischen Fußballturnier 1924 in Paris fährt Bensemann selbst. Der „Kicker“ soll nicht nur unterhalten, sondern Ideale vermitteln, ein „Symbol der Völkerversöhnung durch den Sport“ werden. Er will verhindern, dass seine Zeitung jemals als Bühne für nationale Egoismen und Intoleranz missbraucht wird: Auf keinen Fall wolle er sich vor den mit „Parteifähnchen geschmückten Wagen spannen“ lassen, schreibt er. „Sport veredelt den Charakter, Politik verdirbt ihn.“

Die publizistische Konkurrenz ist groß. Der „Kicker“ macht Verluste, und Bensemann trägt alle Kosten selbst. „Ich muss konstatieren, dass der „Kicker“ enorm billig ist. Er wird dem deutschen Sportpublikum sozusagen geschenkt“, schreibt er. Wäre nicht ein holländischer Investor eingestiegen, der „Kicker“ wäre längst pleite.

Hohe Kosten fallen auch privat an. Bensemann besitzt weder Wohnung noch eigene Familie, logiert in Luxushotels, trägt elegante Anzüge. Er ist Gourmet, liebt Austern und Champagner. Menükarten ausschweifender Banketts druckt er stolz im „Kicker“ ab. Eigentlich kann er sich das Leben als Mäzen gar nicht leisten. Wo das Geld herkommt, das er schon als Teenager für den Fußball aufwendet, bleibt unklar.

Bensemann muss sich verschulden

Von der Vorstellung eines Länderspiels gegen die englische Nationalmannschaft ist Bensemann 1899 wie besessen. Für ihn ist es der ultimative Leistungstest. Gegen den Widerstand deutscher Funktionäre – die englischen Profis wollen bezahlt werden – organisiert er die Spiele. Mitstreiter warnen: „Das wird dich ruinieren.“ Die Kosten belaufen sich auf bis zu 20 000 Mark. Das entspricht 100 durchschnittlichen Monatsgehältern. Bensemann muss sich verschulden. Bei seinem Freund, dem späteren Fifa-Funktionär Ivo Schricker, taucht er verzweifelt auf. Tags darauf leiht sich Bensemann in Straßburg bei dessen Mutter, er hat sich dafür Cutaway und Zylinder angezogen, 2000 Mark: „Ich muss mich erschießen, gnädige Frau.“

Die Länderspiele finden in Berlin auf dem Athletik-Sportplatz am Kurfürstendamm statt. Tausende Schaulustige drängen sich am 23. und 24. November, zwei Werktagen, durch die Tore, Schüler schwänzen, schauen von Bäumen runter. Die deutsche Mannschaft verliert 2:13, am Tag darauf 2:10. Gegen englische Profis hat sie keine Chance. Die Partien gehen als „Ur-Länderspiele“ in die deutsche Sportgeschichte ein.

„Der König des deutschen Fußballs ist gestorben“

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Für Bensemann bedeuten sie den Durchbruch. Am 28. Januar 1900 wird er Mitbegründer des Deutschen Fußball-Bundes. Die Namensidee ist seine. Fortan fährt er zu Kongressen und Turnieren, ist mit Fifa-Gründer Jules Rimet und dem englischen Verbandschef Frederick Wall befreundet, gilt als Zentrum der europäischen Fußballprominenz. Für seine Mitarbeiter beim „Kicker“ ist er eine Vaterfigur. Nach Redaktionsschluss lädt er die Redakteure zum Dinner in den Fürstenhof. Nach dem Dessert torkeln die noch zum „Nachschlag“ ins Schulgässchen zu Heiner Stuhlfauth, Meistertorhüter vom Klub, Nationalspieler und Wirt der Sebaldusklause.

Und dann der Abschied. Nach seiner Reise in die Schweiz im März 1933 bricht sein Kontakt zum „Kicker“ abrupt ab. Im Januar 1934 wäre ihm als Jude ohnehin gekündigt worden, denn dann trat das NS-Schriftleitergesetz in Kraft, das den Ariernachweis für Journalisten forderte. In Bensemanns Abwesenheit machen die Nationalsozialisten den „Kicker“ zum „Amtlichen Organ des Reichsfachamtes Fußball im NS-Reichsbund für Leibesübungen“. Die Auflage des Propagandablattes steigert sich zwar von 20 000 auf 100 000, doch der intellektuelle Anspruch ist weg. Nach dem Krieg erinnert man sich beim „Kicker“ an seinen Gründer, ohne dass sein Geist zurückkehrt. Seit 2006 wird der Walther-Bensemann-Preis als Auszeichnung für Engagement und gesellschaftliche Verantwortung verliehen, zuletzt 2014 an Ottmar Hitzfeld.

Ein zurückgezogenes Leben im Exil

Bensemann lebt im Exil in Montreux zurückgezogen bei einem Freund, dort, wo er selbst den Fußball entdeckte. Einmal noch, er fährt 1934 mit dem Auto zur WM nach Rom, zeigt er sich der Öffentlichkeit. Mit dem Fernglas, er ist kurzsichtig, beobachtet er die deutsche Nationalelf. Die verliert am 3. Juni im Stadion der Faschistischen Partei im Halbfinale gegen die Tschechoslowakei mit 1:3.

Danach verschlechtert sich Bensemanns Gesundheit, er ist herzkrank. Am 12. November 1934 stirbt er im Alter von 61 Jahren in der Klinik Florimont. Auf seinem Grab türmen sich Blumenkränze mit bunten Schleifen: Der gesamte europäische Fußball ist vertreten. Aus seinem Heimatland schickt nur Phönix Karlsruhe einen kleinen Kranz. „Der König des deutschen Fußballs ist gestorben“, schreibt der „Messager de Montreux“. Der „Kicker“ berichtet in einem lapidaren Satz. Die „Badische Presse“ aus Karlsruhe vermeldet trocken, Bensemann sei an einem Hirnschlag gestorben. Auf derselben Seite bedankt sich Adolf Hitler „mit deutschem Gruß“ großformatig für die ihm durch die Stadt Karlsruhe erteilte Ehrenbürgerschaft.

Außer wenigen Briefen und den „Glossen“ aus dem „Kicker“ ist nichts Persönliches von Bensemann erhalten. Der Koffer aus dem Fürstenhof wird 1949 im Beisein des späteren DFB-Präsidenten Peco Bauwens und Journalisten geöffnet, der Inhalt dem DFB übergeben. Dort weiß man heute nichts mehr davon.

Dieser Text beruht auf den Recherchen, die Bernd M. Beyer für sein Buch "Der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte. Das Leben des Walther Bensemann. Ein biografischer Roman" geleistet hat. Das Buch ist im Verlag Die Werkstatt nun auch als Paperback erschienen.

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