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Für viele Zuzügler aus ganz Indonesien bedeutet Jakarta: Freiheit am Rande des Chaos

© Getty Images

Gastland Indonesien bei der Frankfurter Buchmesse: Meine Dosis Desaster

Indonesien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse. Unser amerikanischer Autor lebt in dem Inselstaat. Die Hauptstadt Jakarta bedeutet für ihn ein Stück Freiheit am Rande des Chaos.

Bei meiner ersten Reise in die indonesische Hauptstadt 1993 – ich sollte für ein amerikanisches Reisemagazin berichten – wohnte ich in einem gerade eröffneten Luxushotel. Nachdem ich eingecheckt hatte, wollte ich in einem chinesischen Restaurant, das mir ein Freund empfohlen hatte, zu Abend essen. Es lag nur ein paar hundert Meter die Straße hinunter vom Hotel entfernt, doch der Portier hielt mich an und riet mir, auf keinen Fall zu Fuß zu gehen. Als ein New Yorker, der jahrelang durch Thailand, Kambodscha, Vietnam gereist war, war ich überzeugt, es besser zu wissen. Ich dankte ihm und setzte meinen Weg fort.

In dem Moment, in dem ich hinaustrat, fiel ein Schwarm heiserer transsexueller Prostituierter über mich her. Jeder von ihnen versuchte seinen Anspruch auf mich geltend zu machen, seine Hände in meine Taschen zu schieben. Ich verscheuchte die Lady-Boys mit wedelnden Armen, bevor sie mich noch ausgeraubt hätten, und sprintete zum Restaurant.

Das Essen war fantastisch, aber als ich zurück zum Hotel gelangte (mit dem Taxi), war der Aufzug wegen eines Stromausfalls außer Betrieb. Ich musste die 14 Stockwerke bis zu meinem Zimmer zu Fuß erklimmen. Am nächsten Morgen kam ich eine ganze Stunde zu spät zu meiner Verabredung, weil ich in einem gigantischen Stau feststeckte. Rushhour in New York erscheint einem im Vergleich dazu wie eine geringfügige Unannehmlichkeit. Willkommen in Jakarta!

Wie ich lernte Jakarta zu lieben

Aber an den folgenden Tagen, als ich die traditionellen Märkte, Kunstgalerien, Antiquitätenhandlungen und Straßencafés entdeckte, warf die Stadt ihren Anker in mein Herz. 1999 bin ich hierhergezogen, um mit meinem Freund, einem indonesischen Restaurateur, zusammenzuleben. Inzwischen wohnen wir auf Lombok, östlich von Bali, wo es ruhig ist. Alle paar Monate muss ich jedoch nach Jakarta zurück: für meine Dosis Desaster.

Sogar diejenigen von uns, die die Stadt, so wie ich inzwischen, lieben, müssen einräumen, dass sie überfüllt und hektisch ist. Jakarta ist ein Konzentrat des ganzen Landes, seine Bewohner schöpft es aus den mehr als 17 000 Inseln Indonesiens. Einigen Berechnungen zufolge handelt es sich mit gut 30 Millionen um den weltweit zweitgrößten Ballungsraum nach Tokio.

Ich erfuhr schnell, dass der Stau meines ersten Morgens der Normalzustand ist und man leicht zwei Stunden verspätet ankommt. Der Müll wird eher gelegentlich abgeholt; Abfall verstopft Kanäle und Flüsse, die einst der Stolz dieser Stadt waren. In der Regenzeit führt das zu schweren Überflutungen. Hier fühlt es sich schon wie ein Triumph an, es einfach nur durch den Tag geschafft zu haben. Man kommt sich vor wie ein Abenteurer, der ein großes Stück Weg allein im Dschungel zurückgelegt hat.

Die Überbleibsel der Kolonialzeit

Anders als viele Großstädte dieser Welt hat Jakarta keine antiken Wurzeln, aber kurz nach meinem ersten Besuch kam ich wieder, um die Überbleibsel der Kolonialzeit zu besichtigen. Einige hatte man zu opulenten Tränken umgebaut – so wie das Café Batavia auf dem Fatahillah-Platz. Einst lag hier der Stadhuisplein, der großzügige Rathausplatz, das Herzstück dieser niederländischen Kolonialhauptstadt. Ein Freund von mir nahm mich auf ein Steak in dieses Café mit, später spielte noch eine Rockband im dazugehörigen Nachtclub, einer Art Ratskeller.

In den frühen Morgenstunden, als wir in die wohlduftende, feucht-tropische Nacht hinausstolperten, um ein Taxi zu finden, trafen wir eine junge Indonesierin. Sie war etwa 20 und saß rittlings auf einer langen bronzenen Kanone gegenüber dem alten Rathaus. Diese „Si Jagur“ war 1641 als Kriegstrophäe nach Batavia gebracht worden, wie die Stadt damals hieß. Den Gewehrlauf schmückt die Skulptur einer männlichen Faust, ihr Daumen steckt zwischen Mittel- und Zeigefinger: in Indonesien eine eindeutige Einladung zum Sex.

Schlangenblut als Aphrodisiakum

Die Rushhour dauert den ganzen Tag.
Die Rushhour dauert den ganzen Tag.

© AFP

Die Frau erzählte, dass sie auf der Kanone sitzt, weil sie gerade geheiratet hat und schwanger werden will. Ein Ritt soll die weibliche Fruchtbarkeit steigern. Etwas Ähnliches gibt es auch für Männer: Kiosks im benachbarten Chinatown verkaufen das Blut von Kobras, die in der Gegenwart des Kunden geschlachtet werden. Man trinkt es als Aphrodisiakum.

Es kam mir merkwürdig vor, dass die Indonesier sich ausgerechnet um Manneskraft und Fruchtbarkeit sorgten, denn die Straßen der Stadt wimmelten von Kindern und Jugendlichen. Tatsächlich ist der Hauptgrund für die chaotischen Zustände die übermäßige Bevölkerung. In Jakarta platzt das Leben ständig aus den Straßen heraus.

Kurz nachdem ich nach Indonesien gezogen war, fragten meine Freunde von daheim, wie es sei. Ich antwortete, dass mich das Land mehr an die USA erinnerte als irgendein anderer Ort. Wegen seiner ungeheuerlichen geografischen Weite, seiner ethnischen Vielfalt und weil Jakarta für Indonesien das ist, was für die Amerikaner New York ist: Viele talentierte Indonesier kommen hierher, um sie selbst zu sein. Wie die Texaner in New York – so einer war ich über 20 Jahre lang – bewahren sie die Identität der Region, aus der sie stammen, aber finden Freiheit in Jakarta. Dort werden sie die Fesseln los, die ihnen ihre Dörfer angelegt hatten.

Was die Kopftücher wirklich bedeuten

Einige Westler, die noch nie in Indonesien gewesen sind, unterliegen dem Irrglauben, dies sei ein streng konservatives Land. Einfach nur, weil 90 Prozent der Einwohner Muslime sind. Natürlich ist Indonesien in vielen Punkten konservativ: 2008 hat das Parlament beispielsweise ein striktes Anti-Pornografie-Gesetz verabschiedet. Aber nach ein paar medienwirksamen Verhaftungen geriet es wieder in Vergessenheit.

Derber Humor regiert noch immer auf Jakartas Straßenbühnen, ständig sieht man Transvestiten-Schauspieler im Fernsehen. Seitdem ich hier lebe, haben ausländische Akademiker und Politikexperten gewarnt, bald würden radikale Islamisten das Land übernehmen. In meinen 16 Jahren waren die Veränderungen allerdings spärlich und größtenteils symbolisch. Und der Gouverneur von Jakarta, Basuki Tjahaja Purnama, ist ein Christ.

Es gibt allerdings einige Anzeichen, dass die religiöse Orthodoxie wächst. Bars und Nachtclubs sind während des Ramadans geschlossen, in internationalen Hotelketten wird heute kein Schweinefleisch mehr serviert. Trotzdem muss man nicht weit suchen, um köstliche Teigtaschen, mit Schwein gefüllt, zu finden, und wird auch nicht verurteilt, wenn man das örtliche Lager-Bier trinkt.

Bei meiner ersten Reise trug kaum eine Frau Kopftuch, das ist heute anders. Aber sie sind eher ein Modestatement, geschneidert aus bunten Stoffen, die perfekt zum Outfit passen. Die Schwester meines Lebensgefährten hat ein grellgrünes, das sie eng unter dem Kinn bindet, damit es ihr Handy trägt und sie auf diese Weise freihändig telefonieren kann.

Die Twitterhauptstadt der Welt

Die fundamentalste Transformation Jakartas, seit ich hier lebe, liegt wohl im Aufstieg einer breiten Mittelschicht. Sie spiegelt den landesweiten wirtschaftlichen Boom des 21. Jahrhunderts wider, mit einer Wachstumsrate von mehr als fünf Prozent, die hauptsächlich vom Konsum befeuert wird. Zuversichtliche Ökonomen sprechen von 146 Millionen Mittelschichtlern, das wären 59 Prozent aller Erwachsenen.

Klingt natürlich wundervoll, aber Mittelschicht bedeutet auch etwas anderes als in Europa oder in den USA. Hier gehört dazu, wer jährlich 3000 Dollar Einkommen pro Haushalt zur Verfügung hat – das liegt weit unter der Armutsgrenze der Industrienationen. In Jakarta bedeutet diese Summe, dass man sich ein Zimmer leisten kann, einen Motorroller und, darauf kommt es an, ein Smartphone. Mehr als elf Millionen Einwohner nutzen hier Facebook, und Twitter berichtet, dass aus der gesamten Stadt mehr Tweets abgesetzt werden als aus jeder anderen Metropole der Erde.

Glaspaläste und schicke Restaurants: Wie sich Jakarta verändert hat

Modestatement. Die muslimischen Frauen tragen ihre Kopftücher nicht nur aus religiösen Gründen.
Modestatement. Die muslimischen Frauen tragen ihre Kopftücher nicht nur aus religiösen Gründen.

© Andrea Pistolesi

Alle paar Monate, wenn ich in die Ibu Kota, Indonesiens „Mutterstadt“ zurückkehre, stelle ich fest, dass ein anderes Wahrzeichen verschwunden ist. Die Kanone Si Jagur musste vom Fatahillah-Platz in ein historisches Museum umziehen. Prächtig ausgestattete Malls und internationale Hotelketten stellen die angenehm heruntergekommenen Luxushotels von damals in den Schatten. Es sind schimmernde Paläste aus Marmor und schwarzem Glas, die an den Schnellstraßen emporwachsen wie Zitadellen, durch nichts voneinander zu unterscheiden.

Bei meinem letzten Besuch traf ich mich mit einem Freund, einem indonesischen Reporter. Dewi hatte ein hippes Café in einer dieser neuen Malls vorgeschlagen. Es war ein helles, luftiges Bistro, voll mit gut angezogenen Menschen in ihren Zwanzigern, die fröhlich miteinander plapperten und Selfies schossen, die sie sogleich posteten.

Spazieren als Energieverschwendung

Als die Kellnerin uns mitteilte, dass wir etwa eine halbe Stunde auf einen freien Tisch warten müssten, flohen wir. Und taten etwas sehr Außergewöhnliches: Wir gingen spazieren. Die Jakartaner betrachten es als eine unsinnige Energieverschwendung, irgendwohin zu Fuß zu gehen. In der Rushhour, die inzwischen fast den gesamten Tag andauert, kann das sogar richtig gefährlich werden. Rücksichtslose Motorradfahrer weichen auf den Bürgersteig aus, wenn es ihnen auf der Straße zu eng wird.

Dennoch war es eine überraschend angenehme Erfahrung. Die Luft war frisch, beinahe kühl, und viele ließen sich durch die Stadt treiben. Dewi, ein echter Jakartaner, führte mich zur Straße Jalan Sungai Sambas. Nachts, wenn die Büros bereits dunkel sind, übernehmen die Imbissstände den Ort und bedienen die Festangestellten der aufstrebenden Mittelklasse, die es sich nicht leisten können, in jenen feinen Restaurants zu essen wie in dem, das wir gerade verlassen hatten.

Hühnchenspieße mit Limettensaft und Chili

Sie bekommen hier wunderbare Spieße mit Hühnchen, Rind oder Fisch, in Limettensaft oder Kokosraspeln, gegrillt über Holzkohle und mit Erdnuss- oder süßer Sojasoße serviert, großzügig mit Chili versetzt. Die Bürosklaven tragen noch ihre Krawatten und ihre klobigen schwarzen Schuhe, neben ihnen stehen Hipster, tätowiert, gepierct. Ein paar dicke schwarze Wagen parken in zweiter Reihe. Ihre Fahrer nehmen für die Chefs das Abendessen mit.

Auf der Jalan Sungai Sambas wenigstens, musste ich unwillkürlich denken, lebt das Jakarta weiter, das ich so liebe.

Übersetzung: Julia Prosinger

Jamie James

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