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Ein Grönlandhai, fotografiert unter dem Eis des Polarmeers bei Baffin Island im Norden Kanadas. Foto: mauritius images

© mauritius images

400 Jahre alter Fisch: Was der Grönlandhai alles zu erzählen hat

Kein anderes Wirbeltier wird so alt wie der Grönlandhai. 400 Jahre, vielleicht sogar mehr, das fanden Wissenschaftler kürzlich heraus. Was, wenn so ein Fisch sprechen könnte? Dann würde er vielleicht diese Geschichte erzählen.

Von Andreas Austilat

Das erste Mal Sex hatte ich 1773. Wurde höchste Zeit, ich war schon 153 Jahre alt. Die Paarung ist für ein Grönlandhaiweibchen wie mich eine schmerzhafte Angelegenheit. Der männliche Hai hat nämlich manchmal die seltsame Angewohnheit, bei der Annäherung heftig in meine Schwanzflosse zu beißen. Und er hat 100 Zähne, mindestens. Zum Glück aber sind wir Weibchen ein Stück größer als die Männchen, vor allem ist unsere Haut doppelt so dick.

Wir balgten bei Cape Cod, zu Deutsch: Kap Kabeljau. Eine gefährliche Gegend, wegen der vielen Fischer. Im Hafen von Boston trug sich damals Ungewöhnliches zu: Als Indianer verkleidete Rabauken warfen Teekisten über Bord eines Frachters. Wer konnte ahnen, dass diese kindische Aktion so weit eskalieren würde? Es ging doch nur um einen Steuerstreit. Doch als die Briten ihren Siedlern den Hafen von Boston schließen wollten, kam es zum Krieg. Aus denen die Vereinigten Staaten von Amerika hervorgingen. Ich war noch ein Teenager.

1773 werfen als Indianer verkleidete Bostoner Bürger aus Protest gegen die britische Zoll- und Steuerpolitik drei Schiffsladungen Tee ins Hafenbecken. Zwei Jahre später eskaliert der Konflikt zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.
1773 werfen als Indianer verkleidete Bostoner Bürger aus Protest gegen die britische Zoll- und Steuerpolitik drei Schiffsladungen Tee ins Hafenbecken. Zwei Jahre später eskaliert der Konflikt zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.

© Library of Congress

Ihr glaubt mir nicht? Für euch war es ja auch eine Sensation, als Wissenschaftler der Universität von Kopenhagen kürzlich dieses Geheimnis entdeckten: ein 392 Jahre altes Haiweibchen, das älteste bekannte Wirbeltier. Sie könnte meine Schwester sein, ist schon sehr lange her, dass wir uns sahen. Ihr nennt sie Nummer 28. Natürlich hat das auch mit Neid zu tun. Jeanne Calment wurde gerade mal 122. Der älteste Mensch. Dem hat man nicht das Auge entnommen wie bei Nummer 28, um es mit der Radiokarbondatierung zu untersuchen. Man hat einfach in die Geburtsurkunde geschaut. Das Auge. Ihr hättet versuchen sollen zu fragen. Wir hätten euch so viel zu erzählen aus den letzten 400 Jahren.

122 Jahre ist für einen Menschen eine Menge. Nummer 28 war da noch nicht einmal in der Pubertät. Mit 150 können wir das erste Mal Kinder bekommen. So lange dauert das beim Grönlandhai. Wobei mir Eishai eigentlich lieber ist. Der andere Name klingt so begrenzt. Natürlich, die arktischen Gewässer haben wir am liebsten, von der Baffin Bay bis Spitzbergen. Aber das heißt ja nicht, dass wir es nur um Grönland aushalten.

21 Tonnen Gold versanken im Atlantik

Mich habt ihr schon mal viel weiter südlich gesehen. Ein Tauchroboter filmte mich zufällig vor Norfolk in North Carolina. Das war vor 21 Jahren. Wir trafen uns in 2200 Meter Tiefe. Ein Hai, sechs Meter lang, habt ihr geschrieben. Das dürfte übertrieben gewesen sein, wahrscheinlich waren es eher fünf, so groß, wie ein Eishai meines Alters mit knapp 400 Jahren eben ist. Doch euer Roboter hat sich vor allem für das Wrack der „Central America“ interessiert. 2200 Meter, da unten herrscht ein Druck von 220 bar. Das ist ungefähr hundertmal so viel wie in einem Autoreifen. Eine Sensation. Und ihr habt nur an das Gold gedacht.

Da musste nämlich noch mehr sein, das wusstet ihr, nachdem die geheimen Ladelisten der Central America entdeckt wurden. Hatte die Bergungscrew etwas beiseitegeschafft? So lautete die große Frage damals. Ihr habt gesucht und gesucht, bis 2014. Hättet ihr mich gefragt, ich war gerade mal 230 Jahre alt, als der Seitenraddampfer „Central America“ 1857 auf Grund ging, in der Blüte eines Eishai-Lebens. Tapferer Mann, der Kapitän, blieb an Bord, bis alle Frauen und Kinder gerettet waren, und versank dann mit seiner Mannschaft und 21 Tonnen Gold im Atlantik.

Die Lieblingsbeute des Eishais

Eure Wissenschaftler nennen uns Somniosus microcephalus. Das ist Latein und bedeutet so viel wie der kleinköpfige Schläfer. Kleiner Kopf, geschenkt, das ist relativ zu den fünf bis sechs Metern, die sich hinter dem Kopf befinden. Aber Schläfer? Weil wir angeblich unsere Jahrhunderte auf dem Grund liegend verdösen und der langsamste Fisch der Welt sein sollen. Das ist ja noch schlimmer als Grönlandhai.

Wir fangen Robben. Darf man da langsam sein? Einer von uns hat sogar mal einen Eisbären erwischt. Ihr habt vermutet, der wäre schon tot gewesen. Sicher wart ihr euch nicht, zu Recht. Für Eisbären werden die Schollen heutzutage immer kleiner. Wenn er dann im Wasser rumpaddelt, ist er auch nur ein Bär, der da nicht wirklich hingehört. Doch der Angriff auf einen Eisbär ist ein großes Risiko, auch wenn es sich wie in diesem Fall um ein noch nicht ausgewachsenes Tier handelt. Da unten schwimmt schließlich genug Beute rum, die einfacher zu haben ist. Unvorsichtige Robben, kleinere Fische, aber auch jedes andere Lebewesen, das in den Meeren untergeht.

Das Geheimnis eines wirklich langen Lebens

1912 ist die "Titanic" für wenige Tage das größte Passagierschiff der Welt. Doch auf ihrer Jungfernfahrt läuft sie gegen einen Eisberg und reißt bei ihrem Untergang 1500 Menschen in den Tod.
1912 ist die "Titanic" für wenige Tage das größte Passagierschiff der Welt. Doch auf ihrer Jungfernfahrt läuft sie gegen einen Eisberg und reißt bei ihrem Untergang 1500 Menschen in den Tod.

© AFP

Was ist nicht alles schon versunken, womit ihr nicht gerechnet habt? Die „Titanic“, die „Lusitania“, die „Empress of Ireland“, die „Bismarck“, die „Böhlen“ – die Böhlen? Ein Öltanker aus der DDR, diesem Staat, den es nur 40 Jahre gab. Ein Wimpernschlag, wenn man mir den Scherz verzeiht. Er sank in der Biscaya, wo wir auch manchmal sind. Doch nach der Böhlen waren die Fische dort 20 Jahre lang kaum noch zu genießen. Jedenfalls sah ich so viele Schiffe sinken in den letzten 400 Jahren, sah tausende Menschen im Meer treiben. Ganz langsam gingen sie unter, vor allem, wenn das Wasser eisig war. Wir haben die See am liebsten, wenn sie eisig ist. Denn das ist das Geheimnis für ein wirklich langes Leben: Kaltes Wasser und die Ruhe weg.

Nummer 28 auf dem Seziertisch

„Nummer 28“, was ist das überhaupt für ein Name? Nur, weil sie der letzte aus einer Reihe von 28 Haien war, die auf dem Seziertisch landeten. Nummer 28 und ich waren zu sechst, als wir geboren wurden. Ganz schönes Gedränge. Denn Eishaie schlüpfen zwar jeder aus einem Ei, aber das geschieht im Mutterleib. Den verlassen wir, wenn wir um die 40 Zentimeter lang sind. Dann braucht es Geduld, weil wir erst mit drei, vier Metern reif für die Liebe sind. Wenn man nur ein bis zwei Zentimeter im Jahr wächst, dauert das eben seine 150 Jahre. Da kann einiges passieren. Viele von uns kriegen deshalb nie Nachwuchs.

1620, das Jahr unserer Geburt, war eine herrliche Zeit für Eishaie. Man hatte seine Ruhe. Die Wikinger waren endlich aus Grönland verschwunden, nach 500 Jahren. Meine Mutter hat sie in ganz jungen Jahren noch erlebt. Doch als 1541 ein Hamburger Kapitän dort an Land ging, traf er niemanden mehr an. Für den Kapitän genauso rätselhaft wie für meine Mutter, die ja noch ein junges Ding von 70 Jahren war. Angeblich war das Klima kälter geworden, was man unter Wasser nicht so merkte. An Land wohl schon, die Wikinger fanden offenbar nicht mehr genug Nahrung.

1541 erreicht ein Hamburger Kapitän Grönland und trifft keine Wikinger mehr an. Die hatten die Insel 500 Jahre lang besiedelt, wahrscheinlich zwang schlechteres Klima sie zur Aufgabe.
1541 erreicht ein Hamburger Kapitän Grönland und trifft keine Wikinger mehr an. Die hatten die Insel 500 Jahre lang besiedelt, wahrscheinlich zwang schlechteres Klima sie zur Aufgabe.

© imago/UIG

Erstaunlich für ein Volk, das als einziges sogar uns isst. Sie tun das heute noch, auch wenn sie inzwischen Isländer heißen. Eigentlich ist Eishaifleisch ungenießbar, sogar giftig. Das hat mit unserem Stoffwechsel zu tun und unseren Lebensbedingungen, mit eisigem Wasser, dem Salzgehalt und großen Tiefen. Dabei reichert sich Harnstoff im Gewebe an, der uns eine schöne Ammoniaknote gibt. Hunde, die das fressen, werden ganz besoffen. Menschen fallen tot um, wenn sie genug davon runterschlingen.

Nur die Isländer nicht. Die bearbeiten das Fleisch so lange, bis es wie salziger Radiergummi schmeckt. Sie nennen es Hakarl und halten das für eine Delikatesse. Zum Glück sind sie die Einzigen. In Deutschland wurde unser Fleisch 1920 vor dem Deutschen Reichsgericht in Leipzig verhandelt. In Eishaikreisen erinnert man sich gut. Eine Ladung Hakarl wurde in Hamburg einem Kaufmann angedreht. Beide Seiten glaubten irrtümlich, es handele sich um Walfleisch. Ein Übersetzungsfehler zulasten des Verkäufers. Er musste Schadenersatz leisten. Und das Hakarl-Verfahren gilt bei den Deutschen seit damals als Musterprozess im Vertragsrecht.

Deutsche Geheimoperation auf Spitzbergen

Mit den Deutschen habe ich eher selten zu tun. Vor 75 Jahren sah man sie häufiger im Atlantik, oft in großen Dosen, die nannten sie U-Boote. Damals trieben sehr viele Menschen im Wasser. Noch eigenartiger war diese Geschichte auf Spitzbergen, einem unserer liebsten Reviere. Meistens taucht der Mensch da nur als Walfänger auf. Aber 1944, ich war mit 324 Jahren schon ein reifer Fisch, wurde eine Gruppe deutscher Soldaten dort abgesetzt, um eine Wetterstation einzurichten. Im Polarmeer lassen sich wichtige Daten für präzisere Wetterprognosen in Europa treffen. Sie nannten das „Operation Haudegen“. Die Aktion war so geheim, dass die Truppe erst im September, vier Monate nach Kriegsende, entdeckt und abgeholt wurde.

Schuhsohlen aus Haihaut

Wenigstens haben sie keine Haie gefangen. Die Wikinger dagegen halten uns nicht nur für eine Delikatesse, sie machen sogar Schuhsohlen aus unserer Haut. Die ist nämlich übersät mit kleinen Zähnchen. Unter den Schuhen gibt sie den Füßen auch auf nassen Decks Halt.

Das ist Pech, wir haben sonst eigentlich keine Feinde. Außer dem Pottwal vielleicht. Ein Pottwal kann wirklich gefährlich werden. Allerdings sind wir eine Beute, die ihm Zahnschmerzen bereiten kann. Die Haken in unserer Haut haften nämlich nicht nur auf Schiffsplanken, sie machen auch den Zähnen des Pottwals auf Dauer zu schaffen.

Ein Schiff nach dem anderen blieb im Packeis stecken

1650 kreuzen immer mehr Walfänger in den Gewässern um Grönland. Der Waltran ist ein begehrter Grundstoff für die künstliche Beleuchtung.
1650 kreuzen immer mehr Walfänger in den Gewässern um Grönland. Der Waltran ist ein begehrter Grundstoff für die künstliche Beleuchtung.

© Alamy Stock Photo

Nach den 1620er Jahren waren nicht nur die Wikinger weg. Es kamen überhaupt seltener Schiffe zu uns. Es schien so, als hätten sie endlich den Versuch aufgegeben, unbedingt durch das Eis in das Pazifische Meer dahinter zu kommen, wo unsere Verwandten leben, die Pazifischen Schlafhaie. Den Weg dorthin nannten die Seefahrer Nordwestpassage, und ein Schiff nach dem anderen blieb im Packeis stecken. Dafür tauchten bald andere Schiffe auf. Statt mit den Hühnern ins Bett zu gehen, fing der Mensch plötzlich an, die Nacht zum Tag zu machen. Die billigste Lösung war die Tranfunzel, gespeist aus dem Öl des Wals.

Immer mehr Walfänger kreuzten in den 1640er Jahren in den nordischen Gewässern. Noch schlimmer waren die Kabeljaufischer. Die ersten kamen schon, da wusste in Europa kaum jemand, dass es Nordamerika überhaupt gibt. Sie sind einfach dem Kabeljau hinterhergefahren. Weil die Haken in unserer Haut nicht nur dem Zahn des Pottwals zusetzen, sondern auch den Netzen der Fischer, schlugen sie uns tot, wenn sie konnten. So ist das eigentlich bis heute.

Das Bein im Hai

Hinzu kommt natürlich unser Image. Allein der Ruf „Hai“ löst beim Menschen Panik aus. Es nutzt auch nichts, als „kleinköpfiger Schläfer“ bezeichnet zu werden. Ein fünf Meter langer Fisch gilt schnell als Bedrohung. Und üble Gerüchte tragen das Ihre dazu bei. Mal sollen wir ein Inuit-Kajak versenkt haben, und keiner stört sich daran, dass diese alte Geschichte in den Erzählungen der Inuit an zwei Orten gleichzeitig spielt. Dann wird ausgiebig daran erinnert, dass man im Innern eines Eishais ein menschliches Bein gefunden hat. Man hat auch schon eine menschliche Hand in einem Wels gefunden. Wird der deshalb für einen Killer gehalten?

Ich kann mir denken, wie das Bein ins Wasser kam, muss aber etwas ausholen. So um 1817, ich war endlich erwachsen, geschah wieder mal Unerklärliches: Das Wasser im hohen Norden wurde allmählich wärmer. Das Phänomen blieb auch viel weiter südlich nicht unbemerkt.

Ein Walfänger namens William Scoresby gelangte bei Grönland so weit nach Norden wie kein Segler zuvor. In London berichtete er, dass eine Menge Grönlandeis nicht mehr da wäre. Bald ging die Suche nach der Nordwestpassage wieder los. Scoresby war bis 81 Grad nördlicher Breite gekommen. Die britische Regierung lobte 1000 Pfund Belohnung für jeden weiteren Breitengrad aus.

1845 brach der Brite John Franklin mit 128 Männern und zwei Schiffen auf, um die Nordwest-Passage zu finden, den Seeweg um Nordamerika herum. Sie alle kehren nie wieder, trotz der größten Rettungsaktion des 19. Jahrhunderts
1845 brach der Brite John Franklin mit 128 Männern und zwei Schiffen auf, um die Nordwest-Passage zu finden, den Seeweg um Nordamerika herum. Sie alle kehren nie wieder, trotz der größten Rettungsaktion des 19. Jahrhunderts

© IMAGO

Einer von denen, die sich für dieses Angebot interessierten, obwohl er bis dahin keine Ahnung von der Arktis hatte, hieß John Franklin. Franklin wurde dann berühmt als der Mann, der seine Schuhe aß. Seine Expedition von 1819 ging nämlich furchtbar schief, und seine Leute hatten am Ende nichts mehr zu essen. Außer den Schuhen. Er hatte Glück, dass er das überlebte, und damit hätte er es bewenden lassen sollen. Tat er aber nicht.

1845, ich war inzwischen 225 Jahre alt, unternahm er einen neuen Anlauf. Er verschwand mit seinen beiden Schiffen „Erebus“ und „Terror“ – was für Namen – hinter der Baffin Bay, einem unserer liebsten Tauchreviere. Und zehn Jahre lang wurde ihm Expedition auf Expedition hinterhergeschickt, um das Schicksal von Franklin und seinen Leuten zu klären. 1854 fanden sie dann besagtes Bein im Magen eines toten Eishais. Was doch nicht bedeutet, der Hai habe den Besitzer des Beins getötet. Damals gingen so viele Männer unter, da brauchte man doch nur am Grund zu warten.

Das Wrack der Erebus wurde erst im September 2014 entdeckt. Ich sah als erwachsener Fisch, wie sie aufgegeben wurde, und ich sah, wie sie 170 Jahre später auf dem Meeresgrund gefunden wurde. Die Terror suchen sie übrigens noch immer.

Ihr wisst so wenig über das Meer und ihr wisst so wenig über uns. Aber mich fragt ja keiner.

2014, 170 Jahre nach ihrem Verschwinden, entdeckt ein U-Boot das Flaggschiff der Franklin-Expedition, die "HMS Erebus" auf dem Meeresgrund der Victoria Strait im Norden Kanadas. Das zweite Schiff, die "HMS Terror", bleibt verschwunden.
2014, 170 Jahre nach ihrem Verschwinden, entdeckt ein U-Boot das Flaggschiff der Franklin-Expedition, die "HMS Erebus" auf dem Meeresgrund der Victoria Strait im Norden Kanadas. Das zweite Schiff, die "HMS Terror", bleibt verschwunden.

© picture alliance / dpa

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