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Jared Cohen, Chef des Thinktanks Google Ideas

© Kai-Uwe Heinrich

Google-Manager Jared Cohen: „Wir brauchen eine schlagkräftige digitale Front"

Es bestehe kein Zweifel, dass der IS im Netz mehr Präsenz zeige als jede extremistische Organisation zuvor, sagt Jared Cohen, Chef des Thinktanks Google Ideas. Wie er dem Terror entgegentreten will, erklärt er im Interview.

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Jared Cohen, 33, arbeitet als Chef des Thinktanks Google Ideas an Lösungen für mehr Sicherheit im Netz. Er beriet Condoleezza Rice und Hillary Clinton. „Time“ zählt ihn zu den 100 einflussreichsten Menschen. Cohen stammt aus Connecticut und lebt mit seiner Familie in New York. Er kam als Gast der American Academy nach Berlin.

Ein kleiner Konferenzraum in der Telefonica-Repräsentanz Unter den Linden in Berlin. Vor Jared Cohen stehen mehrere angetrunkene Latte macchiatos und zwei Gläser Wasser. Zwei Google-Sprecher sitzen ebenfalls am Tisch.

Mr. Cohen, mit Anfang 20 schwammen Sie als Rucksacktourist im Kongo den Krokodilen davon, wachten allein auf einem Rücksitz in Damaskus auf und wurden in Teheran stundenlang von der Polizei verhört. Heute fantasieren Sie als Google-CEO von einem mit Ihrem Kalender vernetzten Kleiderschrank und massierenden Matratzen …

… also ganz ehrlich: Wer würde nicht gerne auf einer Massagematratze aufwachen?

Die Tür geht auf, jemand stellt einen weiteren Latte macchiato vor Cohen auf den Tisch. Der zuckt nicht mal.
Sie sind bequem geworden.

Meine Interessenlage hat sich gar nicht so sehr verändert, wie Sie denken. Damals bin ich einfach losgefahren, weil ich alles über Geo- und internationale Sicherheitspolitik wissen wollte. Wie verändern uns das Internet und die damit verbundenen Technologien?

Der Durchschnittsamerikaner schickt in diesem Alter Status-Updates von College-Spring-Break-Partys in Fort Lauderdale.

Zum Spring Break in Florida war ich nie. Schon von Kindesbeinen an bin ich neugierig auf die Welt gewesen – vielleicht auch, weil meine Großeltern viel unterwegs waren. Sie haben mir von ihren Trips in den Iran erzählt, als das Land noch Persien hieß, sie waren in Kuba, als Batista und später Castro regierten. Auch meine Eltern, beide Psychologen, nahmen mich mit auf ihre Reisen. Neugier ist die Voraussetzung dafür, herauszufinden, was man mit dem Leben anstellen will. Und ich wollte verstehen, wie Menschen in Gesellschaften leben, die weniger frei sind als unsere. Kalkül spielte dabei keine Rolle. Als Student flog ich nach Teheran, um zu schauen, wie es da so ist.

Und?

Ich war Zeuge, wie die Menschen dort Unfassbares mit ihren Handys anstellten. Für mich war damals Bluetooth nichts weiter als ein Werkzeug, mit dem man freihändig im Auto telefonieren konnte und das man ansonsten deaktiviert. Aber die Iraner nutzten die Technologie, um Wildfremde anzurufen und Nachrichten zu verschicken – an der staatlichen Kontrolle vorbei. Bluetooth ermöglichte es ihnen, auf unzensierte Inhalte zugreifen zu können. Das ist toll.

Was haben Sie daraus gelernt?

Von da an wusste ich: Diese neue digitale Technologie kann die Welt verändern, weil sie auch den Menschen, die vorher nicht gehört wurden, dazu verhilft, Einfluss zu nehmen.

Sie können schon mit 33 auf eine bemerkenswerte Karriere zurückblicken. Ihre erste Station: Eigentlich wollten Sie Anthropologe werden. Sie schrieben sich für das Fach in Stanford ein.

Feldforschung fand ich wahnsinnig spannend, theoretisch jedenfalls. Also zog ich mit meinen Stadt- und Land-Dioramen sowie ein paar Püppchen und Figürchen nach Kenia, in ein Massai-Dorf. Die Kinder sollten einfach drauflosspielen. Bald schon wurde mir sehr langweilig. Zehn Wochen lang wachte ich jeden Morgen vom Gemecker der Ziegen auf. Ich hielt das nicht lange aus. Die Anthropologie war meine persönliche Fehlzündung – und doch ziehe ich heute noch Nutzen daraus, wenn ich meine Mitarbeiter ins Feld schicke, um den zu besuchen, den wir „User“ nennen.

Zweite Station: Sie zogen nach Washington, erst als Berater von Condoleezza Rice, dann von Hillary Clinton. Wie das, mit 24?

Sie brauchten einen Twitter-Experten und einen Kenner des Arabischen Raums. Ich blieb nach meinem Praktikum einfach im Außenministerium.

"Hillary Clinton kam rein, wedelte mit der Zeitung"

Jared Cohen, Chef des Thinktanks Google Ideas
Jared Cohen, Chef des Thinktanks Google Ideas

© Kai-Uwe Heinrich

Warum sind Sie in die Politik gegangen?

Nach meiner Reise durch Kenia und den Osten Kongos, wo sich damals ruandische Rebellen verschanzten, flog ich zurück nach New York. Abends traf ich Freunde, wir feierten und machten ein Foto vor dem World Trade Center. Sag, wie fühlst du dich, fragte mich einer um 4 Uhr morgens, eben noch in Kongo und jetzt hier? Es war der 11. September 2001. Später fuhr ich mit meiner Mutter nach Connecticut, ein Zahnarzttermin. Im Auto hörten wir die Nachrichten. Ich wollte das alles verstehen, deshalb ging ich in die Politik.

2009 haben Sie einen außenpolitischen Alleingang hingelegt: Einige Tage nach den Wahlen im Iran demonstrierten dort die Massen. Als Sie erfuhren, dass Twitter wegen Reparaturarbeiten für einige Stunden offline gehen sollte, schickten Sie eine Mail an Twitter-Chef Jack Dorsey – mit der Bitte, den Shutdown zu verschieben. Ein Fall von Größenwahn?

Jack und ich kannten uns ja. Er hat persönlich dafür gesorgt, dass ich mich bei Twitter anmelde – am Picknicktisch der amerikanischen Botschaft in Bagdad. Davon gibt’s ein Foto, ich habe damals noch etwas mehr gewogen … diese Mail an ihn war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus.

Ihr beherztes Eingreifen in Barack Obamas Nichteinmischungspolitik landete auf der Titelseite der „New York Times“ …

… ein Regierungsmitglied muss das verraten haben. Es wollte, dass die Sache Kreise zieht.

Warum wurden Sie eigentlich nicht gefeuert?

Ich saß mit weichen Knien im Morgenmeeting. Jeder war da und wusste natürlich Bescheid. Hillary Clinton kam rein, wedelte mit der Zeitung, warf sie auf den Tisch und rief: „Genau so sollten wir es machen!“ Das war’s dann. Ihr hatte es offenbar gefallen.

Glauben Sie etwa, Ihre Initiative hätte irgendwas im Iran zum Guten verändert?

Zu sagen, meine Aktion hätte eine große Wirkung gehabt, wäre übertrieben. Für den Iran war es sicher mehr symbolisch. Aber immerhin erklärte Hillary Clinton kurz danach die Freiheit des Internets zur höchsten Priorität.

Die Euphorie über den Einfluss von Twitter auf den Arabischen Frühling hat stark abgenommen, nachdem alle Länder außer Tunesien wieder autoritär geführt werden.

Natürlich braucht es für eine Revolution etwas mehr, als sich nur auf einem Platz zu versammeln: eine neue Verfassung, ein unabhängiges Parlament, funktionierende Institutionen. Das alles kann Twitter nicht herbeizaubern. Twitter ist nicht mehr und nicht weniger als ein Werkzeug, das das Starten einer Revolution einfacher macht.

Die friedliche Revolution in Deutschland 1989/90 hat nur mit dem Festnetz funktioniert.

Jede Zeit nutzt die besten Technologien der Stunde für ihre Revolution.

Ihre dritte Karrierestation: Google Ideas. Sind Sie wegen des Geldes gewechselt?

Ich gehe immer dorthin, wo ich die besten Ressourcen zur Verfügung habe, um Menschen zu helfen, die in Unfreiheit leben. Das geht bei Google gerade besser als in der Regierung.

Es spielte also keine Rolle, dass Ihr Gehalt sich sicher multiplizierte?

Man geht doch nicht in die Politik, um Geld zu verdienen, und zu Google zu wechseln, war auch keine finanzielle Entscheidung.

Die islamistische Terrororganisation IS macht sich das sogenannte freie Netz zunutze, indem sie auch in westlichen Ländern Gehilfen rekrutiert.

Unser Thinktank entwickelt Anti-Hacking-Software, die es den IS-Marketingleuten schwer macht, Accounts zu missbrauchen. Während der Fußball-WM 2014 gelang es dem IS zum Beispiel, Hashtag-Trends zu instrumentalisieren und so ihre Propaganda zu verbreiten. Wir brauchen eine schlagkräftige digitale Front.

Jetzt reden Sie ja schon wie ein Verteidigungsminister!

Wirklich? Jede geopolitische Front hat eine digitale Entsprechung. Ich glaube nicht an das Gegensatzpaar Cyber-Terrorist – echter Terrorist. Terror ist Terror. Es besteht kein Zweifel, dass der IS im Netz mehr Präsenz zeigt als jede extremistische Organisation zuvor. Und weil es so schwierig ist, fremdes Territorium zu besetzen, reklamieren der IS und andere immer mehr Platz im digitalen Raum für sich. Jetzt ist genau die richtige Zeit, um zu verstehen, wie das funktioniert und wie man dem entgegentreten kann. Daran arbeiten wir.

Ginge es nach Ihnen, sollte jeder Mensch auf Erden mit einem Smartphone ausgerüstet sein. Sie berichten gern von Nordkoreanern, die ihre Kuh gegen ein Handy tauschen, zur Grenze fahren und dort versuchen, Empfang zu bekommen – obwohl sie hohe Strafen riskieren.

Am Ende könnten von allen totalitären Systemen Nordkorea und Eritrea übrig bleiben. Denn sie haben eines gemeinsam: Sie lassen keine neuen Technologien zu. Ich hoffe aber, das ändert sich und ich kann das Ende des Totalitarismus noch erleben.

"Keine Bildschirm-Zeit für meine Tochter bevor sie drei ist"

Jared Cohen, Chef des Thinktanks Google Ideas
Jared Cohen, Chef des Thinktanks Google Ideas

© Kai-Uwe Heinrich

Schlucken Sie deswegen auch die angeblich lebensverlängernden Vitamine von Ray Kurzweil, einem der Engineering Directors von Google?

Oh nein. Ray will damit mindestens bis zu dem Zeitpunkt leben, an dem es gelingt, ein jedes Leben entscheidend zu verlängern. Er glaubt, bis dahin dauert es gar nicht mehr so lange. Nein, nein, ich schwöre auf meinen Personal Trainer, ich beuge Diabetes vor und ich esse Broccoli. Natürlich lebe ich darüber hinaus so stressfrei wie möglich.

Sie, stressfrei? In den 48 Stunden, die Sie in Berlin verbringen, halten Sie drei Vorträge, geben vier Interviews und führen Gespräche mit der halben Bundesregierung. Ihre Sekretärin hat sehr viel zu tun.

Das ist doch nichts Ungewöhnliches. Mir gelingt es, sehr wenig zu schlafen und viel zu reisen, aber trotzdem entspannt zu sein. Mein Geheimnis: Ich lasse mich nicht ärgern.

Jared Cohens Sprecher meldet sich zu Wort und erklärt, dass Google seinen Mitarbeitern Entspannungsangebote macht.

Bitten Sie Ihre Sekretärinnen, Ihnen Zeit für die Familie frei zu halten?

Das schaffe ich schon sehr gut selbst, vor allem, weil ich seit 18 Monaten eine kleine Tochter habe.

Welches Smartphone hat sie?

Keine Bildschirm-Zeit, bevor sie drei ist, darauf haben meine Frau und ich uns geeinigt. Es gibt noch keine Langzeitstudien zu dem Thema Kleinkinder und digitale Medien, vielleicht in zehn Jahren. Seit unser Kind auf der Welt ist, habe ich meine Einstellung zum Thema Work-Life-Balance komplett geändert. Zeiteinteilung ist eine multidimensionale Angelegenheit geworden. Wenn ich mit meiner Tochter auf dem Boden sitze und Türme baue, während ich auf mein Telefon schiele, bin ich streng genommen abwesend. Früher trennte man Arbeit von Freizeit und Familie, heute ist man zwar vor Ort, teilt aber seine Aufmerksamkeit. Also stelle ich das Handy aus, wenn wir spielen und ich meine Tochter ins Bett bringe.

Es gibt hervorragende Lern-Apps für Kleinkinder. Haben Sie keine Angst, dass sie den Anschluss verliert?

Wie dämmt man die Flut digitaler Reize ein, ohne dass ein Kind hinter Gleichaltrigen zurückbleibt? So muss die Frage lauten.

Wischbewegungen auf dem Tablet sind viel einfacher, als eine Schleife zu binden.

Meine Eltern sagten mir mal: Du gehörst zu einer Generation, die nicht mehr lernt, wie man richtig schreibt, wegen der Autokorrektur … wissen Sie, Technologie ist super, aber sie entlässt uns sicher nicht aus der Verantwortung, unseren Kindern fundamentale menschliche Dinge beizubringen!

Sie skypen auf Ihren vielen Reisen also nicht mit Ihrer Tochter?

Nein, äh, wir facetimen. Aber nur kurz. Das ist die einzige Ausnahme, die ich mache. Das ist ziemlich egoistisch von mir. Ich will sie sehen.

Mr. Cohen, unsere Interview-Zeit ist leider kürzer als vereinbart. Haben Sie trotzdem noch Zeit für ein paar schnelle Antworten?

Ok.

„Don’t be evil“ – so lautet das Motto von Google. Wer bestimmt, was böse ist und was nicht?

Google ist ein demokratisch geprägtes Unternehmen. Die Mitarbeiter würden sich Gehör verschaffen, wenn ihnen etwas Böses auffallen würde.

Können Sie programmieren?

Ich habe Lehrbücher, ansonsten kenne ich da ein paar ganz gute Programmierer.

Also nein?

Nein.

Wie würden Sie Ihr Produkt „uProxy“ Ihrer Großmutter erklären?

Du fliegst im Kalten Krieg nach Russland und hast keine Ahnung, was vor sich geht. Aber ich bin in den Staaten und habe alle Informationen, die für dich wichtig sind. Du brauchst keine eigene Internetverbindung, weil ich meine mit dir teile – und niemand merkt’s!

Ein Tweet, den Sie aus tiefstem Herzen bedauern?

Oh, das geht mir oft so. Unschmeichelhafte Fotos von mir wahrscheinlich. Nicht, was Sie jetzt denken! Urlaubsfotos.

Ein Follower, auf den Sie stolz sind?

Jorge Mas Santos, ein kubanischer Dissident.

Drei Dinge, um die Sie Mark Zuckerberg beneiden?

Seinen Ehrgeiz, seine Anpassungsfähigkeit und die Kraft seiner Vision.

Eine typische SMS Ihrer Mutter?

„Call your Mom!“

Wen rufen Sie an, wenn Ihnen nicht gefällt, was Sie über sich selbst googeln?

Meine Frau. Die sagt mir dann, dass es nicht so schlimm ist.

Ihr schlimmster Albtraum in Sachen künstliche Intelligenz?

Psychotherapeuten werden durch Roboter ersetzt. Das hat neulich jemand bei einem Geschäftsdinner behauptet. Für mich als Therapeutensohn ein Albtraum.

Jemals von einem Adblocker geträumt?

Nein.

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