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La Paz. Häftlinge und ihre Kinder hinter Gittern

© AFP

Groß-Gefängnis in Bolivien: Stadt der Gefangenen

Ein Knast in bester Lage: 18 Meter hohe Mauern, die Sträflinge zahlen Miete, leben mit Familie und wählen ihre Chefs selbst. Brad Pitt will diese kuriose Geschichte verfilmen. Ein Besuch im noblen Teil des gefährlichen San Pedro.

Es ist ein frühlingshafter Tag in Boliviens Hauptstadt La Paz. In einem Hof sitzen Frauen und Männer an langen Holztischen beisammen, Kinder laufen umher. Auf einer Holztafel preist ein Restaurant Hähnchenbrust Masala als Mittagstisch an. José nippt an seinem frisch gepressten Orangensaft, kneift die Augen zusammen und blickt hinauf zum blauen Himmel. „Schön hier, oder?“, sagt er. „Manchmal veranstalten wir auch Grillabende.“

Der 45-Jährige hat lockiges schwarzes Haar und einen akurrat gestutzten Kinnbart. Seit fünf Jahren lebe er schon in San Pedro, erzählt er – wenn man es nicht besser wüsste, man könnte meinen, das sei ein Viertel wie jedes andere. Dabei ist San Pedro das größte Gefängnis des Landes. Aber eines, das sich eher anfühlt wie eine Stadt hinter Mauern.

José nimmt die Stufen einer Eisentreppe in den ersten Stock und betritt einen Raum, in dem ein Dutzend weiß gestrichener Fitnessgeräte steht. „Bisschen klein, aber man hat alles, was man braucht“, sagt er. Er trainiere fast jeden Tag, das sei gut für die Seele. Dann zeigt er ein anderes Zimmer, in dessen Mitte ein Billardtisch steht, bespannt mit grünem Tuch. In der Ecke ist eine Bar aufgebaut, und an der Wand hängt eine Tafel, auf der die Ergebnisse der letzten Partien stehen. „Ich habe hier schon tausende Dollar den Besitzer wechseln sehen“, sagt José. „Auf Koks spielen manche zehn Stunden am Stück.“

José, der seinen vollen Namen nicht nennen möchte, lebt im Nobelquartier des Gefängnisses. In San Pedro verwalten sich die Häftlinge – Mörder, Diebe und vor allem Dealer, wie auch José einer war – selbst. Sie wohnen zusammen mit ihren Familien, die im Knast ein- und ausgehen können. Sie zahlen für ihre Zellen Miete an andere, mächtigere Insassen. Sie betreiben Restaurants, Krämerläden oder Arztpraxen. Sie wählen ihre Führer, stellen Gesetze auf und produzieren ihr eigenes Kokain.

Gestört werden sie dabei kaum; die Wärter in ihren olivgrünen Uniformen bleiben meist auf der anderen Seite der 18 Meter hohen Mauern. Der bolivianische Staat geht massiv gegen den Drogenhandel vor und steckt schon potenzielle Dealer in den Knast. So kommt es, dass in San Pedro, gebaut für 300 Häftlinge, heute 2000 Leute einsitzen. Überfordert von den so geschaffenen Zuständen, haben sich die Behörden weitgehend aus dem Gefängnis zurückgezogen – und damit einen einzigartigen Mikrokosmos geschaffen, der in vielem der Welt außerhalb ähnelt, im Kern aber brutaler und erbarmungsloser ist.

La Paz mit seinen 750 000 Einwohnern befindet sich mitten in den Anden. In rund 4000 Metern Höhe schmiegt sich die Metropole in eine gewaltige Schlucht. An den Hängen, wo Wind und Kälte den Menschen zusetzen, finden sich die kärgsten Behausungen. Wer es sich leisten kann, zieht möglichst weit nach unten. San Pedro liegt tief, es nimmt einen ganzen Straßenblock im Stadtzentrum ein – dort, wo die Grundstücke teuer und die Häuser hoch sind. Eine begehrte Gegend. Und ein Grund dafür, warum die Behörden schon mehrmals daran gedacht haben, das Gefängnis zu verlegen und das Land zu verkaufen.

Vor San Pedros eisernen Toren herrscht ein Kommen und Gehen, das an den Eingang einer Markthalle erinnert. Von hier aus ist es nicht weit zu den Ständen, die so typisch sind für La Paz: Indios verkaufen dort Orangen, Bananen, Kokablätter – und getrocknete Lamaföten; die Embryonen sollen Glück bringen, das besagt ein alter Glaube der Ureinwohner. Man sieht vor allem die Ehefrauen der Häftlinge, und an ihren Händen kleine Kinder. Jeden Tag schleppen die Frauen säckeweise Lebensmittel in das Gefängnis, wo damit in den kleinen Restaurants gekocht wird.

Eine Zeit lang war die Anstalt ein beliebter Stopp für Rucksacktouristen. Englischsprachige Insassen führten gruppenweise durch das Gefängnis, erklärten Regeln und Organisation, am Ende der Tour gab es eine Prise Koks. Einer der Besucher, der australische Autor Rusty Young, blieb gleich drei Monate und veröffentlichte 2003 ein Buch darüber. In „Marching Powder“ („Marschierpulver“) erzählt er die Geschichte eines Briten, der wegen Drogenschmuggels fast fünf Jahre in San Pedro einsaß. Young beschreibt die Korrumpierbarkeit der Wärter und die Kokainlabore. Das Buch wurde ein Bestseller, Brad Pitts Produktionsfirma hat die Rechte für eine Hollywood-Verfilmung gekauft.

Die Gefängnisleitung reagierte auf die gesteigerte Aufmerksamkeit mit strengeren Regeln: Seitdem muss man erklären, welchen Gefangenen man besuchen möchte, um eingelassen zu werden. Zudem müssen Besucher ihren Ausweis abgeben, und die Wachen tragen die Namen in ein Buch ein. Dennoch haben manche Gäste, wenn sie nach ein paar Stunden wieder gehen, Tütchen mit Kokain in der Tasche. Gefilzt wird in San Pedro nur beim Einlass. Verboten sind Waffen, Mobiltelefone und Kameras. Geld ist erlaubt.

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La Paz. Häftlinge und ihre Kinder hinter Gittern
La Paz. Häftlinge und ihre Kinder hinter Gittern.

© AFP

Josés Quartier, die nobelste von insgesamt acht Sektionen in San Pedro, heißt Posta. 200 Sträflinge leben hier. Entlang der Innenseiten des Hofes, der halb so groß ist wie ein Basketballfeld, verläuft ein durchgehender Balkon. Von ihm gehen die Zellen ab. Sie sind aus Spanplatten gezimmert und erinnern an selbst gebaute Gartenhäuschen. Gitterstäbe gibt es keine, die meisten Türen stehen offen. Auch bei José. Er lehnt am Eingang. Ein Freund von ihm liegt derweil auf dem Bett und blickt auf den Fernseher an der Wand. Das Bild ist unscharf, der Kabelempfang schwächelt. In der Ecke steht ein Gasherd, José kocht gern.

Gemessen am Standard der Posta, in der manche Zellen mehrere Zimmer und ein eigenes Bad haben, lebt José bescheiden. Eine Zelle, die man erwerben kann wie anderswo eine Eigentumswohnung, kann hier mehrere tausend Dollar kosten. Und immer verdient die Sektion mit: Jeder Neuankömmling muss Eintritt bezahlen; in guten Blöcken werden allein für dieses Bleiberecht mehrere hundert Dollar fällig. José entschied sich bei seiner Ankunft in San Pedro gegen einen Kauf. Er war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verurteilt, „da habe ich ja nicht wissen können, wie lange ich bleiben würde“, sagt er. „Ich habe jahrelang auf den Beginn meines Prozesses gewartet. Das geht vielen hier so.“ 150 Dollar Miete zahlt er seitdem jeden Monat – an den Besitzer der Zelle, auch der ein Verbrecher. Der Handel mit den Unterkünften ist eines der Hauptgeschäfte in San Pedro. Kommen viele neue Häftlinge in kurzer Zeit, steigen die Preise, verlassen dagegen einige Männer das Gefängnis, sind Schnäppchen möglich.

In Josés DVD-Sammlung neben dem Fernseher steht die preisgekrönte amerikanische Serie „Breaking Bad“. Darin geht es um einen rechtschaffenen Familienvater, der aus Geldnot zum Drogenhändler wird. Im Laufe der Geschichte wird der Mann immer gewissenloser, er sprengt einen Konkurrenten in die Luft, löst Leichen in Säure auf. So steigt er auf in der Hierarchie der Drogendealer. José findet den Plot ziemlich realistisch. Er selbst stammt aus Kolumbien, hat jahrelang Kokain nach Nordamerika, Europa und Australien verschifft. Die Kilopreise für New York oder Sydney kennt er, als wären es Telefonnummern enger Freunde. „Es war eine verrückte Zeit“, sagt er. Spannend, gefährlich, profitabel. „Die Posta kann ich mir dank meiner Ersparnisse leisten.“

In Bolivien wird die Kokapflanze, deren Blätter die Ureinwohner seit Jahrtausenden kauen, auf einer Gesamtfläche von etwa 27 000 Hektar angebaut. Geschätzte anderthalb bis zwei Milliarden Dollar setzen die südamerikanischen Drogenkartelle jährlich mit bolivianischem Kokain um. Rund 30 000 Euro kann ein Dealer verdienen, wenn er nur ein einziges Kilogramm nach Europa oder in die USA verkauft. Zu verlockend für viele in einem Land, in dem der gesetzliche Mindestlohn umgerechnet 110 Euro monatlich beträgt.

Vor allem auf Druck der USA und im Zuge des amerikanischen „War on Drugs“ verabschiedete Bolivien 1988 das Gesetz 1008. Es sieht unter anderem vor, dass schon der Verdacht des Drogenhandels ausreicht, um den mutmaßlichen Dealer in „Präventivhaft“ zu nehmen. Nicht mehr der Ankläger muss demnach die Straftat des Verdächtigen nachweisen, sondern der Beklagte seine Unschuld belegen. Erst Ende 2013 beklagten Ecuador, Venezuela und andere Staaten in einem Strategiepapier der UN, dass die Anti-Drogen-Kampagne lediglich auf Strafen setze.

Zwar arbeitet die jetzige bolivianische Regierung unter Präsident Evo Morales an einer Reform der Bestimmung. Aber sie blieb der internationalen Linie treu, nach der Drogenkonsum und -handel als krimineller Akt bekämpft werden und nicht als Gesundheitsproblem. Das Gesetz hat Boliviens Gefängnisse längst in Orte verwandelt, in denen Schuld ein dehnbarer Begriff ist. Ungefähr drei Viertel der insgesamt 9000 Häftlinge des Landes sitzen ein, ohne jemals verurteilt worden zu sein. José sagt, er sei fertig mit dem Drogengeschäft. „Wenn ich in ein paar Jahren rauskomme, möchte ich etwas anderes machen, vielleicht Rinder züchten.“

Der prominenteste Bewohner von Posta war Luis Amado Pacheco. Der bolivianische Drogenbaron – mittlerweile unter mysteriösen Umständen gestorben – kam 1995 nach San Pedro, weil er bei dem Versuch erwischt worden war, 4,2 Tonnen reinen Kokains per Flugzeug in die USA zu schmuggeln. Seine Zelle war ihm zu klein, und so ließ Pacheco die Unterkunft um ein ganzes Stockwerk erweitern, schlief fortan praktisch auf dem Dach der Anstalt und hatte einen weiten Blick über die Stadt.

Nicht alle in Posta sind so reich. Manche arbeiten hart, um sich ihre Zelle hier verdienen zu können: schneiden Haare, pressen Saft, kochen Mittagsmenüs. Ein junger Litauer namens Valdas, der nach eigener Aussage wegen „Drogen, vieler Drogen“ einsitzt, hat einen kleinen Kiosk aufgebaut. Die Posta-Häftlinge grüßen einander, auf dem Hof wird viel gelacht. Wer sich an die internen Gesetze halte, sagt José, habe hier nichts zu befürchten. Die wichtigsten: Stehle nicht. Und: Lass die Frauen der anderen in Ruhe.

Über ihre Einhaltung wacht der Präsident, den die Bewohner alljährlich wählen – in der Posta wie in jedem anderen Sektor. Gemeinsam mit dem Schatzmeister verwaltet der Präsident die Einnahmen, die aus dem Kokainhandel stammen oder aus den Gebühren für Neuankömmlinge. Davon werden zum Beispiel Renovierungsarbeiten finanziert. Die Führer eines Blocks sind angesehen, meist buhlen mehrere Kandidaten um den Posten. Vor der Abstimmung laden die Anwärter zu Feiern ein. „Draußen gibt es im Wahlkampf Steuersenkungen, hier Alkohol und Koks“, erklärt José.

Für die Gefängnisleitung bringt die Selbstverwaltung durch die Insassen mehrere Vorteile. Sie spart Kosten für Wachen, Köche, Ärzte, Handwerker. Zudem lassen sich manche Offizielle die gewährten Freiheiten üppig von den Gefangenen bezahlen. Rusty Young, Autor von „Marching Powder“, glaubt, dass auch die Häftlinge profitieren – immerhin könnten sie trotz der Haftstrafe mit ihren Familien zusammenbleiben.

Das mag stimmen, wenn man in der Posta wohnt. Der beliebte Block liegt an der Außenmauer des Gefängnisses und hat einen separaten Eingang, so dass die Familien der Häftlinge nicht mit den Sträflingen anderer Sektionen in Kontakt kommen. Je weiter es in das Gefängnis hineingeht, desto gefährlicher wird es. In den inneren Sektionen schlafen die ärmsten Gefangenen in dreckigen Kellerlöchern. Es gibt rivalisierende Gangs, ein banaler Streit kann rasch eskalieren.

Etwa vier Menschen, so wird geschätzt, sterben jeden Monat in San Pedro. Allerdings ist es in den ärmeren Sektoren friedlicher geworden: „Vergewaltiger und Kinderschänder werden nicht mehr im Pool ertränkt“, sagt José. Trotzdem hofft er, nie in den schlimmen Vierteln der Knast-Stadt zu landen. Das könne ganz schnell gehen: „Mit den Drogen geht es bergab: Sie kosten dich dein Geld, deine Zelle, sie können dich die Posta kosten“, sagt er. „Und wenn du einmal dort angelangt bist, immer berauscht, ohne gutes Essen, ohne gute Medizin, dann wird es schwer, noch einmal aufzustehen.“ Dann könne es passieren, dass man die Welt jenseits der Mauern nicht wiedersehe.

Johannes A. Schneider

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