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Trauerbeflaggung nach dem Attentat von Nizza.

© dpa

Interview mit dem Terror-Experten Gilles Kepel: „Ich bin bereits zwei Mal zum Tode verurteilt worden"

Wenn Gilles Kepel hunderte Nachrichten auf seiner Mailbox hat, weiß er: Es gab einen Anschlag. Bald ein Jahr nach dem Terror von Paris ist der französische IS-Experte gefragt wie nie.

Von Barbara Nolte

Gilles Kepel, 61, ist Professor am "Institut d'études politiques de Paris". Er gilt als einer der besten Kennen der Islamismus. Sein neues Buch "Terror in Frankreich: Der neue Dschihad in Europa" erscheint im Kunstmann Verlag.

Herr Kepel, zur Vorgehensweise: Ich werde unser Gespräch aufnehmen, abtippen und …

Schon gut. Versuchen Sie einfach, mir nichts in den Mund zu legen. Ich bin bereits zwei Mal zum Tode verurteilt worden. Wenn ich etwas sagen sollte, weswegen ein drittes Todesurteil verhängt werden würde, ist das also auch egal.

Von wem sind Sie zum Tode verurteilt worden?

Vom IS.

Wie haben Sie davon erfahren?

Zuerst tauchte mein Name in einem Video auf, das ein Attentäter drehte, während er sich am 13. Juni im Haus des Polizistenehepaares in Magnanville verschanzt hatte. Im Video drohte er Gefängniswächtern mit dem Tod, außerdem nannte er sieben Journalisten namentlich, darunter mich – auch wenn ich gar kein Journalist bin. Ich würde also fälschlicherweise abgeschlachtet werden. Am 10. August stand mein Name in einem Mordaufruf gegen 35 Personen, der über Amak, den Nachrichtenkanal des IS, verbreitet wurde.

Wissen Sie, an wen der Mordaufruf gerichtet ist?

An Dschihadisten, die sich bereits in Frankreich befinden und nur aktiviert werden müssen. Das ist das neue Muster. Es ist schwierig geworden, die Grenze nach Syrien zu überqueren. Die Kurden kontrollierten Teile davon, die türkische Armee ist in der Gegend präsent. Das Kalifat mit seinen Städten Rakka und Mossul ist quasi abgeschnitten von der Außenwelt. Unter diesen Umständen lässt sich ein Anschlag wie der vom 13. November 2015 in Paris nicht wiederholen. Stattdessen bedienen sich Dschihadisten im Kalifat des Kommunikationssystems „Telegram Messenger“ …

… eine Art verschlüsseltes Twitter …

… Nachrichten können nicht zum Urheber zurückverfolgt werden. „Telegram Messenger“ wurde hier in Berlin erfunden, um sich gegen die NSA-Bespitzelung zu schützen. Jetzt ist das System zum Schutzraum für Dschihadisten geworden. Verfechter individueller Freiheiten haben hier unfreiwillig ein Vehikel geschaffen, das ihre eigenen freiheitlichen Ansichten bedroht. Über „Telegram Messenger“ werden Radikalisierte in Europa instruiert, die Menschen auf der Liste zu töten. Nach der Drohung des Attentäters von Magnanville wurde ein Gefängniswächter attackiert.

Auch in Deutschland häufen sich in letzter Zeit Anschläge und Anschlagsplanungen im Namen des IS. Sie schreiben in Ihrem aktuellen Buch von „Vorzeichen eines Bürgerkriegs in Europa“. Ist die Lage wirklich so dramatisch?

Der Terror, den wir gerade erleben, ist auf eine Art Manifest des Syrers Abu Musab al-Suri von 2005 zurückzuführen - vergleichbar mit Lenins „Was tun?“, nur online verbreitet. Al-Suri studierte in Frankreich, war in Spanien verheiratet, lebte in London. Für ihn ist Europa der weiche Bauch des Westens und deshalb vorrangiges Terrorziel. Durch die Anschläge soll nicht nur Ang

Der Terror, den wir gerade erleben, ist auf eine Art Manifest des Syrers Abu Musab al-Suri von 2005 zurückzuführen – vergleichbar mit Lenins „Was tun?“, nur online verbreitet. Al-Suri studierte in Frankreich, war in Spanien verheiratet, lebte in London. Für ihn ist Europa der weiche Bauch des Westens und deshalb vorrangiges Terrorziel. Durch die Anschläge soll nicht nur Angst verbreitet, sondern Vergeltung provoziert werden. So soll die Gewalt eskalieren und am Ende des Tages das Kalifat aufsteigen aus den qualmenden Ruinen von Europa.

"Glauben Sie in Ernst, ich hätte darauf eine Antwort?"

Gilles Kepel.
Gilles Kepel.

© Mike Wolff

Das ist doch aussichtslos.

Natürlich ist das weit weg von der Realität, auch wenn manch junger Dschihadist daran glaubt.

Es heißt, dass in Frankreich zurzeit Soldaten Schulen bewachen müssen.

Auf der Todesliste vom August stehen ganze Berufsgruppen: unter anderem Beamte, Polizisten und eben auch Lehrer. Da will gewissermaßen ein Neo-Proletariat die Mittelklasse töten.

Was muss getan werden, damit die Gewalttaten ein Ende haben?

Glauben Sie im Ernst, ich hätte darauf eine Antwort?

Sie beschäftigen sich schon sehr lange mit dem Islamismus …

… ich bin ein alter Mann!

Wie kamen Sie dazu?

Das war Anfang der 80er Jahre, ich war wie viele damals ein Linker. Mich erstaunte, dass die Studenten in Ägypten – anstatt links zu sein, was ich für natürlich hielt, naiv, wie ich war – Islamisten waren. Ich entschloss mich, für drei Jahre nach Ägypten zu gehen, um das Phänomen zu studieren. Damals galten diese Gruppen als irrelevant. Bis die irrelevanten Leute, mit denen ich mich beschäftigte, 1981 Anwar as-Sadat ermordeten.

Wie hat sich der Islamismus seitdem verändert?

Ich unterscheide drei Phasen. Zunächst betraf der Dschihad vor allem muslimische Länder – wie Algerien in den 90ern. Die Gotteskrieger richteten sich im dortigen Bürgerkrieg aber gegen die Bevölkerung und isolierten sich. Der Chefideologe von Al-Kaida, Ayman al-Zawahiri, folgerte, den Terror nicht gegen einen „nahen Feind“ zu richten und dabei die Bevölkerung mitzutreffen, sondern gegen einen „weit entfernten“ Feind: die USA. Seine Analyse von 2001 begründet Phase zwei. Trotz spektakulärer Erfolge scheiterte auch Bin Laden darin, die Massen zu gewinnen. Al-Suri veränderte erneut den Fokus des Terrors: von den USA nach Europa, das besser erreichbar ist und weniger stark.

Sie sind einer der gefragtesten Islam-Experten Frankreichs. Erfahren Sie bereits durch Interviewanfragen, dass ein neuer Anschlag passiert ist?

Genauso ist es. Wenn ich hunderte Anrufe von Journalisten auf meiner Mailbox habe, weiß ich, dass wieder etwas in meinem Zuständigkeitsgebiet geschehen ist.

Sie geben dann tagelang Interviews.

Ja. Zu meinen Pflichten als Professor gehört es, die Öffentlichkeit über die Hintergründe aufzuklären.

Wie erklären Sie es sich, dass Frankreich so viel mehr von dschihadistischer Gewalt betroffen ist als Deutschland?

Ein Grund ist, dass Frankreich große Schwachstellen im sozialen Gewebe hat. Ich war viel in den Banlieues unterwegs, in denen einige derer leben, die al-Suri als Mitstreiter im Sinn hatte. Durch permanente Anschläge sollen schließlich alle Muslime unter Generalverdacht gestellt werden und den Extremen zugetrieben werden. Deshalb halte ich es auch für gefährlich zu sagen: Wir sind im Krieg mit dem IS. Dschihadisten sagen: Wir sind im Krieg mit Europas Gesellschaften. Wenn wir dieselben Worte benutzen – und das war ein Streit, den ich mit dem Präsidenten Hollande hatte –, spielen wir denen in die Hände. Es geht nicht um Krieg, sondern darum, die Zivilgesellschaften als Ganzes zu mobilisieren.

In Paris demonstrierten 1,6 Millionen nach den Anschlägen auf „Charlie Hebdo“. Sie auch?

Ja, auch wenn die Cartoons für mich irrelevant sind. Einen finde ich herabwürdigend: Er zeigt einen nackten Mann mit einem Stern im Hintern, dazu die Schrift „Mohammed – a star is born“. Trotzdem – sie haben das Recht, ihre Cartoons zu drucken. Damals gab es eine starke Gegenbewegung. Manche Muslime sympathisierten sogar mit den Attentätern, weil sie fanden, diese hätten den Propheten gerächt. Das war der politisch klügste Anschlag, weil er eine Gruppe betraf, mit der sich normale Muslime nicht identifizieren können.

"Jeder hat das Gefühl, Terrorziel werden zu können."

Eine Zeichnung des ermordeten "Charlie Hebdo"-Karikaturisten Georges Wolinski.
Eine Zeichnung des ermordeten "Charlie Hebdo"-Karikaturisten Georges Wolinski.

© dpa

Wie ist die Stimmung zurzeit in Frankreich?

Angespannt. Jeder hat das Gefühl, Terrorziel werden zu können. Jeder, das schließt auch unsere muslimischen Mitbürger ein, was für den IS ein Problem darstellt. Die wollen sie ja mobilisieren, und zugleich töten sie sie. In Nizza waren 30 der 86 Todesopfer soziologisch gesehen Muslime. Die Dschihadisten behelfen sich mit einem Trick. Wenn jemand zufällig zum Opfer wird, heißt es: Er starb im Dschihad und kommt ins Paradies. Familien, die Opfer beklagen, haben aber kein Interesse an diesen Rechtfertigungen. Ich glaube, das ist eine der Schwächen ihrer Strategie.

Europa sollte schärfer gegen fundamentalistische Gruppen vorgehen, sagen Sie. Befürworten Sie also Militäreinsätze?

Es wird ja Krieg gegen das Kalifat geführt, und solange der andauert, haben wir Vergeltungsschläge. Das Beste, um keine Vergeltungsschläge mehr zu haben, ist, dass es kein Kalifat mehr gibt.

Wir versprechen uns in Deutschland viel von Deradikalisierungszentren, die wir vielerorts einrichten.

Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Dschihadismus eine Krankheit ist, die kuriert werden kann. Aber wir wissen ja nicht mal, wie Radikalisierung vor sich geht – geschweige denn Deradikalisierung. Die Studien dazu stammen oft aus den USA und machen keinen Unterschied, ob sich jemand als Rechter, Buddhist oder Islamist radikalisiert hat. Die Dimension der Glaubensinhalte wird ausgeblendet, weil diejenigen, die diese Forschungen betreiben, sich nicht damit auskennen.

Der Terror hat nichts mit dem Islam zu tun. So heißt es in Deutschland oft in politischen Kommentaren.

In eine ähnliche Richtung geht eine Kontroverse, die ich mit dem Politologen Olivier Roy habe, der in Florenz lehrt. Für ihn ist der Dschihadismus dasselbe wie die Roten Armee Fraktion …

… gewalttätige, oft narzisstische junge Menschen, die sich unter dem Deckmantel einer beliebigen Ideologie sammeln …

… Roy kann kein Arabisch lesen – und sagt dann, dass die Schriften irrelevant seien. Wie will er das beurteilen?

Ist es nicht müßig, darüber zu streiten, ob es sich um eine Radikalisierung des Islam oder eine Islamisierung von Radikalen handelt?

Nein. Der Dschihadismus hat seine eigene Architektur, die man ohne Kenntnis seiner Texte nicht verstehen kann. Der IS will alles, was er tut, mit islamischen Schriften belegen. Andere Islamgelehrte legen die Schriften jedoch anders aus. Es gibt zum Beispiel ein Hadith des Propheten, wonach Homosexuelle mit dem Tod zu bestrafen sind. Manche islamische Gelehrte glauben, es sei dem Propheten nur angeheftet worden. Salafisten und Dschihadisten halten es für echt. Als ich im Fernsehen zum Massaker im Schwulenclub in Orlando befragt wurde, habe ich auf beide Positionen hingewiesen. Das brachte die Dschihadisten gegen mich auf, die für sich beanspruchen, den ganzen Islam zu repräsentieren. So erkläre ich mir, wie mein Name auf die Todesliste geraten ist.

Wie geht es Ihnen angesichts der Morddrohungen?

Das gehört nicht ins Interview.

"Für ein Burkini-Verbot gibt es keine gesetzliche Grundlage."

Angezogen am Strand.
Angezogen am Strand.

© ddp

Ist der Salafismus Ihrer Ansicht nach gefährlich, der mit den Werten des Westens bricht?

In Europa sind wir an Weltanschauungen, die unsere Lebensweise überwinden wollen, gewohnt. Sie sind legal, solange sie nicht zu Gewalt anstiften. Denken Sie an den Kommunismus – der will immerhin die bürgerliche Gesellschaft zerstören. Trotzdem war die kommunistische Partei in Frankreich ins politische System integriert. Der Salafismus will ein Kalifat errichten, was nicht verboten ist. Menschen können ihr Privatleben gestalten, wie sie wollen! Nehmen Sie Kreuzbergs Kommunen zu Marcuses Zeiten, in denen ein Mann mit mehreren Frauen zusammenlebte.

Das ist mehr ein Mythos und betraf nur ganz wenige. Männer hätten das wohl gerne so gehabt.

Männer wurden doch auch geteilt. Das widersprach den moralischen Gesetzen der damaligen Zeit, führte aber meines Wissens zu keinerlei Morden. Auch Salafisten leben gewissermaßen in Kommunen, schließen den Rest der Gesellschaft aus. Ich glaube, um islamistische Radikalisierung besser zu verstehen, muss man den Punkt erforschen, an dem die salafistische Ideologie ins Gewalttätige umschlägt.

Sollte die Gesellschaft mehr Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Muslime nehmen, um sie nicht in die Arme der Hardliner zu treiben?

Das säkulare System erlaubt doch die freie Religionsausübung. Ein Problem im Islam ist, dass es keine zentrale Organisation gibt, die die religiösen Gebote bestimmt. Stattdessen gibt es internes Gezänk verschiedener Gruppen um die Repräsentation. Zurzeit haben diejenigen Oberwasser, die sich als Kämpfer gegen Islamophobie profilieren.

Erklären Sie das bitte genauer.

Die Anti-Islamophoben stecken Muslime in die Opferrolle. Ihr Vorgehen wurde bei der Burkini-Affäre deutlich, die diese Gruppen lancierte.

Die Fotos sprachen doch für sich: Französische Polizisten, die offenbar eine Frau dazu brachten, sich auszuziehen. Das ist schon absurd.

Die Burkini-Affäre nahm ihren Ausgang an den Stränden von Nizza, dort, wo sich kurz zuvor das Attentat ereignete. Die Anti-Islamophobie-Gruppen schwiegen zu dem Anschlag, thematisierten stattdessen das Burkini-Verbot. Sie ersetzen ein Thema durch ein anderes – und sorgten dadurch für Entlastung für manche Muslime, die durch den Terrorakt Unbehagen empfanden.

In Deutschland gibt es gerade eine Debatte darüber, ob Burkas verboten werden sollen. Was halten Sie persönlich von Burkinis?

In Frankreich gibt es ein Gesetz, wonach man sein Gesicht in der Öffentlichkeit nicht verbergen darf, weil man so nicht mehr identifiziert werden kann. Wenn man voll bekleidet im Meer schwimmt, greift dieses Gesetz nicht. Manche empfanden es als Provokation, dass sich Frauen mit ihren Burkinis am selben Ort aufhalten, an dem ein Dschihadist mordete.

Sind Sie für oder gegen ein Burkini-Verbot?

Für ein Burkini-Verbot gibt es keine gesetzliche Grundlage. So einfach ist das.

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