zum Hauptinhalt

Jon Gnarr: Mister Reykjavik

Jon Gnarr ist in Island bekannt wie ein bunter Hund – er ist auch einer. 2010 wurde der Komiker zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt. Unseren Reporter traf er am Denkmal für den unbekannten Bürokraten.

Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, da trifft sich schon die halbe Nachbarschaft. Es ist sieben Uhr an einem Freitag im Februar, der Himmel leuchtet dunkelblau, die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt. In den drei runden Außenpools des Schwimmbads sitzen die Leute dicht nebeneinander im 30 bis 40 Grad warmen Wasser. Dampf steigt auf. Besonders im Becken ganz links wird rege diskutiert. „Habt ihr den Premierminister gestern im Fernsehen gesehen?“, fragt ein älterer Herr, der eine blaue Badehose trägt, in die achtköpfige Runde. „Er hat solchen Unsinn erzählt.“ Ein anderer stimmt ein: „Er benimmt sich wie ein Kind!“

Wer wissen möchte, was die Isländer denken, muss in aller Frühe in einen Hot Pot steigen, heißt es. Das allmorgendliche Bad ist ein alter Brauch auf der Vulkaninsel – so auch hier in Vesturbaer, der Weststadt, einem zentralen Viertel von Reykjavik. Dabei geht es nicht nur um den wohltuenden Effekt des heißen Thermalwassers, sondern vor allem um Klatsch. Nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 kamen die Menschen in Scharen in die Bäder. Das Bedürfnis nach Informationen war groß, ebenso vermutlich der Wunsch, sich Luft zu machen über Politiker und Banker, die das Land an den Rand des Abgrunds geführt hatten.

Noch heute schimpfen sie gern im Hot Pot. Doch über einen bestimmten Politiker wird man selten Schlechtes hören. Selbst wenn man beharrlich nachfragt. Jon Gnarr? „Der macht einen ordentlichen Job“, sagt ein Mann im Pool. Und die einzige Frau im Becken – sie ist Anfang 60 und kommt seit 15 Jahren morgens hierher – findet Gnarr „sehr sympathisch“. Im Jahr 2010, da war er noch frisch im Amt des Reykjaviker Bürgermeisters, sei er ins Viertel gekommen und habe sich persönlich erkundigt, was man in Vesturbaer verbessern müsse. „Ich habe ihm erzählt, dass das Flutlicht unseres Stadions in meine Wohnung scheint“, sagt sie. Vier Jahre später ist das Problem das gleiche, aber anlasten will die Frau dem Bürgermeister das nicht. „Veränderungen brauchen eben Zeit.“

Anfang 2014 ist genau das die Frage: Wie viel hat Jon Gnarr verändert?

Drei Stunden nach dem Besuch im Hot Pot, es ist zehn Uhr, und die Sonne strahlt über Reykjavik, steht Gnarr in der Mitte der Stadt – neben einer Errungenschaft seiner Amtszeit. Er selbst sagt das so. Am Rande des zugefrorenen Stadtsees schnattern die Enten. Um von hier aus ins Rathaus, ein Bau aus den 80er Jahren, zu gelangen, muss man nur eine kleine Brücke überqueren. Gnarr, 47 Jahre alt, ist ein Mann mit kurzem blonden Haar und breitem Kreuz, und bei seiner Errungenschaft handelt es sich um die Plastik eines isländischen Bildhauers, die er von einem Hinterhof an diese prominente Stelle hat bringen lassen, wo Touristen aus aller Welt sie nun unentwegt fotografieren. Sie zeigt einen Mann mit Aktenkoffer in der Hand, Oberkörper und Kopf sind ein einziger unförmiger Klotz. „Andere Städte haben Denkmäler unbekannter Soldaten, wir haben den namenlosen Bürokraten“, sagt Gnarr, und dann folgt sein helles, grollendes, gewaltiges Lachen, das zu hören eine wahre Freude ist.

Jon Gnarr ist ein Bürgermeister, wie es ihn kein zweites Mal gibt. Die Isländer kennen ihn seit vielen Jahren – als Komiker. Seine Stärken sind schneller Wortwitz und absurder Humor, politisches Kabarett hat er nie gemacht. Für eine Serie stellte er einst einen KFZ-Mechaniker dar, der Menschen ebenso wie Autos von Volkswagen liebt. Gnarr rief auch schon mal bei der CIA an, um zu behaupten, er habe eben Saddam Hussein in den Straßen Reykjaviks gesehen.

Als im Herbst 2008 in Folge der Lehman-Pleite die drei großen isländischen Geschäftsbanken zusammenbrachen, geriet die Atlantikinsel in eine schwere Krise. Die Banken hatten sich aufs Abenteuerlichste verzockt, zuletzt war ihr wirtschaftliches Volumen zehnmal größer als das des Staates. Eben noch hatte die OECD Island als weltweit zukunftsfähigstes Land eingestuft, nun verlor die Krone dramatisch an Wert, waren Staat und Privatleute plötzlich hoch verschuldet. Demonstrationen vertrieben die Regierung der liberal-konservativen Unabhängigkeitspartei – seit 1944 stets die stärkste Kraft im Parlament – von der Macht. Viele Jahre hatte der Staat privatisiert und liberalisiert, den Bankern also freie Hand gelassen, und so machten die Isländer die inzestuöse Kaste aus Politik und Wirtschaft für den Crash verantwortlich. Keiner hatte noch Vertrauen in die etablierten Parteien.

In dieser Atmosphäre gründete Jon Gnarr 2009 mit Freunden die „Beste Partei“. Eine geniale Satire auf den Politikbetrieb, vergleichbar mit „Die Partei“ der Zeitschrift „Titanic“ in Deutschland. Im Jahr darauf kandidierte er für das Amt des Bürgermeisters, indem er schamlos alles überbot, was die Konkurrenz versprach. Wenn die Linken freien Eintritt in die Bäder für Kinder und Jugendliche forderten, legte seine Partei nach: „Freier Eintritt für alle – inklusive kostenlosen Handtüchern.“ Als Vision nannte er ein drogenfreies Parlament bis 2020 sowie „offene statt heimlicher Korruption“ und versicherte, keines seiner Versprechen halten zu wollen. Als die „Beste Partei“ mit 34,7 Prozent der Stimmen dann tatsächlich stärkste Kraft wurde, machte Gnarr exzellente Kenntnisse der US-Fernsehserie „The Wire“ zur Bedingung für Koalitionsverhandlungen.

Vielleicht kann man sich das alles so vorstellen, als wäre Hape Kerkeling, der im Film „Horst Schlämmer – Isch kandidiere“ seine gleichnamige Figur in den Kampf ums Kanzleramt schickte (Slogan: „Yes Weekend“), gleichzeitig Ministerpräsident in den größten fünf, sechs Bundesländern geworden. Island hat nur 320 000 Einwohner, weniger als der Bezirk Berlin-Mitte, und die überwältigende Mehrheit davon lebt im Großraum Reykjavik. In der Hauptstadt selbst gibt es 120 000 Menschen. Sie ist das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum. Und an dessen Spitze stand nun einer, der die Schule mit 14 verlassen hatte, um danach in einem Internat für schwer erziehbare Jugendliche zu landen. Kritiker sahen in Gnarr eine weitere Katastrophe für das darniederliegende Land.

Zur Überraschung vieler hat er das Amt sehr ernst genommen. „Für mich ist das einfach ein Job, so wie ich auch mal Taxifahrer war, und ich versuche, den so gut wie möglich zu machen“, sagt er beim Gespräch in seinem Büro im zweiten Stock des Rathauses, mit Blick auf den Stadtsee. Auf zwei Dinge ist er besonders stolz. Zum einen die neue politische Stabilität. Vor 2010 wechselten die Bürgermeister ständig – sei es wegen Skandalen oder wegen Gerangels innerhalb verschiedener Koalitionen. Ausgerechnet ihm, dem man unterstellte, er könne nur Klamauk, ist es in einer Regierung mit den Sozialdemokraten gelungen, Ruhe in den Laden zu bringen.

Der zweite Erfolg betrifft den öffentlichen Energieversorger Reykjavik Energy, an dem die Stadt maßgeblich beteiligt ist. „Er war für Reykjavik, was die Banken für das Land insgesamt waren.“ In den Jahren vor der Krise verfiel Reykjavik Energy dem allgemeinen Goldrausch, baute einen monströsen Hauptsitz, verspekulierte und verschuldete sich. Unter Gnarr wurde ein Rettungsprogramm aufgelegt, zu dem auch Entlassungen gehörten. „2017 wird die Firma schuldenfrei sein“, sagt er. Dass das Programm funktioniert, bestätigen sogar Leute, die nicht zu seinen Fans zählen.

Dann zieht Jon Gnarr sein Jackett aus, krempelt den linken Hemdsärmel hoch, und das blau-weiße Wappen der Stadt kommt zum Vorschein. Er hat es sich tätowieren lassen, als Beweis seiner Hingabe. Was ist das auch für eine Höllenarbeit, Bürgermeister zu sein! „Am meisten vermisse ich, selbst über meine Zeit zu bestimmen.“ Gnarr wirkt sichtlich erschöpft, der Plan für den Tag, den seine Assistentin ihm vor dem Interview in die Hand gedrückt hat, liegt neben ihm auf dem Sofa. Vor ein paar Monaten hat er bekannt gegeben, bei der nächsten Wahl im Juni nicht wieder anzutreten. Dabei hätte er gute Chancen, zu gewinnen: Laut einer Gallup-Umfrage vom November sind 53 Prozent der Bewohner von Reykjavik zufrieden, nur 20 Prozent unzufrieden mit seiner Arbeit. Gefragt, wie lange er sein Amt noch ausüben müsse, antwortet Gnarr: „107 Tage.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt er: „Etwa 1600 Stunden.“

Über seine Zeit als Bürgermeister hat er vor kurzem ein Buch veröffentlich, kurioserweise nur auf Deutsch. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag Klett-Cotta kam zustande, als Island 2011 Gast der Frankfurter Buchmesse war. Im Sommer soll eine englischsprachige Ausgabe erscheinen. „In den USA und Deutschland habe ich die meiste Aufmerksamkeit erfahren“, sagt Gnarr. „Die Amerikaner waren an der Sensation – Comedian wird Bürgermeister! – interessiert, die Deutschen sind auf der Suche nach dem tieferen Sinn.“ Das Buch trägt den Titel „Hören Sie gut zu und wiederholen Sie“, das ist einer der wenigen Sätze, die Gnarr vom Deutschlernen behalten hat. Bei der Präsentation im Januar in Berlin war die Volksbühne gut gefüllt. Mit dabei: Richard David Precht, ein Bekannter des Bürgermeisters. Auch der deutschen Piratenpartei fühlt sich Gnarr verbunden.

Stark ist „Hören Sie gut zu ...“ dort, wo Jon Gnarr nicht über die Zukunft der Demokratie sinniert, sondern aus seinem Leben und von seiner Heimat erzählt. Etwa, dass er aus einem Reykjaviker Arbeiterhaushalt stammt, der Vater Kommunist und Mitglied im Isländisch-Sowjetrussischen Kulturverband war. Der kleine Jon tat sich schwer mit der Rechtschreibung, war das „schwarze Schaf“ der Familie und las die deutsche „Bravo“, die es in Island damals offenbar in der Buchhandlung gab. Nina Hagen, schreibt er, sei seine erste große Liebe gewesen.

Gnarr war Punk, Katholik und Anarchist. Mittlerweile schwöre er jedem „Ismus“ ab, erklärt er, und den Glauben an Gott habe er auch nicht finden können. In seinem Büro hängt ein Bild, das einen Demonstranten zeigt, der mit einem Blumenstrauß wirft. Bansky, der anonyme britische Streetart-Künstler, hat es ihm überlassen. Gnarr sagt, es spiegele seine Lebenseinstellung wider: Entschlossen zu sein, aber gewaltfrei.

Je länger man sich mit Jon Gnarr unterhält, desto mehr versteht man den Grund seines Erfolgs: Charisma. Der Autor Halldor Gudmundsson – einer, der ihn schon häufiger erlebt hat – sagt: „Die Art, wie er mit den Leuten spricht, ist angenehm ungewöhnlich.“ Gudmundsson, Jahrgang 1956, hat unter anderem eine Biografie über den großen isländischen Schriftsteller Halldor Laxness veröffentlicht und ein kluges Buch über die Krise, „Wir sind alle Isländer“. Er war Verlagsleiter und ist heute Direktor der neuen Konzert- und Konferenzhalle „Harpa“ neben Reykjaviks altem Hafen. Von seinem Büro im fünften Stock blickt er hinaus auf Wasser und Berge. „Jon Gnarr sagt Sachen, die man von einem Berufspolitiker nie hören würde“, erzählt er. „Bei Interviews im Fernsehen erwidert er schon mal: ,Keine Ahnung, da muss ich erst mal jemanden fragen.’ Das macht ihn glaubwürdig.“

Gudmundsson betont, dass Gnarr sich immer mit fähigen Leuten umgeben habe: Kreative aus seinem engsten Umfeld, unter ihnen der Schriftsteller Sjon, aber auch die Koalitionspartner von den Sozialdemokraten, die die Stadt und ihre Probleme aus jahrelanger Erfahrung kennen. Dem Bürgermeister blieb die Aufgabe, dem Ganzen ein menschlicheres Anlitz zu verleihen. So gab der fünffache Familienvater der alljährlichen Schwulenparade nicht nur seinen Segen, er marschierte gleich mit. Als Drag Queen. Die Freundschaftsbande zu Moskau zerriss er, nachdem in Russland die Gesetze gegen „Homosexuellen-Propaganda“ verabschiedet worden waren.

In den meisten Fällen führte seine Regierung schlicht fort, was schon die Vorgänger auf den Weg gebracht hatten. Mehr direkte Mitsprachemöglichkeiten in den Nachbarschaften zum Beispiel, oder die nun erfolgreich abgeschlossene Bewerbung Reykjaviks als „Unesco City of Literature“. „Es ist nicht so, dass unter Gnarr besonders viel Geld in die Kultur gesteckt worden wäre, aber er hat jungen Kreativen das Gefühl gegeben, hier willkommen zu sein“, sagt Gudmundsson.

Was wird bleiben, wenn Jon Gnarr demnächst abtritt? Halldor Gudmundsson glaubt nicht, dass sich Islands Politiker dank Gnarr grundsätzlich verändert hätten. Erst vor gut zwei Wochen beendete die Regierung – inzwischen wieder unter Führung der Unabhängigkeitspartei – überraschend die Beitrittsverhandlungen mit der EU. Und das, obwohl den Wählern eine Volksabstimmung darüber versprochen worden war. Erneut kam es zu Demonstrationen.

Viele treibt jetzt die Frage um, ob das kleine Island auf Dauer mit einer eigenen Währung bestehen kann. Im Moment hat sich das Land scheinbar erholt, und das „Harpa“ wird manchmal als Symbol dafür gesehen. Nach der Krise war das damals noch nicht fertiggestellte Gebäude eine Ruine, Ausdruck der isländischen Hybris, heute glänzt die von Olafur Eliasson (siehe Seite S6) gestaltete Glasfassade in der Sonne, und das Haus ist eine Attraktion.

Gnarrs „Beste Partei“, die genau genommen nie mehr als eine lose Bewegung war, ist in der neuen linken Partei „Strahlende Zukunft“ aufgegangen. (Ein Name, der an die maoistischen Rebellen vom „Leuchtenden Pfad“ erinnere, wie ein Reykjaviker Journalist lästert.) Ohne den populären Kopf Jon Gnarr, der nicht zurück ins Showgeschäft, sondern Menschenrechtsaktivist werden will, dürfte sie ihre Schwierigkeiten haben.

Gnarr schreibt in seinem Buch: „Sobald etwas keinen Spaß mehr macht, wird es wertlos“. Politik müsse „interessanter, spannender, cooler“ werden. Dabei ist seine eigene Geschichte ein Beleg für die Grenzen dieser Idee. In einer zweiten Amtszeit wäre es mit dem positiven Überraschungseffekt, von dem er bis zuletzt zehrte, sicher vorbei gewesen. Und die Politik, glaubt Schriftsteller Halldor Gudmundsson, hätte am Ende selbst einen wie Gnarr verändert.

So gesehen hat der Komiker vielleicht geschafft, was den meisten Menschen – Politikern zumal – nicht gelingt: zum richtigen Zeitpunkt aufzuhören.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false