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In Istanbul spielte Davide Martello unter anderem "Imagine".

© ED OU/The New York Times/Redux/R

Klavierspieler vom Taksim-Platz: Durch Zufall wurde er zum Friedens-Pianisten

Und plötzlich war Stille auf dem Taksim-Platz. Die Demonstranten hörten Davide Martello zu. Das Foto mit dem Pianisten ging im Juni um die Welt. Eigentlich hatte er aber andere Pläne.

Nach Istanbul und Dallas jetzt also Ebersbach. Die Straßen in der kleinen Gemeinde, 30 Kilometer nördlich von Dresden, sind menschenleer. Es ist ein Dienstagnachmittag im Dezember, und langsam wird es dunkel. Davide Martello parkt seinen abgewetzten und innen ziemlich zugemüllten VW Vento vor einem Haus, an dem Weihnachtsschmuck leuchtet. Das Auto, er nennt es „Bärbel“, hat ihn schon durch ganz Europa und die USA begleitet. Als er im Sommer im Istanbuler Stadtteil Besiktas damit rückwärts einen Berg hochfuhr, erwischte es die Kupplung – zurück nach Deutschland, wo er den VW reparieren ließ, ging es am Ende nur noch mit Tempo 30.

Martello, 32 Jahre alt und Deutsch-Italiener, sieht sehr dünn aus in seinem eng geschnittenen schwarzen Mantel. Er öffnet die Tür zu einer Schlosserwerkstatt. Sein Autoanhänger steht hier und daneben sein neuer Flügel, dem Anschein nach ein klassisches Klavier, tatsächlich eine Konstruktion aus Brettern vom Baumarkt, einem elektronischen Piano und einem Lautsprecher, versteckt unterm Deckel. Ein Mann, der Arbeitskleidung und Sandalen trägt, kommt herein und beginnt auf Sächsisch auf Martello einzureden. Aufgekratzt und sehr guter Laune. „Mensch!“, sagt er. „Du hast ja letzte Nacht wieder bis vier Uhr gewerkelt, kannst du dir nicht mal normale Arbeitszeiten zulegen? Wir schlafen hier drüber, das hört man doch! Das Weib schimpft schon!“

Martello lächelt verlegen oder geistesabwesend, so genau kann man das manchmal nicht sagen bei ihm, und schweigt. Als der Mann gegangen ist, streicht er über sein Klavier. „Das war mein Kumpel Lutz“, sagt er. „Der lässt mich hier in seiner Werkstatt bauen.“

Davide Martello hat viele Kumpels gewonnen in den vergangenen zweieinhalb Jahren, seit er in der Welt herumreist, praktisch ohne festen Wohnsitz, und als Straßenmusiker auf öffentlichen Plätzen Piano spielt. „Die Menschen sind überall nett“, sagt er. Fast immer gab es jemanden, der ihm eine Übernachtungsmöglichkeit anbot oder sonst wie half. Weltvertrauen hat Martello entwickelt und zugeschaut, wo es ihn hinträgt. Mal in die sächsische Provinz und mal, wie in diesem Sommer, in die internationale Politik.

Im Juni hatte er seinen bisher größten Auftritt. Er war auf dem Balkan unterwegs, hatte in Sarajevo, Pristina und Thessaloniki gespielt, als er im Fernsehen Bilder von den Demonstrationen auf dem Taksim-Platz sah. Der Konflikt in der Türkei entzündete sich an der geplanten Bebauung des Gezi-Parks im Zentrum von Istanbul, weitete sich jedoch bald zum Protest gegen die konservativ-islamische Regierung von Recep Tayyip Erdogan. Die Polizei ging hart gegen die meist jungen Demonstranten vor, die Lage eskalierte – und 550 Kilometer weiter westlich kam Davide Martello bei einer Freundin in Sofia die Idee, am Bosporus aufzutreten. Als Zeichen gegen die Gewalt. Zu Klaviermusik würde keiner Tränengas abfeuern, dachte er.

Wie Martello auf den Taksim-Platz kam

In Istanbul spielte Davide Martello unter anderem "Imagine".
In Istanbul spielte Davide Martello unter anderem "Imagine".

© ED OU/The New York Times/Redux/R

Wenn Martello heute davon erzählt, hat man den Eindruck, dass er auf den Taksim geraten ist, wie er auch nach Ebersbach kam: ein bisschen zufällig. Einfach losgefahren ist er mit seinem VW, sein altes Klavier hintendran, und acht Stunden später, gegen 20 Uhr, war er auch schon da. Eigentlich wollte er frühestens am nächsten Tag spielen. „Dann habe ich die Ausschilderung zum Taksim-Platz gesehen und bin einfach weitergefahren. Steine lagen auf den Straßen, es gab keine Beleuchtung mehr. Ich habe Geschrei gehört und dachte: Okay, ich glaube, ich bin drauf.“

Mit einer Seilwinde lässt Martello damals seinen Flügel vom Autoanhänger, direkt neben der Polizei, und beginnt zu spielen. Bis vier Uhr morgens. Die Leute sind begeistert, Stücke wie „Let it be“, „Imagine“ und „Bella Ciao“ kommen am besten an. Drei Mal tragen Demonstranten das Klavier in andere Ecken des Platzes.

Am nächsten Abend in Istanbul – Martello ist natürlich bei einem neuen Kumpel untergekommen – folgt ein zweiter Auftritt, er dauert 14 Stunden, bis elf Uhr morgens. Und dann noch ein dritter, bis drei Uhr nachts. Am Tag darauf beschlagnahmt die Polizei den Flügel und Martellos Wagen, vermutlich erst durch Druck der Medien und der deutschen Botschaft bekommt er beides wieder. Um keinen Ärger zu riskieren, gibt er noch ein Abschiedskonzert und fährt dann nach Deutschland. Die Männer an der Istanbuler Tankstelle erkennen ihn und bezahlen das Benzin.

Auf Youtube kann man Aufnahmen der Taksim-Konzerte sehen. Martello sitzt am Klavier, trägt ein türkisches Fußballtrikot, die Parolen um ihn herum sind verstummt, stattdessen lauschen die Demonstranten gebannt dem Spiel, singen, jubeln und sind manchmal zu Tränen gerührt – von der Musik, der friedlichen Atmosphäre und dem kuriosen Pianomann von weit her.

Die „Hamburger Morgenpost“ taufte Martello anschließend den „Friedensengel vom Taksim-Platz“, und in der „New York Times“ hieß es: „Der Pianist Davide Martello beruhigt die Situation in Istanbul“. Das war ein wenig übertrieben, die Lage hatte sich schon vorher entspannt. Aber sympathisch war Martellos Geschichte allemal. Und so wurde er dutzendfach interviewt, zu Markus Lanz und Günter Jauch eingeladen, sogar Coca-Cola will jetzt einen Clip mit ihm drehen.

Auch wenn er sichtlich stolz darauf ist, macht Martello nicht den Eindruck, als wäre ihm die Sache zu Kopf gestiegen. Seine Pläne waren ja andere, jedenfalls wollte er nicht „Friedenspianist“ werden und immerzu „Imagine“ spielen. Er war doch zu einer Weltreise aufgebrochen, um seine eigenen Kompositionen bekannt zu machen.

Martellos Eltern stammen aus Sizilien, wo sie inzwischen wieder leben, der Vater kam einst als Gastarbeiter nach Deutschland. Davide Martello selbst ist geboren und aufgewachsen in Baden. Als kleiner Junge warf er Steine in das Kastenklavier der Familie und freute sich über die Geräusche. „Da entschied mein Vater, ich sollte besser Pianounterricht nehmen, bevor ich das Instrument komplett demoliere.“ Martello lernte an der Orgel, zu Hause spielte er Songs von Michael Jackson, mit 16, 17 begann er, selber Stücke zu schreiben – das erste für seine damalige Freundin. Er machte eine Ausbildung zum Friseur und arbeitete in einem Salon in Konstanz. Doch der Wunsch, Musiker zu sein – einer wie die modernen Komponisten und Pianisten George Winston oder Philip Glass –, ließ ihn nicht los.

Mit selbstgebrannten CDs auf dem Potsdamer Platz

In Istanbul spielte Davide Martello unter anderem "Imagine".
In Istanbul spielte Davide Martello unter anderem "Imagine".

© ED OU/The New York Times/Redux/R

Irgendwann geriet Martello an einen Schreiner aus Arbon, auf der Schweizer Seite des Bodensees. Der Mann, der in seiner Freizeit Instrumente baut, stellte ihm seine Werkstatt zur Verfügung. Martello kaufte im Internet einen gebrauchten Flügel für 700 Euro und baute das Klavier so um, dass es lauter wurde, leichter, wetterfester – und dank LED-Leuchten interessant aussah. Er wollte, so hatte er sich das inzwischen zurechtgelegt, Musik mit Landschaft und Architektur verbinden. Zunächst stellten der Schweizer und er Instrumente am Seeufer auf, später fuhr Martello testweise mit dem „getunten Flügel“, wie er sagt, und selbst gebrannten CDs mit seinen Liedern nach Berlin. Damals für ihn „die Stadt der Städte“.

Im Frühjahr 2010 spielte er auf dem Potsdamer Platz und merkte, dass er mit seinen Auftritten Geld verdienen kann. Bald darauf entwickelte er die Idee, alle Hauptstädte der Welt zu besuchen und auf den jeweils schönsten Plätzen zu spielen. Er fuhr in die Beneluxstaaten, nach Österreich, Großbritannien, Skandinavien, Italien, Frankreich, Tschechien, Polen, ins Baltikum und zwei Mal Richtung Balkan.

So soll es nun weitergehen. Martello überlegt, wie er seine neue Popularität nutzen kann, ohne ewig der Pianist vom Taksim-Platz zu bleiben. Nach Istanbul hat ihm eine große Plattenfirma einen Vertrag und eine Tour durch die USA angeboten. Die Konditionen fand er inakzeptabel, „aber es hat mich inspiriert“: „Ich dachte, hey, das kannst du auch selbst machen.“ Es war erneut eine dieser schnellen Martello-Ideen, schon kurze Zeit später waren Klavier und VW verschifft Richtung Amerika, und der Pianist hielt ein einjähriges Arbeitsvisum in Händen. Bis jetzt hat er in Philadelphia, Washington, Charleston, Savannah gespielt – und in Dallas, am Gedenktag zur Ermordung von John F. Kennedy. Im Januar will er die Tour in Miami fortsetzen. „Stop Killing“ hat er sie genannt. „Das steht für stop killing dreams, nature, people, humanity, religion … Für alles einfach.“ Das Motto klebt auch auf dem Piano, relativ klein, das war Martello wichtig. Ein bisschen Frieden soll es sein, aber bitte nicht zu viel davon.

Unterstützt wird er von einer Bekanntschaft vom Taksim-Platz: Die Amerikanerin Abigail James ist vor Ort, auch wenn sich Martello wie jetzt in Deutschland aufhält. Das Taksim-Klavier lagert derweil in New Orleans.

Der neue Flügel, den er in Ebersbach baut, soll dagegen eines Tages „Richtung Osten reisen“. Mit seinen 250 Kilogramm ist er fast halb so schwer und mit 800 Watt mehr als doppelt so stark wie der Vorgänger. An der Seite hat Martello einen Heizstrahler angebaut, der mit einer Gasflasche, die ebenfalls im Instrument verborgen ist, betrieben wird – der soll ihn an kalten Tagen wärmen.

In Istanbul haben sie ihm eine türkische Fahne aufs Klavier geklebt. Martello hat es zugelassen und sich später darüber geärgert. Mit dem neuen Instrument soll so etwas nicht wieder passieren. Neben den Tasten hat er deshalb zwei Flachbildschirme installiert. „Da kann ich Sachen, die zu einem Thema passen, präsentieren“, sagt er.

Kürzlich hat Greenpeace angefragt, ob er nicht für die in Russland gefangenen Öko-Aktivisten spielen wolle. Davide Martello hat geantwortet, das sei eine gute Idee. Zugesagt hat er nicht.

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