zum Hauptinhalt

Kolumne: Wissenshunger: Dicke Dinger

Vor kurzem war ich in Chile unterwegs. Dort bekommt man zu allem Avocado. Reis mit Avocado, Rind mit Avocado, Avocado mit Avocado. Als Vorpeise gibt es Palta Reina, gefüllte Avocados.

Chilenische Hot Dogs enthalten natürlich Avocadopaste – und bei McDonald’s gibt es sogar einen McAvocado. Wo man auch hinguckt, überall findet man diese Früchte. Die Avocado ist für die chilenische Gastroszene gewissermaßen, was Richard David Precht für das deutsche Fernsehen ist.

Die Avocado, könnte man also meinen, ist ein Gewinner. Aber in Wirklichkeit ist die runzelige, grüne Frucht ein einsames Überbleibsel, der traurige Junge, der beim evolutionären Ball verloren hat und ungelenk am Rand der Tanzfläche steht. Denn die Avocado hat ihr Schicksal an Partner gebunden, die längst ausgestorben sind.

Pflanzen können sich bekanntermaßen schlecht fortbewegen und nutzen häufig Tiere, um ihre Nachkommen in die Welt hinauszusenden. Weil Tiere ihre Zeit aber lieber mit der eigenen Fortpflanzung verbringen als mit der von Pflanzen, verpackt das Grünzeug seine Samen in leckeres Fruchtfleisch. Die Tiere fressen die Frucht und scheiden die Samen irgendwo anders wieder aus.

Hätte der Mensch nicht aus Gründen der Hygiene und um in Ruhe Zeitung lesen zu können die Toilette erfunden, würde er natürlich genauso Pflanzensamen verbreiten. Für Himbeeren oder Kirschen ist das leicht vorstellbar. Aber ein Avocadokern? Da wird mir schwindelig.

Tatsächlich verfolgt die Avocado allerdings die gleiche Strategie wie andere Früchte. Der Kern selbst enthält Bitterstoffe und ist für viele Tiere giftig, die Hülle ist glitschig und enthält natürliche Abführmittel. Die ganze Frucht ist darauf ausgerichtet, von riesigen Vegetariern verzehrt, verschleppt und in einem Haufen Bio-Dünger an andere Stelle verpflanzt zu werden. Sie können sich das – pardon – vorstellen, wie eine Art riesiges, umgekehrtes Zäpfchen für Mammuts.

Nur dass es eben nicht Mammuts waren, auf die es die Avocado abgesehen hatte, sondern Riesenfaultiere, Urelefanten und Glyptodonten, so etwas wie riesige Gürteltiere. Die heißen zwar anders, sind aber genauso tot wie die Mammuts. Sie alle verschwanden, wie die meisten riesenwüchsigen Tiere, gegen Ende der Eiszeit vor etwa 12 000 Jahren.

Doch ohne Riesentiere als Partner ist all der Avocado-Aufwand vergebene Liebesmühe. Der Ökologe Dan Janzen hat dafür den Begriff „ökologischer Anachronismus“ geprägt, und die Avocado ist damit nicht allein. Janzen hat zahlreiche Bäume in Costa Rica gefunden, deren riesenhafte Früchte offenbar Riesensäuger anlocken sollten. Andere Forscher vermuten, dass die Papaya das gleiche Schicksal teilt.

Es ist das Glück der Avocado, dass der Mensch sich ihrer angenommen, sie aufgepäppelt und aus einer schmalen, schrumpeligen Birne mit Alligatorhaut eine pralle Frucht gezüchtet hat.

Und warum fiel die Wahl des Menschen auf die Avocado? Was hat ihn vor tausenden Jahren dazu gebracht, ausgerechnet dieses Gemüse zu adoptieren? Möglicherweise hat der Urmann in der runzeligen, in Paaren wachsenden Frucht sich selbst erkannt. In der Sprache der Azteken jedenfalls bedeutet aguacate, das Wort für Avocado, Hoden.

Zur Startseite