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Jens Mühling lernt Türkisch: „Ev“ heißt „Haus“

Mein Türkischlehrer Ergün teilt sich seine Neuköllner Groß-WG mit sieben Freunden und einer Katze namens „Monster“.

Schon allein wegen dieser Wohnverhältnisse ist Ergün kein großer Anhänger des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der sich neulich für ein Verbot von Wohngemeinschaften aussprach, in denen unverheiratete Frauen und Männer zusammenleben. Bisher unbekannt ist, so weit ich weiß, Erdogans Haltung zu WG-Katzen.

Ein Glück für Ergün, dass er nicht in seiner Geburtsstadt Ankara wohnt, sondern in Berlin, wo Frauen, Männer und Katzen in beliebiger Anzahl und Konstellation zusammenleben können, sofern sie die passende Wohnung dafür finden. Letzteres ist nicht mehr so leicht wie früher, man hört das gelegentlich in Gesprächen. Genauer gesagt habe ich das Gefühl, dass man in Berliner Gesprächen derzeit kaum etwas anderes hört.

Im Türkischkurs zum Beispiel, wo freie Sprechübungen bisher noch etwas zäh verlaufen, trat Ergün neulich eine wahre Wortmeldungslawine los, als er die Kursteilnehmer über ihre Wohnverhältnisse sprechen ließ. Erstaunlich fließend diskutierten plötzlich alle über Quadratmeterpreise, Sanierungsbescheide, Maklergebühren und Abstandszahlungen. Als eine Teilnehmerin erzählte, sie habe vor 13 Jahren eher zufällig eine Drei-Zimmer-Wohnung im Graefekiez für damals 100 000 Mark erworben, war schnell eine ganze Reihe neuer Vokabeln im Umlauf, darunter „olaganüstü“ (Wahnsinn), „büyük ikramiye“ (Hauptgewinn) und „kiskanclik“ (Neid).

Selbst in der türkischen Bäckerei in meiner Kreuzberger Nachbarschaft wird jetzt über Immobilien diskutiert. Der Frühstücksphilosoph, der dort immer zeitungslesend den Vormittag totschlägt, verstrickte mich neulich in eine Debatte über Wohneigentum. Ich erzählte ihm, wie ich 2005 nach Berlin zurückgezogen war, nach einigen Jahren in England und Russland, zwei Ländern, in denen Wohneigentum eher die Regel als die Ausnahme war. Im Gespräch mit Berliner Freunden hatte ich damals laut darüber nachgedacht, dass es vielleicht gar nicht so dumm wäre, statt Mieten einen Wohnungskredit abzuzahlen. Meine Freunde hatten mich mit äußerst besorgten Blicken gemustert, wie einen Teenager, der laut über die möglichen Vorzüge von Heroin nachdenkt. Heute, acht Jahre später, tauschen dieselben Freunde Tipps über Wohnungskredite aus, während ich noch immer zur Miete wohne.

Der Frühstücksphilosoph hörte meine Ausführungen geduldig an. „Wir sind blind für unsere Beschränkungen“, sagte er bedächtig. „Wie Goldfische stoßen wir an die Wände unseres Aquariums.“

Ich sah ihn ratlos an. „Ist doch klar“, fuhr er fort. „Nicht unsere Schwimmrichtung müssen wir ändern, sondern das System. Die Wohnungsfrage ist erst gelöst, wenn der Kapitalismus endet.“

Danach wurde mir selbst ganz philosophisch zumute. Vielleicht, überlegte ich, ist der panische Übergang von der Miet- zur Eigentumsgesellschaft einer dieser typisch deutschen Sonderwege, eine nachgeholte Entwicklung, wie sie anderswo früher und mit weniger Aufheben vollzogen wurde. Und wie immer, wenn die Deutschen verspätet historische Entwicklungen nachholen, erschrecken sie sich selbst und ihre europäischen Nachbarn. Neulich gab ich einem dänischen Bekannten den gut gemeinten Rat, über seine selten genutzte 70-Quadratmeter-Ferienwohnung am Helmholtzplatz besser nicht zu laut zu reden. Er sah mich an, als hätte ich versucht, ihm den Reichstagsbrand in die Schuhe zu schieben.

Das Neuköllner Gewerbehaus, in dem Ergün seine Türkischkurse anbietet, wird übrigens gerade verkauft.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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