zum Hauptinhalt

Jens Mühling lernt Türkisch: „Iş“ heißt „Arbeit“

Als Student habe ich eine Menge seltsamer Jobs gemacht. Ich arbeitete als Aushilfsgespenst in einem Gruselkabinett, ich schleppte riesige Märchenschlossattrappen durch die Kulissenmagazine der Staatsoper.

Ich zog auch durch Steglitzer Bierkaschemmen und verkaufte den Tagesspiegel. Beim gruseligsten Job von allen musste ich internationalen Autohändlern das neue Limousinenmodell eines deutschen Kfz-Herstellers vorführen. Ich holte die Händler am Dresdner Flughafen ab und fuhr mit ihnen zum Lausitzring, wo sie das Auto nach Herzenslaune testen durften. Oft hatten sich die Händler im Flugzeug ein paar Gratisdrinks zu viel gegönnt, was sie unterwegs zum Lausitzring nicht davon abhielt, die Maximalgeschwindigkeit des Wagens bereits auf der Autobahn auszureizen. Ich saß kreidebleich auf dem Beifahrersitz und stammelte die technischen Details des VW Phaeton herunter, während wir mit 300 Sachen über die linke Spur bretterten.

Zu allem Übel sprach sich im Lauf der Arbeit auch noch herum, dass bei der Namensgebung des Autos etwas schiefgegangen war. Zu spät hatte man bei VW bemerkt, dass „Phaeton“ nicht nur die Bezeichnung für ein Pferdekutschenmodell des 18. Jahrhunderts ist, sondern auch der Name, den in der griechischen Mythologie der Sohn des Sonnengottes Helios trägt. Der junge Heißsporn Phaeton leiht sich eines Tages heimlich Papas Sportflitzer aus, den Sonnenwagen, mit dem er eine Karambolage kosmischen Ausmaßes baut: „Die Erde geht in Flammen auf“, hieß es später im Unfallprotokoll des Dichters Ovid, „und die ungeheure Feuersbrunst verwandelt ganze Völker zu Asche.“

Lange hielt ich diese Anekdote für den größten anzunehmenden Unfall der Produktbezeichnungsgeschichte. Inzwischen aber weiß ich, dass es noch schlimmer geht. Seit ein paar Jahren nämlich testet Amazon auf dem US-Markt ein Internetportal, das Firmen Arbeitskräfte für stupide, schlecht bezahlte Onlinejobs vermittelt: Tabellen ausfüllen, Dateien formatieren, Fotos sortieren. Ein amerikanischer Journalist hat das Portal neulich getestet, er musste sich unter anderem dreckige Dateinamen für Pornovideos ausdenken, für zehn Cent das Stück. Und ich dachte, Aushilfsgespenst sei ein komischer Job!

Was Amazon da vermittelt, ist im Grunde digitale Sklavenarbeit. Das Portal hätte man „Digital Slave“ nennen sollen, das wäre zynisch gewesen, aber ehrlich. Stattdessen heißt es: „Mechanical Turk“. Jawohl, ganz richtig: Für stumpfe Jobs, die kein normaler Mensch machen will, können sich Firmen bei Amazon einen „mechanischen Türken“ mieten.

Ähnlich wie beim Phaeton geht der Produktname auf eine Erfindung des 18. Jahrhunderts zurück, nämlich auf den sogenannten „Schachtürken“, mit dem der österreichische Ingenieur Wolfgang von Kempelen seinerzeit die Welt verblüffte. Es handelte sich um einen klobigen Wunderapparat, etwa so groß wie ein Schreibtisch, hinter dem eine Puppe stand, die wie ein orientalischer Magier kostümiert war – daher der Name. Scheinbar selbsttätig spielte dieser „Türke“ Schachpartien. Wie sich später herausstellte, wurden die Züge in Wirklichkeit von einem menschlichen Spieler ausgeführt, der sich im Inneren des Mechanismus verbarg.

Was diesen Zaubertürken mit den Amazon-Türken verbindet? Der eine spielte mit menschlicher Hilfe ein Spiel, das damals noch kein Automat beherrschte. Die anderen erledigen Arbeiten, für die Computer vorläufig noch zu blöd sind. „Artificial artificial intelligence“ nennt man das bei Amazon: „künstliche künstliche Intelligenz“.

Ich glaube, auch der dümmste Computer hätte den Amazon-Leuten sagen können, dass „Mechanical Turk“ ein unterirdischer Produktname ist.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false