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Jens Mühling lernt Türkisch: „Islak“ heißt „nass“

Weiß der durchschnittliche Berliner mit türkischem Migrationshintergrund, wer Udo Lindenberg ist?

Ich nehme es mal stark an. Weiß hingegen der durchschnittliche Berliner ohne Migrationshintergrund, wer Cem Karaca ist? Ich glaube kaum.

Auch ich hatte den Namen nie gehört, bevor ihn neulich mein Türkischlehrer erwähnte. „Benim idolum!“, sagte Ergün. „Mein Idol!“

Auf dem Lehrplan stand in jener Türkischstunde eigentlich die Bedeutung des neuen Adjektivs islak. Zur Erklärung spielte Ergün uns ein Youtube-Video vor, in dem ein Mann mit sehr tiefer Bassstimme singt: „Islak islak bakma öyle.“ Auf Deutsch: „Schau nicht so nass-nass.“ Cem Karaca will damit frei übersetzt sagen, dass er den Anblick verheulter Frauen schlecht erträgt. Klingt jetzt irgendwie sexistisch, ist aber anders gemeint – ähnlich vielleicht wie Bob Marleys „No Woman No Cry“, was ja auch gerne missverstanden wird, im Sinne von „Keine Frau, keine Tränen“, obwohl es eigentlich ein geschlechtersolidarisches Trostlied ist: „Nein, Frau, weine nicht.“

Der gealterte Mann im Youtube-Video sah tatsächlich aus wie eine Art anatolischer Zwillingsbruder von Udo Lindenberg. Die gleiche Riesensonnenbrille, die gleiche Haarmähne, der gleiche Cowboyhut, der vermutlich die gleichen kahlen Stellen verdeckt. In der Türkei, erklärte uns Ergün, sei der inzwischen verstorbene Sänger ein Megastar gewesen.

Dass ich seinen Namen trotzdem nie gehört hatte, erstaunte mich anfangs nicht – wer kennt sich schon in der türkischen Protestrockszene aus? Ins Staunen geriet ich erst, als Ergün erzählte, dass sein Idol fast ein ganzes Jahrzehnt lang in Berlin gelebt hat. 1979 hatte man Karaca vorgeworfen, mit seinen Liedern die Bevölkerung aufzuwiegeln. Aus Angst vor Verfolgung floh er nach Deutschland. Als kurz darauf in der Türkei das Militär putschte, konnte Karaca nicht mehr zurück, das neue Regime ließ seine Staatsbürgerschaft annullieren. Nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters konnte er fahren, der einst versucht hatte, die Musikerkarriere des Sohns zu verhindern, indem er bezahlte Buh-Rufer zu dessen Konzerten schickte. Ihm hatte für den jungen Cem eine Diplomatenkarriere vorgeschwebt.

Karaca aber sang auch in Deutschland weiter, nahm mehrere Platten auf, spielte vor exiltürkischem Publikum in ganz Europa. Er lernte offenbar sehr viel schneller Deutsch als ich Türkisch, denn bereits Mitte der 80er Jahre war er so weit, dass er ein komplettes Album in der Sprache seines Exillandes aufnehmen konnte, mit selbst geschriebenen deutschen Texten. Die Platte heißt „Die Kanaken“. Heute ist sie leider nur noch zu astronomischen Sammlerpreisen erhältlich. „Wenn ihr die auf dem Flohmarkt findet, seid ihr reich“, sagte Ergün.

Nur im Internet kann man ein paar der deutschen Cem-Karaca-Lieder finden. Die Texte klingen mehr nach Wolfgang Niedecken als nach Udo Lindenberg, es sind politische Protestsongs, in denen es um Gastarbeiterbiografien geht, um alte und neue Heimat, um Integrationsprobleme, um Ausländerfeindlichkeit.

An der Mauer stehn Parolen:

„Ab in den Orient-Express!“

Das ist der neuste Türkenwitz

Hast du nicht leise mitgelacht?

Erst 1987 wurde Karaca amnestiert, zusammen mit anderen Regimegegnern. Er kehrte zurück in die Türkei, wo er noch berühmter wurde, als er es schon vor seiner Flucht gewesen war. Als er 2004 starb, im Alter von 58 Jahren, dürfte mehr als eine Frau in der Türkei nass-nasse Augen gehabt haben.

Bin ich der Einzige, der es seltsam findet, dass den Namen Cem Karaca in Deutschland kaum jemand kennt?

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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