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Jens Mühling lernt Türkisch: „Karadeniz“ heißt „Schwarzes Meer“

Gibt es eigentlich noch Ostfriesenwitze?

Ich habe lange keine mehr gehört. Schon seit meiner Schulzeit nicht, glaube ich. Damals auf dem Pausenhof waren die Ostfriesen auch nicht mehr die angesagtesten Witzprotagonisten, im Gedächtnis geblieben sind mir eher Mantafahrer- und Blondinenwitze (Oberstufe) sowie aus der früheren Schulzeit Hungerbauch-, Äthiopier- und Leprakrankenwitze, die ethisch so fies waren, dass wohl nur unschuldige Kinderlein ihre Seelchen an ihnen erfreuen können.

Die Ostfriesen der Türkei sind jedenfalls die Schwarzmeeranrainer, wie ich neulich aus meinem Türkischlehrbuch erfuhr. Ich las dort einen Witz über einen Mann namens Temel, der zu Hause vorm Fernseher ein Fußballspiel zwischen Galatasaray und Trabzonspor guckt. Weil der Fernseher stark flackert, schickt er seinen Sohn aufs Dach, um an der Antenne zu drehen. Das funktioniert, aber als das Bild gerade besser wird, schießt Galatasaray ein Tor – sehr zum Ärger von Temel, der seinem Sohn zuruft: „Dreh die Antenne zurück, vorher war es besser!“

Wie unser Türkischlehrer Ergün uns erklärte, gilt der Schwarzmeeranrainer, ähnlich wie der Ostfriese, als ein bisschen unterbelichtet. Er geht simple Probleme zu kompliziert an und komplizierte Probleme zu simpel. In der Regel kommt er aus der Umgebung der Hafenstadt Trabzon, weshalb sich mancher Witz um seinen Lieblings-Fußballclub Trabzonspor dreht. Im Witz heißt der Schwarzmeeranrainer immer Temel, oft hat er einen Freund namens Dursun und ist verheiratet mit einer Frau namens Fadime – alle drei Namen sind im Norden der Türkei verbreitet. Die Witze heißen auf Türkisch „Karadeniz fikraklari“ (Schwarzmeer-Witze) oder „Temel fikraklari“ (Temel-Witze). Wer die beiden Begriffe googelt, findet Hunderttausende türkischsprachiger Treffer – und dazu ein paar deutsche, die von Temel-Fans übersetzt wurden:

– Temel und Dursun, beide große Fußballliebhaber, fragen sich, ob sie nach dem Tod auf ihren Lieblingssport verzichten müssen. Sie verabreden, dass derjenige, der früher stirbt, dem anderen verraten soll, wie es im Jenseits mit Fußball aussieht. Als Temel eines Tages dahinscheidet, hört Dursun wenig später eine geisterhafte Stimme flüstern: „Dursun, gute Nachrichten! Hier wird Fußball gespielt, und in der Mannschaftsliste für das nächste Spiel habe ich deinen Namen gesehen!“

– Temel und Dursun gehen gemeinsam zu einem Wahrsager. Als Dursun an die Tür klopft, ruft der Wahrsager von drinnen: „Wer ist da?“ Verärgert flüstert Temel Dursun zu: „Lass uns abhauen – der Kerl taugt nichts!“

– Temel findet seine Frau Fadime mit einem fremden Mann im Bett. Er zieht seine Pistole aus der Tasche, erschießt den Liebhaber und hält sich die Waffe an die eigene Schläfe. „Halt, mein liebster Temel“, ruft Fadime. „Tu es nicht!“ Temel knurrt wütend zurück: „Doch! Und danach bist du dran!“

Auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres, gegenüber der nordtürkischen Küste, liegt übrigens die ukrainische Hafenstadt Odessa, die in der russischsprachigen Welt als Mutterstadt des Humors gilt. Das war schon zu Zarenzeiten so, hauptsächlich wegen des hohen jüdischen Bevölkerungsanteils. Von dem ist inzwischen zwar nicht mehr viel übrig, trotzdem halten sich die Odessiten nach wie vor für die witzigsten Menschen der gesamten Ex-Sowjetunion. Auf eine unerklärliche Art scheint das Schwarze Meer also humorfördernd zu wirken. Umso bedauerlicher, dass es in letzter Zeit eher mit unlustigen Ereignissen wie der Annektierung der Krim in Verbindung gebracht wird. Ich finde, auf den Schulhöfen dieser Welt sollten mehr Schwarzmeerwitze erzählt werden.

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