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Jens Mühling lernt türkisch: „Sevgi“ heißt „Liebe“

Eine gewisse Skepsis war dem netten Kollegen L. anzumerken, als er mich kürzlich im Redaktionsflur ansprach.

„Und?“, fragte er. „Was macht dein Türkisch? Kommst du voran? Nichts für ungut, aber ich persönlich halte das ja für Zeitverschwendung. Sprachen kann man nur in ihrem Ursprungsland lernen, alles andere ist Quatsch. Türkisch in Berlin, das wird nichts.“

Ich finde L.’s Bedenken nicht unbegründet, möchte aber folgende Geschichte entgegenhalten, die ich gerade in China erlebt habe. Genauer gesagt in der Stadt Chongqing, wo ich einen jungen Chinesen mit einem ungewöhnlichen Namen kennenlernte.

„Danny Stone Britain. Pleased to meet you, sir.“

Verblüfft sah ich Danny an. „Woher hast du diesen Akzent? Bist du in London aufgewachsen?“ – „No, mate.“ – „Dann hast du in London studiert?“ – „Nope.“ – „Gearbeitet?“ – „Never.“ – „Du bist Halbchinese, deine Mutter ist Britin?“ – „No, sir.“ – „Ich komm nicht drauf. Erklär’s mir.“

Bereitwillig erzählte mir Danny seine Geschichte. 1998, als Zwölfjähriger, hatte er angefangen, sich für Musik zu interessieren. In Chongqing gab es damals einen Markt, auf dem man sogenannte „Zahnlücken-CDs“ kaufen konnte: aussortierte Mängelexemplare aus dem Westen, die zu reduzierten Preisen in Entwicklungsländer verschifft wurden. Die Zahnlücken-CDs hatten Macken und Kratzer, manchmal war am Rand ein Stück abgebrochen, daher ihr Name. Man konnte sie nicht komplett abspielen, immer fehlte irgendwo irgendwas, aber für einen Jungen aus Chongqing waren sie 1998 der einzige Zugang zur weiten Welt des Pop.

Eine von Dannys ersten Zahnlückenplatten war „The Great Escape“ der britischen Band Blur. Danach war nichts mehr, wie es vorher war. Danny begriff, dass England das großartigste Land der Welt sein musste. „And so I became an Anglophile.“

Im Selbststudium eignete er sich alles an, was ein Anglophiler braucht: die Sprache; einen Londoner Lower-Middle-Class-Akzent mit gepflegtem Cockney-Einschlag; ein exzentrisches Pseudonym; die Bereitschaft, für ein gutes Wortspiel über Leichen zu gehen. „The other day my girlfriend said to me: Can you do me a favour? I said: No, darling, but I can do you as a favour.“

Selbstkomponierte Witze wie diesen streute Danny mit beiläufiger Regelmäßigkeit in unser Gespräch ein, und wann immer er mir etwas über Chongqing erklären wollte, etwa die Rivalität mit der Nachbarstadt Chengdu, tat er es mit einer anglophilen Analogie: „Bit like Manchester and Liverpool, y’know?“

Besucht hatte Danny sein geliebtes England nur ein einziges Mal, als Tourist, die Reise lag noch nicht lange zurück. Als Danny am Flughafen London-Luton landete, verwirrte sein Akzent die Grenzbeamten genau so wie mich. Sie hielten ihn elf Stunden lang fest, obwohl er mit einem gültigen Touristenvisum eingereist war. Sie wollten einfach nicht glauben, dass Danny zum ersten Mal englischen Boden betrat.

„Sicher haben Sie schon als Kind Englisch gesprochen?“, fragten die Grenzer immer wieder.

„No!“, antwortete Danny. „Not a dicky bird!“

Der Ausdruck „not a dicky bird“ ist Londoner Reimslang, er bedeutet: „not a single word“. Die Grenzer warfen sich ungläubige Blicke zu. „Jetzt spricht er auch noch Cockney!“

Am Ende ließen sie ihn doch noch ins Land. Vorher musste Danny hundertmal schwören, dass er nicht vorhabe, illegal in England zu bleiben. Es war nicht die Art von Empfang, die man sich von seinem Traumland wünscht, aber Dannys Liebe überstand das missglückte Willkommen ohne den kleinsten Kratzer.

Weiß jemand, wo man in Berlin kaputte türkische CDs bekommt?

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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