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Jens Mühling.

© Mike Wolff

Kolumne: Jens Mühling lernt Türkisch: „Anıtkabir“ heißt „Mausoleum“

Wer in Berlin lebt, kann die Türkei bereisen, ohne sie zu betreten. Gemeint ist damit nicht das Klischee von Klein-Istanbul an der Spree, wo „Wochenmärkte den Zauber des Orients versprühen und Saz-Melodien aus dem Nebel der Wasserpfeifen aufsteigen“, oder wie auch immer man das in einer Tourismusbroschüre ausdrücken würde.

Gemeint ist, dass man aus den Erzählungen der hier lebenden Türken die komplette Türkei rekonstruieren könnte. Es würde eine sehr widersprüchliche Türkei dabei herauskommen, aber eben doch eine Türkei.

Ein Beispiel. Im Türkischunterricht kamen wir kürzlich, ich weiß nicht mehr warum, auf das Atatürk-Mausoleum in Ankara zu sprechen, die Begräbnisstätte des Staatsgründers und Übervaters der modernen Türkei. Unser Türkischlehrer Ergün, der in Ankara aufgewachsen ist, erzählte uns von den unfreiwilligen Mausoleumsbesuchen seiner Kindheit – als Schüler war er bei Klassenausflügen wiederholt durch die heiligen Hallen geführt worden. Er erinnerte sich an diese Pflichtveranstaltungen mit wenig Begeisterung. Auf meiner inneren Landkarte der Türkei verzeichnete ich das Bild eines gelangweilten Jungen, der mit halbem Ohr den patriotischen Ausführungen seines schnauzbärtigen Klassenlehrers folgt.

„Und Atatürks Leiche?“, fragte ich.

Ergün verstand nicht gleich, worauf ich hinauswollte. Das Wort „Mausoleum“ hatte mich an die Begräbnisstätten anderer Landesväter denken lassen: Ich sah den einbalsamierten Lenin vor mir, wie er im schwarz-roten Interieur seines Moskauer Marmorgrabs ruht, ich sah den Leichnam Mao Zedongs, der auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens in einem grünlichen Formaldehyd-Aquarium schwimmt.

„Na, sein Körper. Werden da Atatürks Überreste ausgestellt?“

Ergün war sich nicht sicher. In seinen Kindheitserinnerungen kam kein Leichnam vor, aber er räumte ein, dass er bei den Mausoleumsbesuchen nie ganz bei der Sache gewesen war. Vielleicht, mutmaßte er, werde der mumifizierte Atatürk nur ausgewählten Gästen gezeigt. Vielleicht sei er inzwischen längst beigesetzt worden. Vielleicht hatte man ihn auch von Anfang an begraben, und das Mausoleum war nicht als Leichenhalle, sondern als Grabstein gedacht.

Die Versuchung, einfach bei Wikipedia nachzusehen, war groß. Doch ich beschloss, mich dem Rätsel anders zu nähern: Ich fragte alle türkischstämmigen Berliner in meiner Kreuzberger Nachbarschaft.

„Da gibt es keine Leiche“, sagte der kurdische Kioskverkäufer aus der Yorckstraße. „Atatürk liegt unter der Erde. Zum Glück.“

„Doch, doch“, versicherte mir sein Istanbuler Konkurrent vom Mehringdamm. „Er liegt in einem Sarg aus Glas, das habe ich im Fernsehen gesehen.“

„Quatsch“, meinte die Bäckerin aus der Kreuzbergstraße. „Atatürk war ein Mann der Vernunft, er hätte nie zugelassen, dass man ihn einbalsamiert wie einen Pharao.“ Sie war sich ihrer Sache sehr sicher, und meinen Einwand, dass sich auch Lenin zu Lebzeiten stets gegen den „Kult der großen Männer“ ausgesprochen hatte, ließ sie nicht gelten.

Ein Taxifahrer wiederum war überzeugt, dass Atatürk überhaupt nie im Mausoleum gelegen hat, weder über noch unter der Erde. „Sie haben ihn heimlich in eine Tiefkühltruhe gesteckt, weil sie hoffen, dass man ihn irgendwann wieder auftauen kann.“

Am Ende entschied ich, nicht bei Wikipedia nachzusehen. Vielleicht fahre ich irgendwann einmal nach Ankara und löse das Rätsel vor Ort. Einstweilen aber werde ich in meinem Kopf ein Mausoleum errichten, in dem Atatürk in allen Varianten Platz findet.

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