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Jens Mühling.

© Mike Wolff

Kolumne: Jens Mühling lernt Türkisch: „Ermeni“ heißt „Armenier“

In Moskau lernte ich einmal einen armenischen Taxifahrer kennen, einen älteren Mann namens David. Während David mich durch den dichten Moskauer Nachmittagsverkehr steuerte, erzählte er mir die Geschichte seiner Großmutter. Sie war in einem armenischen Dorf in Anatolien aufgewachsen, auf dem Gebiet der heutigen Türkei.

Als in einer Herbstnacht des Jahres 1915 plötzlich ein lautes Klopfen an der Tür zu hören war, zog Davids Großmutter geistesgegenwärtig ihre Schuhe an, die direkt neben dem Bett standen. Ihr Bruder, der ein Bett weiter schlief, lief barfuß aus dem Haus. Das war sein großes Unglück.

Draußen vor der Tür wartete ein türkischer Armeetrupp, der die armenischen Dorfbewohner auf Wanderschaft ins Ungewisse schickte. Davids Großmutter und ihr Bruder liefen gemeinsam los, die eine mit Schuhen an den Füßen, der andere ohne. Sie liefen und liefen, gemeinsam mit tausenden anderer Armenier, es war einer jener großen Todesmärsche gen Osten, die zusammen mit den anderen Repressionsmaßnahmen eine halbe bis anderthalb Millionen Menschen das Leben kosteten, genau kennt die Zahlen bis heute niemand.

Die beiden Geschwister hielten sich dicht beieinander. Nach den ersten Tagen bekam der Bruder der Großmutter die ersten Blasen an den Füßen. Aus den Blasen wurden blutende Wunden, aus den Wunden eiterndes Fleisch. Irgendwann schrie der Bruder bei jedem Schritt, bis er eines Tages plötzlich lautlos zusammenbrach und am Wegrand liegen blieb. Die Großmutter lief in ihren Schuhen alleine weiter.

„Danach hatte sie ihr Leben lang diesen Schuhtick“, erzählte mir David, ihr Enkel, der immer weiter gesprochen hatte, obwohl wir unser Ziel längst erreicht hatten, das Taxi stand mit laufendem Motor am Straßenrand. „Noch als wir längst in Moskau lebten, kontrollierte sie jede Nacht, ob alle in der Familie ihre Schuhe neben dem Bett stehen haben. Falls wir plötzlich wieder abgeholt werden. Sie tat das bis zu dem Tag, an dem sie starb, es war ihr einfach nicht auszureden.“

Die Geschichte von Davids Großmutter geht mir dieser Tage oft durch den Kopf. Fast 100 Jahre ist das nun her, so lange liegt der Völkermord zurück, über den Fatih Akin seinen Film „The Cut“ gedreht hat, seit dieser Woche läuft er im Kino.

„Wer erinnert sich schon noch an die Armenier?“, soll Hitler gesagt haben, bevor er sich anschickte, die Juden aus dem Gedächtnis Europas zu streichen. Bekanntlich ging der Plan nur zur Hälfte auf – Millionen von Juden wurden ermordet, aber vergessen hat Europa ihren Tod keineswegs. Es wäre den Armeniern zu wünschen, dass Hitler auch im Hinblick auf sie nicht recht behält, dass Europa sich an ihr Schicksal erinnert. Die Geschichte von Nazaret, dem stummen Wanderer, die Fatih Akin in „The Cut“ erzählt, wird hoffentlich ein paar Menschen im Gedächtnis bleiben, so wie mir die Geschichte von Davids Großmutter im Gedächtnis geblieben ist.

Bevor wir uns verabschiedeten, erzählte David mir vom Tod seiner Großmutter. Sie starb friedlich, eines Morgens war sie, nachdem sie abends zuvor noch ihren üblichen Schuhkontrollgang durch die Schlafzimmer der Familie getan hatte, einfach nicht mehr aufgewacht.

Der Familie war das nächtliche Ritual zu diesem Zeitpunkt so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie es über den Tod der Großmutter hinaus beibehielt. „Wir stellten einfach weiter jede Nacht unsere Schuhe neben die Betten und dachten dabei ein paar Sekunden an Großmutter“, sagte David. Seine eigenen Kinder, fügte er hinzu, seien inzwischen längst groß und aus dem Haus. „Aber selbst sie schlafen bis heute mit den Schuhen neben dem Bett.“

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