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Kolumne: Jens Mühling lernt Türkisch: „Komsu“ heißt „Nachbar“

Neulich ist mir etwas Bizarres passiert. Ich stand nachts auf dem Balkon und rauchte eine Zigarette, wie ich es oft tue. Mein Balkon liegt im vierten Stock, Vorderhaus.

Neulich ist mir etwas Bizarres passiert. Ich stand nachts auf dem Balkon und rauchte eine Zigarette, wie ich es oft tue. Mein Balkon liegt im vierten Stock, Vorderhaus. Unter mir, auf der anderen Straßenseite, sah ich ein Paar mit Kinderwagen den Bürgersteig entlanglaufen. Die Eltern guckten unverwandt nach oben, in meine Richtung. Spontan winkte ich ihnen zu. Sie reagierten nicht, sahen mich aber weiter an. Dann blieben sie vor dem Haus gegenüber stehen, öffneten die Tür und verschwanden im Inneren. Aha, dachte ich, offenbar Nachbarn. Die beiden fielen mir zum ersten Mal auf.

Kurz darauf ging im dritten Stock das Licht an, genau gegenüber meiner Wohnung, nur ein Stockwerk tiefer. Der Mann, den ich auf dem Bürgersteig gesehen hatte, riss ein Fenster auf. Er sah mich an und brüllte quer über die Straße: „Ey, du Sch***typ! Was ist eigentlich dein Problem?“

Ratlos sah ich ihn an.

„Ich hab’s satt!“, brüllte er weiter. „Seit Wochen starrst du mir in die Bude! Was soll der Sch***?“

„Aber ... ich ...“, stammelte ich, „ich stehe hier nur und rauche.“

„Tu nicht so! Jeden Sch***abend stehst du da und glotzt mich an! Und immer, wenn ich gucke, drehst du dich sofort weg!“

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. „Ich sehe dich zum ersten Mal“, sagte ich wahrheitsgemäß.

„Spiel hier nicht das Unschuldslamm, du A***! Sobald ich dich auf der Straße treffe, mach ich dich vor allen Leuten zur Sau!“

Dann zog er den Kopf zurück und machte Anstalten, das Fenster zu schließen. Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. „Schönen Abend“, sagte ich.

Er riss das Fenster noch einmal weit auf. „F*** dich!“, schrie er.

Ich war ziemlich verstört nach dieser Begegnung. Ich gebe zu, dass ich wirklich oft da oben auf dem Balkon stehe, und ich will nicht ausschließen, dass ich beim Rauchen manchmal auf die gegenüberliegende Hausfront starre, ohne es zu merken. Aber ich schwöre: Bewusst wahrgenommen habe ich diesen Nachbarn zum ersten Mal, als er das Fenster aufriss und mich anschrie.

Was das jetzt mit Türkischlernen zu tun hat? Im Grunde nichts. Und gleichzeitig sehr viel.

Ein Freund, dem ich die Geschichte erzählte, fragte mich kurz danach: „Was ist eigentlich aus diesem Türken geworden?“

„Welcher Türke?“ fragte ich.

„Na, der Typ, der dich so angebrüllt hat.“

In diesem Moment begriff ich erst, warum so viele Menschen, denen ich die Geschichte erzähle, mich sofort fragen, wie denn der Mann ausgesehen habe. Offenbar halten ihn alle intuitiv für einen Migranten. Was er nicht ist, jedenfalls ist er blond und flucht akzentfrei. Überhaupt wohnen in meinem Viertel nur sehr wenige Migranten. Es ist ein bürgerlicher Kiez in Kreuzberg 61, voller Kleinfamilien und Tagesspiegel-Abonnenten. Lieber Herr Nachbar, falls Sie das hier zufällig lesen: Ich will Ihnen wirklich nichts Böses. Mein Name steht an der Klingel, kommen Sie vorbei, lassen Sie uns reden.

Türken trifft man in meinem Kiez eigentlich nur in den Erdgeschossen, wo sie Bäckereien, Gemüseläden und Kioske betreiben. Unten arbeiten die Türken, oben wohnen die Deutschen. Wenn sich aber einer von oben wie einer von ganz unten benimmt, denken alle automatisch: Türke. Manchmal mag ich Berlin nicht.

Es ist ein bisschen wie in dem Witz mit den zwei Schwalben. „Ich glaube, es gibt Regen“, sagt eine. „Wieso?“, fragt die andere. Antwort: „Weil uns die Menschen so anstarren.“

Ich denke darüber nach, diesen Witz in großen Lettern auf ein Bettlaken zu schreiben und an meinen Balkon zu hängen. Für den Nachbarn von gegenüber. Und für alle anderen.

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