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Kolumne: Jens Mühling lernt Türkisch: „Kraliçe“ heißt „Königin“

Die erste Fremdsprache, die ich in der Schule lernte, war Latein. In meinem Lehrbuch gab es damals zwei Hauptfiguren namens Gaius und Syrus.

Um die kreisten meine ersten lateinischen Sätze:

Gaius dominus est. Gaius imperat. Syrus servus est. Syrus paret. Labora saepe non placet.

Gaius ist der Herr. Gaius befiehlt. Syrus ist der Sklave. Syrus gehorcht. Die Arbeit erfreut oft nicht.

So begriff ich früh, dass das Leben im alten Rom seine Schattenseiten hatte. Es ist schön, wenn Sprachlehrbücher mehr über ein Land vermitteln als nur Grammatik und Syntax.

Meine nächste Fremdsprache war Englisch. Diesmal waren die Hauptfiguren meines Lehrbuchs zwei Londoner Jungs namens Steve und Paul, die einander im Lauf der ersten Lektionen unzählbare Male innig versicherten, wie sehr sie beide der Band Queen verfallen seien:

Isn’t it great, mate?

Yes, mate, it’s great!

Als Freddie-Mercury-Fan, der ich damals war, wusste ich natürlich, dass der Bandname „Queen“ homoerotische Konnotationen hat. Steve und Paul schienen wirklich ein ganz anderes Verhältnis zueinander zu haben als Gaius und Syrus.

Dann lernte ich Französisch. Hier weiß ich über das Lehrbuch nur noch zu sagen, dass die Hauptfiguren eine Madame und ein Monsieur waren, deren Nachnamen ich leider vergessen habe. Ich erinnere mich aber noch gut daran, wie seltsam ich es fand, dass Madame X und Monsieur Y einander zwar Lektion um Lektion immer näher kamen, jedoch bis zum Ende des Buchs ihre Vornamen nicht preisgaben. Frankreich machte auf mich einen irgendwie steifen Eindruck.

All diese Schulzeiterinnerungen fielen mir neulich ein, als eine Bekannte mir eine Geschichte erzählte, die sie in den späten 90er Jahren in Washington erlebt hat. Kristina, so ihr Name, war damals zu Gast an der University of Georgetown, wo sie eines Tages eine amerikanische Germanistik-Studentin kennenlernte. Als Kristina sich vorstellte, fragte die Studentin: „Kristina – ist das ein typischer deutscher Name?“

„Oh ja“, antwortete Kristina.

„Merkwürdig“, sagte die Studentin. „Er klingt gar nicht deutsch. Die Deutschen in meinen Lehrbüchern hatten ganz andere Namen.“

„Zum Beispiel?“

„Einer hieß Kemal. Ein anderer Ahmet. Und die Frauen hießen Sibel und Ayşe.“

Erstaunt ließ sich Kristina die Lehrbücher der Studentin zeigen. Tatsächlich: Die Hauptfiguren trugen türkische Namen. Außerdem trugen sie Kopftücher (die Frauen) und Schnauzbärte (die Männer). Gelegentlich begegneten ihnen im Lehrbuch auffällig anders gekleidete Menschen mit auffällig anderen Namen, nämlich deutschen, aber sehr altertümlichen: Helmut, Hans, Helene.

Als Kristina sich die Bücher genauer ansah, stellte sie fest, dass sie nicht amerikanischer Herkunft waren, sondern aus Deutschland stammten, genauer gesagt: aus Westdeutschland. Es waren ausgediente Lehrbücher, mit denen in den 60er Jahren türkische Gastarbeiter Deutsch gelernt hatten. Auf welchen verworrenen Wegen diese Bücher im Germanistik-Institut der University of Georgetown/Washington landeten, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben.

Das Lehrbuch, mit dem ich derzeit Türkisch lerne, beginnt übrigens mit einem Dialog zwischen zwei Frauen namens Judy und Marianne.

Merhaba!, sagt Judy.

Merhaba!, sagt Marianne.

Nereden geliyorsunuz?, fragt Judy: Woher kommen Sie?

Ispanya’dan geliyorum!, antwortet Marianne: Ich komme aus Spanien.

Woher Judy kommt, verrät sie nicht. Sie sagt nur, dass sie als Lehrerin arbeitet.

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