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Jens Mühling.

© Mike Wolff

Kolumne: Jens Mühling lernt Türkisch: „Yapıştırmak“ heißt „ankleben“

Alles klebt. Regennasse Haarsträhnen an der Stirn, vergammeltes Laub an den Schuhsohlen, das obere morgenmüde Augenlid am unteren.

Im Türkischkurs scheinen wir gerade auch festzukleben. Der Fortschritt ist schleppend, nur mühsam kommen wir vom Fleck. Ich schiebe es auf die feuchtkalte Winterluft, die mir das Hirn verklebt.

Apropos kleben: Vor einiger Zeit ging es an dieser Stelle schon einmal um das grammatikalische Prinzip des „Agglutinierens“, zu Deutsch „Anklebens“. Für alle, die das jetzt vielleicht witterungsbedingt nicht mehr auf Anhieb präsent haben: Nach diesem Prinzip werden im Türkischen Wörter gebildet. Sehr lange Wörter. Man kann ganze Sätze in einem einzigen Wort ausdrücken, indem man lauter grammatikalische Zusatzsilben dranklebt. Als Beispiel hatte ich hier das Wort „öpüştürüldüler“ angeführt, ein Verb, das durch fünffache Agglutinierung Folgendes bedeutet: „Sie wurden veranlasst, sich gegenseitig zu küssen.“

Mir kam das damals vergleichsweise komplex vor. Es hat sich seitdem aber ein Leser bei mir gemeldet, der mich eines Besseren belehrte. In der Türkei scheint nämlich eine Art historischer Wettstreit um das grammatikalisch verklebteste Wort zu herrschen. Wie ich erfahren habe, galt dabei eine Zeit lang folgender Ausdruck als führend:

„Çekoslovakyalılaştıramadıklarımızdanmışsınız.“

45 Buchstaben, die in etwa dies bedeuten: „Es heißt, dass ihr zu jenen gehört, die wir nicht zu Tschechoslowaken machen konnten.“

Nicht einfach, sich eine Situation vorzustellen, in der dieser Satz fallen könnte. Das Wort gilt inzwischen auch als quasi disqualifiziert, weil man, seit es die Tschechoslowakei nicht mehr gibt, auch niemanden mehr zum Tschechoslowaken machen kann, falls man das überhaupt je konnte. Heute kann man höchstens noch jemanden zum Tschechen oder zum Slowaken machen, aber beides würde das Klebewort verkürzen.

Als Ersatz wurde zeitweise die Formel „Avrupalılaştıramadıklarımızdanmışsınız“ ins Spiel gebracht: „Es heißt, dass ihr zu jenen gehört, die wir nicht zu Europäern machen konnten.“ Aber die bekam einen unangenehmen Beiklang, als das Gezerre um die EU-Mitgliedschaft der Türkei losging.

Inzwischen gilt stattdessen folgender Ausdruck als führend im Klebewettbewerb:

„Muvaffakiyetsizleştiricileştiriveremeyebileceklerimizdenmişsinizcesineyken.“

74 Buchstaben, die, wie ich mir habe sagen lassen, ohne Zusammenhang auch für Türken völlig unverständlich sind. Sie sind Teil einer kleinen Geschichte, die die Urheber des Wortes eigens konstruieren mussten, um ihre grammatikalische Kleberei plausibel zu machen.

Die Geschichte spielt in einer fiktiven Hochschule, deren bösartiges Anliegen es ist, Lehrer auszubilden, die später ihre Schüler zu erfolglosen Versagern erziehen sollen. Als einer der Lehrer gegen diesen Plan aufbegehrt, wird er zum Rektor zitiert, der ihn wütend zusammenstaucht. Kleinlaut entschuldigt sich der aufmüpfige Lehrer. Dieser plötzliche Sinneswandel passt dem Rektor allerdings auch nicht. Er erwidert dem Lehrer, dieser habe achtbarer gewirkt, „als Sie noch zu jenen zu gehören schienen, die wir nicht leicht zu Schöpfern von Erfolglosen machen können“. Dieser ganze seltsame Halbsatz lässt sich im Türkischen in 74 aneinandergeklebte Buchstaben pressen!

Ich wünsche mir eine Türkischsprachschule, deren Lehrer zu jenen gehören sollen, die ihre Schüler leicht zu Meistern des Aneinanderklebens machen können.

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