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Tagesspiegel-Kolumnistin Katja Demirci.

© Mike Wolff

Katja Reimann macht sich locker: Die Wand in meinem Kopf

Der Weg zu meinem Kreuzberger Yogastudio führt vorbei an einem Club. Es ist ein Backsteinhaus, eher düster, manchmal brummelt drinnen ein Bass. Wenn ich daran vorbeiradle, stehen Menschen davor und überlegen, was jetzt wohl noch geht. Es ist dann Samstagfrüh, gegen halb elf.

Die Taxifahrer sind Hyänen. Sie lauern am Straßenrand, beobachten jeden unsicheren Schritt der blassen, bunten Gestalten. Auf dem Radweg liegen Scherbenhäufchen. Gewöhnlich erfordern diese paar Meter am Backsteinhaus vorbei meine volle Konzentration. Kürzlich aber streifte mein Blick die schmale Gestalt eines rotäugigen jungen Mannes. Seine Hände umfassten eine Flasche Bier. Ein bisschen sah es so aus, als klammerte er sich daran fest. In diesem etwas diesigen Berliner Morgen gaben ihm 0,5 Liter Sternburg Halt. Noch vor zwei Jahren hätte ich selber zu denen gehört, die samstags wie verschwitzte Ratten aus den Löchern im Backsteinhaus kriechen, kleinäugig in den Morgendunst blinzeln. Luft! Licht! Schön war’s. Meine Freitagabende sind ruhiger geworden. Ich verzichte auf ein drittes Bier, weil ich weiß, dass ein „Nach unten schauender Hund“ mit Kater nicht funktioniert. Ich frühstücke samtags wenig, ein Toast, manchmal ein bisschen Müsli. Gelegentlich erwische ich mich sogar dabei, dass ich morgens Tee trinke statt Kaffee. Säure und so. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die von Natur aus so gelenkig sind, dass sie ohne Probleme in einer stehenden Vorbeuge ihre Stirn auf die Knie legen können. Und, nein, ich mache keinen Kopfstand, denn ich habe die irrationale Angst, dass mein Genick dabei bricht. Ich betreibe Yoga nicht ohne Anerkennung für die atemberaubenden Verrenkungen meiner Mit-Yogis, doch ehrgeizlos. Insofern bin ich erfolgreich, denn Ehrgeiz und Yoga, das geht natürlich gar nicht. Soll auch gar nicht. Kann ja auch gar nicht. Wie denn bitte? Ruhe bewahren. Sagt mein Lehrer. Mein Wunsch, als ich vor zwei Jahren damit begann, war auch nicht absolute Verbiegsamkeit, sondern, eher unspektakulär, weniger Rückenschmerzen. Manchmal klappt das, manchmal nicht. An jenem Samstag war ich zuversichtlich. Wir sammelten unseren Atem und schickten ihn mal hierhin, mal dorthin. Mir wurde warm und wärmer, und als wir uns nach etwa einer Stunde in Trikonasana, das ausgestreckte, stehende Dreieck biegen sollten, tat ich es panthergleich. Füße leicht grätschen, rechter Fuß vor, rechte Hand zur Innenseite vom rechten Fuß, Oberkörper in Richtung Decke drehen, linken Arm nach oben strecken. Es folgt stets das gleiche Kommando: „Lehnt euch mit dem Rücken an eine imaginäre Wand.“ Ich mag diese Vorstellung sehr. Imaginäre Wände können hilfreich sein. So lehnte ich mich an und schloss leicht schwankend die Augen. Dachte an nichts und dann für fünf lange Atemzüge an den jungen Mann und sein Pils. Der Weg von meinem Kreuzberger Yogastudio nach Hause führt an einem Hostel vorbei. Davor ist eine Bushaltestelle, und als ich an diesem Samstag kurz vor ein Uhr mittags vorbeiradelte, saßen dort zwei schmale, rotäugige junge Männer, das heißt, einer saß. Es wäre falsch zu sagen: Der andere stand. Doch war es eindeutig er, der versuchte, für ihre weitere Unternehmung eine Richtung vorzugeben. Sie führte ihn gefährlich nah an meinen Radweg. Mit der Achtsamkeit eines Yogis umkurvte ich die Scherbenhäufchen, ein Taxi und den jungen Mann, der die Hände etwa so vor sich hielt, als liefe er im Dunkeln. Mit einem kurzen Blick zurück baute ich ihm eine imaginäre Wand.

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