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Tagesspiegel-Kolumnistin Katja Demirci.

© Mike Wolff

Katja Reimann macht sich locker: Zeitlos schweben in Kakasana

Meine Uhr geht vor. Nicht ein oder zwei Minuten, sondern zehn, zwanzig, fünfundvierzig. Je länger der Tag dauert, desto schneller tickt sie.

Und ich renne meiner Zeit hinterher, fange sie ein, halte sie an. Dann geht das Ganze von vorne los.

Wenn ich nur wüsste, was diese Uhr mir sagen möchte mit dem beschleunigten Gang. Es ist eine zarte, goldene Uhr mit einem wunderschönen Armband und ohne Batterie, man muss sie noch aufziehen. Geerbt habe ich sie von meiner Großmutter, einer Frau, die zwar für ihre Sturheit, weniger aber für rasende Schnelligkeit bekannt war.

Mein Leben mit der vorgehenden Uhr dauert mittlerweile und lässt sich in zwei Phasen einteilen. Die erste war von einem sehr nahe liegenden Effekt gekennzeichnet: Ich fing an, mich zu beeilen. Sie hielt so lange an, bis ich sicher war, dass subjektive und objektive Zeit tatsächlich zwei verschiedene Angelegenheiten sind. Jetzt mache ich mir einen Spaß daraus, beim Blick auf meine Uhr zu raten, wie spät es wohl tatsächlich ist. Und freue mich, wenn ich daneben liege und unerwartet eine halbe Stunde mehr Zeit habe. Ein Selbstbetrug für Dumme. Aber schön.

Interessant ist, dass ich es auch ohne ganz korrekte Zeitangabe meistens schaffe, pünktlich zu sein. Und noch dazu entspannter. Es irritiert mich nicht mehr, dass ich am späten Nachmittag schon in einer ganz anderen Zeitzone unterwegs bin als die Menschen rundherum. Ich balanciere, ohne zu wackeln, über Sekunden und Minuten durch die Stunden, die ja nicht kürzer oder länger sind als bei anderen. Nur gehören sie ganz mir.

So also, dachte ich neulich, erreicht man Balance im Leben. Nicht aus dem Takt und trotzdem eingependelt. Frei nach Voltaire, der angeblich mal gesagt hat: „Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.“ Wenn es so einfach wäre.

Die Wahrheit ist doch: Glück und Unglück sind ungerecht verteilt im Leben. Und nur weil ein Tag mit Sicherheit 24 Stunden hat, heißt es lange nicht, dass jedem ein angemessen großes Kontingent an Wochen und Jahren zur Verfügung steht. Balance ist eine Lüge, denn eines wiegt immer schwerer: das Erlebte oder all das, was noch kommen könnte.

Was sage ich jemandem, dem die Zeit davonläuft? Es ist die größte Ungerechtigkeit.

Könnte ich nur all die Minuten, die ich vorauseilend unterwegs bin, sammeln und verschenken. Es kämen auf die Schnelle kaum Monate zusammen, das nicht. Aber vielleicht ein ziemlich schöner Tag.

Als meine Großmutter vor Jahren beschloss zu sterben, legte sie sich ins Bett, schloss die Augen und sagte: „Lasst mich alle in Ruhe.“ Zwei Tage später war sie tot. Ihr war die Zeit ohne meinen Großvater, der fast auf den Tag genau zwei Jahre zuvor gestorben war, recht lang geworden. So lang, dass sie, dickköpfig wie sie war, zu der Überzeugung gelangte, den Prozess des langsamen Aus-der-Welt-Tretens beschleunigen zu müssen. Dass sie dies nicht viel früher schaffen konnte, ärgerte sie fürchterlich.

Ich habe mich nun erkundigt, wo ich die Uhr reparieren lassen kann. Denn auf die Dauer ist das schließlich kein Zustand.

Im Yoga ist eine meiner liebsten Balanceübungen die Krähe, Kakasana. Man hockt sich auf den Boden, legt die Handflächen flach auf die Matte, beugt die Ellenbogen und setzt die Knie nacheinander auf die Oberarme. Dann beugt man sich nach vorne, bis die Füße wie von selbst vom Boden abheben.

Besonders ausdauernd bin ich nicht in der Krähe, längstenfalls halte ich die Position für eine halbe Minute. So ungefähr.

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