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Erinnerungen an die Gegenwart: Being Pirlo

Einen Tag vor dem großen Finale war ich Pirlo. Zwei Minuten!

Ich wollte gerade durch die Charlottenstraße zur Behrenstraße laufen, vorbei am Hotel Regent, als sich 20 Italiener auf mich stürzten: „PIRLO!! VAI A VENIRE A NOI!! PIRLO, ANDREA!! FOTO!! FOTO!!“

Eigentlich kann ich kein Italienisch, eigentlich bin ich auch gar nicht Pirlo, ich antwortete: „Non sono Pirlo.“ Oder so ähnlich. Es näherten sich weitere 200 Juve-Fans, ich stand genau vor dem Hotel, in dem Juventus Turin abgestiegen war.

Mein Gott, früher bin ich immer mit Torsten Frings verwechselt worden, jetzt Pirlo, ich rannte weg. In der Behrenstraße lief ich in eines dieser neuen vornehmen Restaurants und versteckte mich auf der Toilette. Ich schaute in den Spiegel. Blauer italienischer Anzug, (ich musste zu einem Empfang), total unrasiert, (ich hatte keine Zeit), aber reicht das schon, um Pirlo zu sein?

Ich googelte Pirlo und dachte an den Film „Being John Malkovich“. Pirlo ist zehn Jahre jünger als ich, sieht aber zehn Jahre älter aus, nach 90 Minuten Spielzeit sieht er sogar aus wie das Leiden Christi. Eigentlich wäre ich lieber jemand vom FC Barcelona. Iniesta bewundere ich, aber Iniesta hat wenig Haare. Messi vergöttere ich, aber Messi ist zu klein. Piqué? Being Piqué, da hätte man auch automatisch Zugang zu Shakira, aber Piqué ist ein ganz anderer Typ als ich.

In „Being John Malkovich“ gibt es diese kleine Tür hinter einem Aktenschrank. Der Angestellte Craig Schwartz macht die Tür auf und entdeckt einen Tunnel, der ihn direkt in den Kopf des Schauspielers Malkovich einsaugt. Craig gewinnt Macht über Malkovich, es entstehen ihm zahlreiche Vorteile, auch bei Frauen.

Ich überlegte, wieder raus und zum Juve-Hotel zu laufen, immerhin hatte ich auch noch keine Karte für das Finale.

Bei meiner Veranstaltung (die Wochenzeitung „Die Zeit“ lud zu einem Podium über Fußball ein) behauptete der Trainer Thomas Tuchel im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo, dass ich keine Ähnlichkeit mit Pirlo hätte, Pirlo sähe besser aus (darüber wurde tatsächlich debattiert). Ich war natürlich beleidigt und dachte insgeheim, dass Tuchel aussieht wie Thomas Schaaf.

Nachts lag ich wach und googelte weiter. Es war Pirlo, der das deutsche Sommermärchen in der 118. Minute des WM-Halbfinales 2006 beendete. Es war Pirlo, der mit einem genialen Pass den Torschützen Grosso freispielte. In Italien nennen sie Pirlo „l’architetto“, den „Architekten“. „Pirlo ist mehr als die halbe Nationalelf“, schrieb die „Gazzetta dello Sport“. „Die gemächliche Eleganz Pirlos scheint der Beschleunigung des Fußballs zu trotzen“, schrieb die „FAZ“.

Ich träumte.

Ich flüchtete nicht auf die Toilette des Restaurants, sondern ebnete mir einen Weg durch die frenetischen Juve-Anhänger zur Rezeption des Regents.

„Meinen Schlüssel, per favore!“

„Selbstverständlich, Herr Pirlo. Buananotte.“

Oben im Zimmer höre ich Pirlo duschen und lege mich in sein Bett.

Als Pirlo zu Bett geht und sich neben mich legt, sage ich: „Ich bin auch Pirlo, was machen wir jetzt?“

„Bene“, sagt Pirlo, „dann spiel’ du das Finale.“

„Mach’ ich“, antworte ich, „dann brauche ich auch keine Karte.“

„Mille Grazie“, sagt Pirlo. „Ich werde bei Nacht durch die Straßen Berlins schlendern. Endlich frei. Endlich leben.“ Dann geht er.

Im Finale laufe ich nach zwei Minuten zu Messi und sage: „Mensch Messi, ich bin in Wirklichkeit nicht Pirlo, was mache ich denn jetzt?“

Messi lächelt. Dann schlägt er den ersten Traumpass.

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