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Erinnerungen an die Gegenwart: Fußball, ein Lügenmärchen

Auf Fußball-Weltmeisterschaften freute ich mich immer wie ein Kind. Meine erste, fieberhaft ersehnte WM begann am 1.

Auf Fußball-Weltmeisterschaften freute ich mich immer wie ein Kind. Meine erste, fieberhaft ersehnte WM begann am 1. Juni 1978 in Argentinien. Nachmittags ging ich noch mit meinem Vater schwimmen, am Abend sahen wir beide das Eröffnungsspiel Deutschland gegen Polen. Sepp Maier stand im Tor, Rummenigge stürmte, es endete 0:0. Und ich sehe noch diesen Krankl, wie er am 21. Juni in Córdoba jubelnd abdreht, nachdem er das 3:2 für Österreich gegen die Deutschen geschossen hatte; ich sehe den argentinischen Torschützenkönig Mario Kempes im Finale, wie er mit einem Sololauf in der Verlängerung das vorentscheidende Tor für Argentinien erzielte.

Und nach allem, was ich heute über diese WM in Argentinien weiß, hat sie mit den Jahren und dem Wissen von Diktatur, Folter und Verbrechen die helle, kindliche Freude von damals verdunkelt, immer mehr verfärbt. Jetzt schiebt sich vor die hellen Bilder nur noch das Blut von Kempes, das ihm im Finale aus der Nase über das blau-weiß gestreifte Trikot lief.

Fast 40 Jahre später sind die Fußballweltmeisterschaften schon blutverfärbt und verdunkelt, bevor sie überhaupt begonnen haben. Was erzähle ich meinem Sohn, wenn er 2022, vielleicht auch schon 2018, sein erstes Turnier mit so heller Freude erwarten wird, wie ich es damals erwartet habe?

Erzähle ich ihm, dass es einmal eine FIFA-Ethikkommission gegeben hat, die befunden hatte, dass es ethisch gegen ein Turnier in Russland und Katar nichts einzuwenden gab? Dass es zwar einen 360-seitigen Abschlussbericht eines Chefermittlers gab, der aber von der FIFA geheim gehalten wurde? Korruption, Bestechung, Menschenrechtsverletzung, Zwangsarbeiter, Tote?

Vermutlich muss man als Vater die Wirklichkeit 2018 und 2022 umlügen, um die hellen WM-Freuden des Sohnes zu bewahren. So wie in „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni, in diesem Film, in dem der Vater für seinen Sohn das Konzentrationslager in ein Spiel verwandelt, den Tod in eine Fiktion umdichtet, weil der Sohn den kindlichen Glauben an die Menschen und an die Welt behalten soll.

Ich werde also meinem Sohn erzählen, dass die WM absurderweise im Winter stattfindet, weil ich sie ihm zu Weihnachten schenken wollte. Ich werde ihm erzählen, dass es natürlich auch im Sommer in Katar einen Tick zu heiß gewesen wäre und die FIFA-Funktionäre bei der Vergabe der WM so mit dem Zählen ihrer Dollarscheine beschäftigt waren, dass sie die Temperaturen ganz aus den Augen verloren hatten. Nun sei aber alles gut.

Die schätzungsweise 4000 Tieflohnarbeiter, die während des Stadionbaus vor Hitze gestorben waren, aus mangelnder Sicherheit in die Tiefe stürzten oder wie Tiere in Behausungen ohne Betten und fließend Wasser gehalten wurden – diese Tieflohnarbeiter hätten sich wirklich sehr über die Verlegung in den milden Winter gefreut. Ich werde meinem Sohn sagen, dass sie dabei, zusammen mit der FIFA, an das Wohl der Spieler dachten. Überhaupt habe es die FIFA mit ihrem ganzen unzählbaren Geld geschafft, die toten Arbeiter wieder lebendig zu machen, sodass sie die Spiele nun auch sehen können in Stadien, die sie im Schweiße ihres Angesicht selbst erschaffen hatten. Dass Katar den IS jahrelang mit Geld und Waffen unterstützte, lass ich weg, zu kompliziert.

Und wenn mein Sohn schon fragen sollte, warum denn das Eröffnungsspiel der WM 2018 in Kiew stattgefunden habe, die Stadt sei doch bei der Vergabe der WM noch ukrainisch gewesen – dann werde ich meinem Sohn sagen, das alles sei ein schönes, russisches Märchen.

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