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Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Gegenwart: Ein Königreich für einen stummen Erdogan

Moritz Rinke weilt in der Türkei und macht sich Gedanken über die Ähnlichkeiten zwischen Regierungschef Recep Erdogan und Sepp Blatter.

Wenn man sich heute zum Dramatiker ausbilden lassen wollte, müsste man eigentlich zum Studium in die Türkei reisen, Dramatischeres als die Türkei gibt es nicht, ich bin gerade da.

Gestern habe ich eine Rede von Erdogan im Fernsehen gesehen, eigentlich gibt es im türkischen Fernsehen nur Reden von Erdogan, TV-Shows und Reden von Erdogan, aber diesmal bellte, kläffte und vibrierte der ganze Fernseher von seiner Schreierei:

Krieg gegen die PKK, Krieg gegen die linke, prokurdische HDP, alles Lügner, Schwule, Atheisten, Landesverräter, TERRORISTEN.

Jedes Mal, wenn ich in der Türkei bin, sehne ich mich nach Mäßigung. In Deutschland regen wir uns gerade über Politiker-Rankings auf, Gabriel von der SPD ist tief gefallen, Andrea Nahles ist sogar noch beliebter als Gabriel! Wolfgang Bosbach von der CDU hat auf den Tisch gehauen! Angela Merkel ist in Bayreuth, wie ich höre, vom Stuhl gefallen, der Stuhl ist kaputtgegangen! Ursula von der Leyen will auf ein Pferd steigen und bei der Reit-EM in Aachen mitreiten!

In Deutschland langweilt mich diese Art von Nachrichten

Es ist seltsam, in Deutschland langweilt mich diese Art von Nachrichten; in der Türkei sehne ich mich danach. In Deutschland sehne ich mich nach klaren Konfrontationen, Temperamenten, Gegnern, Konturen, Kämpfen; in der Türkei stehe ich völlig perplex und machtlos vor diesem Irrsinn. Sogar bei meinen Schwiegereltern in Antalya, die Erdogan verachten, kläfft und vibriert der Fernseher, und sie glauben, die PKK sei nun wieder der eigentliche Feind. Man möchte aufstehen und wie Bosbach auf den Tisch hauen.

Kürzlich las ich, dass Erdogan den Krieg nicht nur aus Angst vor einem kurdischen Staat begonnen habe, sondern auch, weil er durch den Wahlerfolg der HDP bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit für seine AKP verloren hat und mit einem Koalitionspartner die Wiederaufnahme der eingestellten Korruptionsermittlungen befürchten müsste. Also, ein Erdogan koaliert nicht, ein Erdogan bombt.

Er bombt für Neuwahlen. Er greift kurdische Stellungen im Nordirak an, er greift sogar die Kurden im syrischen Kobane an, ausgerechnet also jene kurdischen Stellungen, die den IS vertrieben hatten, und gleichzeitig kämpft Erdogan auch gegen den IS wegen des Anschlags in Suruc, aber nur ein bisschen, nur ein paar symbolische Bömbchen auf Stellungen des IS, damit es vor der Weltöffentlichkeit nicht ganz so schlimm aussieht, dass man gerade den letzten kurdischen Schutzschild vor den Terrormördern des IS zertrümmert, die Amerikaner dürfen dafür seine Luftwaffenbasis Incirlik benutzen.

Erdogan gleicht einer Mischung aus Macbeth und Blatter

Wenn man als Dramatiker eine Erdogan-Figur schreiben müsste, wäre man locker bei einer Mischung aus Macbeth, Richard III. und Joseph Blatter. Manchmal gehen mir Sätze und Szenen mit einer Figur durch den Kopf, in den meisten sitzt sie irgendwo mit Hitler im Osmanischen Reich und erklärt ihm, dass er den Krieg gewonnen hätte, wenn er dies oder das befolgt hätte, zum Beispiel kein Ausschank von Alkohol nach 22 Uhr! Das ist nicht witzig, aber vermutlich sehr realistisch, ich wette, Shakespeare hätte eine Erdogan-Figur so etwas zu Hitler sagen lassen, dazu noch ein paar Sätze über Israel.

Eine Szene würde auch in seinem neuen, ohne Genehmigung gebauten Palast spielen, nach der Verkündung des Wahlergebnisses. Angeblich soll er 22 Stunden in einem der 1000 Zimmer gesessen und sich nicht gerührt haben. Das ist eigentlich meine Lieblingsszene.

Ein Erdogan, der Hitler die Welt erklärt, ist realistisch, aber ein Erdogan stumm in einem seiner tausend Sessel, das ist ganz großes Theater. Und eine Wohltat für alle türkischen Fernsehgeräte.

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