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Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Gegenwart: Eine Hymne auf die Gezimenschen

Am 19. Juni durfte ich wegen Obamas Abendessen nicht mal meine Fenster öffnen!

Ich sah aus meinem Arbeitszimmer auf das Charlottenburger Schloss: Secret Service (Sonnenbrillen), die Elitetruppe Navy Seals (Sturmgewehre), Elitesoldaten des Joint Special Operations Command (killed Osama bin Laden), Spezialkräfte des Bundeskriminalamtes, Räumpanzer, dazwischen der Große Kurfürst auf seinem Pferd, der Einzige, der noch geblieben war.

„Das ist ja eine Okkupation!“, erklärte meine Nachbarin, die gerade am Spandauer Damm abgefangen und von der Polizei nach Hause geleitet worden war. „Zwei Meter über Ihnen liegen übrigens Scharfschützen auf dem Dachboden!“

„Ach, darum ruckelt das so“, sagte ich, „ich dachte, das sei ein Marder oder ein Siebenschläfer?“

„Nee, GSG 9!“

„Mein Gott, freu ich mich wieder auf Istanbul“, erklärte ich, „da gibt es auch eine Okkupation, aber die ergibt wenigstens Sinn! So ein Wahnsinn, für ein Abendessen eines Demokraten unsere Wohngegend in ein Militärgebiet zu verwandeln, da ist mir der Taksim-Platz lieber.“

Seit zwei Wochen bin ich nun wieder in Istanbul. Der Gezipark wurde zwar von der Polizei geräumt, aber von den Wochen der Gezipark-Besetzung sprechen die Menschen immer noch mit Glanz in den Augen. Ein Park wie ein fröhliches Dorf mit Zelten, Buchläden, Theaterbühnen, Tangotänzern, auch einen Gezipark-Friseur gab es für die „Capulcus“, „die Plünderer“, wie sie der Ministerpräsident Erdogan abfällig nannte. Und sogar kleine Restaurants wurden im Park gegründet.

Wenn Obama statt im Schloss Charlottenburg im Gezipark bekocht worden wäre und sich da mit Erdogan ein wenig über „demokrasi“ und „privacy“ unterhalten hätte, dann hätten sie nebenbei auch begriffen, wie es einmal 1968 gewesen sein muss. Gezi ist wirklich das türkische ’68.

Mittlerweile demonstrieren die Gezimenschen in der ganzen Stadt. Jeden Abend um 21 Uhr klatschen sie in den Cafés, sie öffnen zu Hause ihre Fenster und schlagen auf Kochtöpfe, was ich bei Obama auch hätte tun sollen. Überall in der Stadt, in Beyoglu, Cihangir oder Besiktas versammeln sich die Gezimenschen und halten Reden, es ist wie die Neu-Erfindung der freien Rede, der Demokratie.

In einem Theaterstück von Ionesco verwandeln sich die Menschen in Nashörner, hier verwandeln sich immer mehr in Gezimenschen. Lenin sprach im Zusammenhang mit der Revolution von „Elektrifizierung“, als ob plötzlich überall das Licht angeht. So ist das in Istanbul.

Es gibt auch Situationen, in denen ich meine Rolle als Schriftsteller aus den Augen verliere. Letzten Montag lud das Goethe-Institut wegen einer Istanbul-Ausstellung des Berliner Fotografen Jim Rakete zum Abendessen. Man tafelte hoch über der Stadt in einem Restaurant in Cihangir. Unten marschierten Polizeitruppen mit Tanks und Gasgranaten auf. Meine türkische Freundin griff in Gegenwart von Vertretern des Auswärtigen Amtes nach den Raki-Flaschen, wir hätten sie von oben runter genau auf die Polizei werfen können, wie eine selbst ernannte GSG 9 zum Schutze der friedlichen Gezimenschen.

Die Ausstellungseröffnung von Rakete, Fotografien junger Istanbuler (mit Texten von mir), wurde von der Polizei gestört. Am gleichen Abend sollte der Gezipark „für das türkische Volk“ wiedereröffnet werden, wie Erdogan erklärt hatte. Kaum näherten sich die Gezimenschen wieder ihrem Park, wurden sie durch die Straßen gejagt, genau an der Galerie vorbei.

Am Ende sah ich Jim Rakete vor der Galerie einsam dastehen, wie der große Kurfürst vor meinem Schloss, inmitten dieser irrsinnigen Obama-Militarisierung.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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