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Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Gegenwart: Hans Eichel und die Kasseler Parkuhr

In Kassel im Staatstheater stand ich an der Garderobe hinter dem ehemaligen Finanzminister. „Könnten Sie mir bitte zwei einzelne Eurostücke herausgeben für die Parkuhr?“, fragte Hans Eichel die Garderobiere freundlich.

„Zwei einzelne Eurostücke kann ich nicht herausgeben, dann habe ich keine mehr“, antwortete sie, worauf ich dem Finanzminister von hinten auf die Schulter tippte und sagte: „Herr Eichel, ich mache das, mit dem größten Vergnügen!“

Ich war ganz außer mir. Ich, der Schriftsteller, dessen neues Stück dem Publikum und auch Herrn Eichel gerade dargeboten worden war, überreicht dem Finanzminister zwei einzelne Eurostücke, ohne dafür im Tausch ein Zwei-Euro-Stück annehmen zu wollen.

„Wissen Sie, Herr Eichel“, sagte ich, „heute Abend habe ich an Ihrer Theaterkarte, falls Sie sie bezahlt haben, ungefähr 2 Euro Tantieme verdient, dafür bekommen Sie die Garderobe von mir, wie finden Sie das?“

„Sehr charmant, aber das kann ich eigentlich nicht annehmen“, antwortete Eichel. „Doch, ich bestehe darauf!“, entgegnete ich. Eichel drückte mir die Hand, dankte für das Theaterstück und die Garderobe und ging in die Kasseler Nacht zur Parkuhr.

Später im Hotel ging mir die Szene nicht aus dem Kopf: Der Finanzminister war an der Garderobe in eine Art Eurokrise geraten, und ich habe sie gelöst, im Staatstheater – wenn das keine Symbolik hat! Ein Banker oder ein Hedgefonds-Manager hätte das nie gemacht. Im Gegenteil, er hätte dem Finanzminister alle seine Euros abgenommen und gesagt: „Wenn Sie mir nicht sofort das Geld geben, bricht alles zusammen: das System, der Staat, Europa, auch dieses Staatstheater!“

Ich lag im Hotelbett und dachte darüber nach, welchen Gegenwert eigentlich Banken oder Hedgefonds-Manager unserer Gesellschaft dafür geben, dass wir ihnen billiges Geld beschaffen, weil sonst angeblich das System zusammenbrechen würde? Und warum jene, denen wir das Geld beschaffen, Boni beziehen?

Irgendwie hatte ich das Gefühl, der Finanzminister läge neben mir im Bett, und ich würde ihn all das fragen. „Ich habe nichts gegen Banken an sich, Herr Minister“, hörte ich mich sagen, „aber der Sinn von Banken war doch einmal, dass sie die Realwirtschaft mit Geld und Krediten versorgen und nicht, dass die Ärmeren die Banken retten?“

Ich lag im Bett und hörte mich „Realwirtschaft“ sagen. Realwirtschaft ist für mich, wenn ich zwei Euro Tantieme verdiene, weil der Finanzminister eine von öffentlicher Hand subventionierte Theaterkarte gekauft hat und am Ende gebe ich diese zwei Euro einem Mann, der sie dringend braucht. Das nennt man WERTSCHÖPFUNGSKETTEN!

Banker, Hedgefonds-Manager, Finanzmarktakteure – sie können so viel Geld verdienen, wie sie wollen, wenn sie nur Wertschöpfungsketten schaffen würden, so wie eine Kindergärtnerin, ein Lehrer, eine Krankenschwester, ein Künstler oder meinetwegen sogar ein Sportler, denn ich erfreue mich ja daran, wie Schweinsteiger oder Dante spielen.

Ich rief nun wirklich im Bett „Dante!“, „Realwirtschaft!“ und mehrmals „-WERTSCHÖPFUNGKETTEN!!“.

Ein paar Tage später las ich, dass sich Hans Eichel zu Wort gemeldet hatte. Er forderte, dass Banken, die ihren Auftrag aus den Augen verloren hätten und stattdessen den Interbankenzins manipulieren, Hypothekengeschäfte machen, mit Emissionszertifikaten betrügen oder Vermögenden den Weg in Steueroasen ebnen – , dass diesen Banken die Lizenz entzogen werden müsste.

Mich hat diese Äußerung sehr gefreut. Und ich bilde mir ein, dass es einen kleinen Zusammenhang mit der Begegnung an der Garderobe gibt.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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