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Moritz Rinke über sich und den Roman: Sophokles, Ministerin von der Leyen und ich

Montags reise ich in diesen Wochen immer nach Paderborn.

Montags reise ich in diesen Wochen immer nach Paderborn. Nach Ostwestfalen-Lippe, an die Universität, Wintersemester. Manche behaupten, in Paderborn hätte es nie etwas Außergewöhnliches gegeben, außer dem Computerpionier Heinz Nixdorf und dem Komponisten Engelbert Humperdinck, aber das stimmt nicht. Es gibt dort die „Winterdichter“, wie sie die Frau des Paderborner Germanisten Hartmut Steinecke nennt, die „Winterdichter“ haben die Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller inne, und ich bin in der Geschichte der 32., vor mir waren schon Peter Rühmkorf, Herta Müller, Peter Schneider, Uwe Timm oder Wilhelm Genazino, um nur einige „Winterdichter“ zu nennen.

Am Montag habe ich über die Gattung Roman doziert bzw. ich habe erklärt, dass ich darüber gar nicht dozieren kann, denn schließlich wisse ich nicht, wie das Verfassen eines Romans genau funktioniere, das sei ja kein technischer Beruf, sondern eher das Wagnis, in eine ungeordnete Stoffmasse so etwas wie eine Ordnung hineinzubringen, der Rest sei vermutlich eine Mischung aus Glück und Talent. Und jeder Schriftsteller sitze vor jedem neuen Roman wie ein professioneller Debütant. Als ich dann Max Frisch zitierte und dessen Satz, dass schließlich Sophokles nicht bei Aristoteles gelernt habe, wie man Tragödien schreibe, musste ich an Ursula von der Leyen denken.

Muss man etwas von Infanterie verstehen, um das Land zu verteidigen? Die von der Leyen, dachte ich, die gerade berufene Verteidigungsministerin, die sitzt nun bestimmt vor der Heeresstruktur wie ich vor dem neuen Roman. Oder die neue Umweltministerin? Ist die nicht Finanzexpertin, die das Thema Umwelt eher von der Mülltrennung zu Hause kennt? Oder der neue Agrarminister? Vorher war er Innenminister, jetzt ist er Agrarminister. Und der alte Verteidigungsminister ist wieder Innenminister. Und die frühere Arbeits- und Sozialministerin ist jetzt neue Verteidigungsministerin, davor war sie Familienministerin.

Was ich damit sagen will: Hätte man mich in diesem Dezember nicht auch zum Minister ernennen können? Nicht nur zum Winterdichter, sondern auch zum Winterminister? Offenbar machen die Ministerinnen und Minister unseres Landes nichts anderes als wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller: sich als professionelle Dilettanten durch ungeordnete Stoffmassen kämpfen.

Als mein früherer Germanistik-Professor seinen ersten Roman schreiben wollte, wurde er in die Psychiatrie eingewiesen, er wusste zu viel. Vielleicht kann man zum Beispiel nur Gesundheitsminister werden, wenn man vom Gesundheitswesen erst mal keine Ahnung hat, sonst wird man schon vorher irre. („Irrenminister“, so ein Minister fehlt möglicherweise auf lange Sicht in der großen Koalition).

Allerdings gibt es doch einen Unterschied zwischen Winterdichtern und Winterministern. Wenn der Winterdichter nichts macht und gar kein Talent hat, wird es keinen Roman geben, aber wenn der Winterminister nichts macht oder gar kein Talent hat, dann gibt es doch ein Ministerium, im Winter wie im Sommer, es leitet sich offenbar in Deutschland von selbst.

Hätte Bayern München statt Pep Guardiola einen Handballtrainer eingestellt? Gehe ich zum Urologen, wenn ich Zahnschmerzen habe? Hätte Engelbert Humperdinck der größte Paderborner Komponist werden können, wenn er Agrarwissenschaft studiert hätte? Nur als Minister in Deutschland ist es egal, was man vorher gemacht hat – man (oder die Kanzlerin) muss es nur unbedingt wollen. Meinen Winterdichterhut ziehe ich indes vor der neuen Verteidigungsministerin. Ich weiß ja, was so ein Roman bedeutet.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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