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Elena Senft schaltet nie ab: Das System der Politessen

Es ist WM. Es muss alles sehr schnell gehen, wenn man Arbeit, Privatleben und Fußballgucken unter einen Hut kriegen will.

Es ist WM. Es muss alles sehr schnell gehen, wenn man Arbeit, Privatleben und Fußballgucken unter einen Hut kriegen will.

Jede Sekunde zählt. Vor allem bei den Wegen, die zurückgelegt werden müssen. Allein die sonst im Alltag stoisch ertragenen Sekunden, die es dauert, bis sich das Car2Go freischaltet, werden in diesen Tagen als unzumutbarer Zeitfresser empfunden auf dem Weg zum pünktlichen Anpfiff. Gnadenlos wird auf Behindertenparkplätzen und in dritten Reihen geparkt.

Die Strafe folgt auf dem Fuße: Die WM ist auch die Sternstunde der umherschweifenden Politesse.

Die etymologische Bedeutung der „Politesse“ weicht empfindlich von dem ab, was sich in Uniform und mit einem digitalen Lesegerät in der Hand am eigenen mit Deutschlandflaggen bekleideten Auto zu schaffen macht, sobald man mal kurz ausgestiegen ist, um durch das Fenster einer Kneipe den Spielstand abzufragen. Die Politesse taucht aus dem Nichts auf, umkreist in stets zu großer Uniform das Fahrzeug und kennt keine Gnade.

Das Aufeinandertreffen mit einer Politesse (oder schlimmer: mit zweien!) führt einem stets die eigene kafkaeske Ohnmacht gegenüber bestimmten Anordnungen vor Augen, denn niemand hat eine „Anweisung von oben“-Haltung derart perfektioniert wie sie. Es gibt keinerlei Diskussionsspielraum. Im angenehmen Gegensatz zum Fußball handelt es sich um ein unkorrumpierbares System.

Zu ihrer Verteidigung bleibt zu sagen, dass auch kaum eine andere Berufsgruppe so abgestumpft gegenüber öffentlicher Beleidigung ist. Und keine Berufsgruppe wird in Filmen, Serien und öffentlichem Bild so oft auf genau dieses Bild festgenagelt. Die lauernde Politesse ist neben der zeternden Nutte in Polizeistationen ein Topos im Fernsehen.

Sobald der wütende Fahrzeughalter mit Bier-Gesicht und Flaggenschminke im Gesicht aus der Kneipe stürmt, packt er ein beeindruckend vielfältiges Repertoire an Rechtfertigungen aus. Es beginnt mit gnadenlosem Ankumpeln („Kommen Sie, Sie haben doch auch Durst und drinnen ist echt gute Stimmung.“), geht über gefühlte Wahrheiten („Das waren höchstens zwei Minuten!“), kippt in Arroganz („Sie haben ja wohl echt nichts Besseres zu tun!“) und endet in blinder Wut („Das zahl ich aus der Portokasse, du Parkwarze!“).

Das roboterhafte Pflichterledigen der Politesse geht dem Autofahrer trotzdem zu Recht ziemlich auf den Geist. Denn oft umkreist sie sogar bereits das in der Parkzone abgestellte Fahrzeug, während man nur schnell mal Geld gewechselt hat, um Münzen für den Parkscheinautomaten zu organisieren oder aber 500 Meter im Dauerlauf zurücklegen und einen Teil des Spiels verpassen musste, um überhaupt den nächsten funktionierenden Parkscheinautomaten zu erreichen.

Kommt man dann auf dem Rückweg angerannt und wehrt sich gegen den Vorwurf des Falschparkens, wendet die Politesse ihren Blick nicht vom Lesegerät ab, sondern behauptet, nun nichts mehr rückgängig machen zu können, da sich die vermeintliche Ordnungswidrigkeit bereits „im System“ befinde und daher auf keinen Fall mehr gelöscht werden könne. Schimpfen und sich aufregen hilft übrigens im Kampf gegen das Ordnungsamt genauso wenig wie beim Fußball. Vermutlich sogar noch weniger, denn die Politesse strahlt eine Unbeeindrucktheit aus, die irritiert.

Um was für ein geheimes „System“ es sich handelt, darüber schweigt die Politesse mit ignoranter Überlegenheit. Weswegen man irgendwann nicht mehr ganz sicher ist, ob es dieses geheime „System“ nicht doch gibt – und ob es sich irgendwann mal gegen einen wendet.

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