zum Hauptinhalt

Dr. WEWETZER: Sitzende, erhebt euch!

Sitzen Sie gut? Vermutlich. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber aus dem Homo sapiens ist ein Homo sedens geworden.

Vor 10 000 Jahren begann die Sesshaftigkeit, und nun folgt die Sitzhaftigkeit. Büro, Computer, Fernsehen, Auto, der moderne Mensch erhebt sich nur noch ungern. Womöglich hat uns die Evolution ein Trägheitsprinzip einprogrammiert. Je weniger wir uns bewegen, umso weniger Kalorien verbrauchen wir. Was in früheren Zeiten gut fürs Überleben war, Energie sparen für die Not, ist heutzutage eher eine Gefahr. Zu viel Sitzen kann krank machen. Umgekehrt heißt das: Wer öfter steht oder geht, lebt gesünder. Ein Schreibpult ist also medizinisch gesehen keine schlechte Idee. Es soll schon Arbeitplätze mit Gehpults geben, einer Kreuzung aus Stehpult und Laufband. Aus der Sitzung wird eine Stehung, bestenfalls sogar eine Gehung.

Auf das Problem mit dem Sitzen wurden Forscher schon vor 60 Jahren aufmerksam. Bei einer Untersuchung mit Londoner Busfahrern und -schaffnern stellte sich heraus, dass Erstere ein doppelt so hohes Herzinfarktrisiko hatten wie die Schaffner, die ihre Arbeit im Stehen erledigten. Danach verlor man den feinen Unterschied zwischen Sitzen und Stehen/Gehen aus den Augen und konzentrierte sich darauf, Freizeitsport und seinen Nutzen für die Gesundheit zu studieren. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Emma Wilmot von der Universität Leicester hat zusammengefasst, was 18 Studien mit fast 800 000 Teilnehmern zum „Sitzrisiko“ ergaben. Danach steigt mit der Zeit, die man am Tag auf Stuhl oder Sessel verbringt, manche Gesundheitsgefahr. Langsitzer haben ein doppelt so hohes Risiko für die Zuckerkrankheit (Diabetes), Herzleiden und einen vorzeitigen Tod. Und das gilt unabhängig davon, ob man fleißig joggt oder sich anderweitig bewegt. „Der durchschnittliche Erwachsene verbringt 50 bis 70 Prozent seiner Zeit im Sitzen, deshalb hat diese Untersuchung weitreichende Folgen“, sagt die Studienleiterin Wilmot. „Wenn wir die Zeit begrenzen, die wir im Sitzen verbringen, können wir vielleicht das Risiko für Diabetes, Herzleiden und vorzeitigen Tod verringern.“

Wilmots Studie ist kein letzter Beweis. Am eindeutigsten ist die Verknüpfung von Sitzen und Zuckerkrankheit. Die Muskulatur nimmt viel Traubenzucker, Glukose, auf, wobei das Hormon Insulin die Glukose in die Zellen schleust. Sind die Muskeln untätig, werden sie weniger empfänglich für Insulin, zugleich steigt die Glukose im Blut an. Prozesse, die Diabetes begünstigen. Auch auf die Blutfette soll sich eine sitzende Lebensweise ungünstig auswirken. Eine andere Studie zeigte, dass schon zwei Minuten Bewegung alle 20 Minuten den Blutzucker besser unter Kontrolle hält.

Medizinische Motive waren es sicher nicht, die Goethe, Schiller, Hemingway und Leonardo da Vinci dazu brachten, am Stehpult zu arbeiten und vielleicht gelegentlich ein wenig auf und ab zu gehen. Womöglich brachte sie das auf Ideen. In einem bewegten Körper wohnt eben auch ein bewegter Geist. Ein weiterer Grund, sich zu erheben.

Unser Kolumnist leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegels. Haben Sie eine Frage zu seiner guten Nachricht?

Bitte an: sonntag@tagesspiegel.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false