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Alle Wege führen in Zegg zur Liebe.

© Veronica Frenzel

Kommune Zegg in Brandenburg: Der Traum von der freien Liebe

Im Ökodorf Zegg leben die Bewohner von eigenem Strom und viel selbstangebautem Gemüse. Mehr als um Nachhaltigkeit geht es in der Kommune aber immer noch um sexuelle Befreiung.

Vier Frauen und acht Männer stehen um einen runden Teppich im Kreis und lächeln, manche schüchtern, andere herausfordernd. Gleich sollen alle in den Kreis treten und erzählen, wie es ihnen geht. Da springt schon der Erste, ein drahtiger Mittvierziger, auf den roten Teppich. Er sei glücklich, ruft er, fühle sich entschleunigt, beschwingt. Er hüpft in die Luft, berührt fast die Decke des flachen grauen 60er-Jahre-Baus. Der Zweite, ein stiller junger Mann, tritt zaghaft in die Mitte. Vorhin habe er einen Vogel beobachtet, erzählt er leise, der hatte drei Würmer im Schnabel, wollte noch einen vierten aufpicken und hat dann alle verloren. Draußen, sagt der junge Mann, hätte er für so was kein Auge.

Draußen, das ist die kapitalistische, schnelllebige, individualistische Welt. Drinnen, das ist der Versuch eines Gegenentwurfs. Eine der ältesten noch bestehenden Kommunen Deutschlands, das „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“, kurz Zegg. Seit 1991 wird hier geforscht, wie ein besseres, glücklicheres Leben aussehen könnte.

Die Kommune liegt auf einem bewaldeten Stück Land, kaum größer als der Görlitzer Park, am Rande der Kleinstadt Bad Belzig südlich von Berlin. Früher trainierte hier die Stasi ihre Auslandsspione, davor nutzten die Nazis das Gelände für Treffen der Hitlerjugend. Heute leben dort, verteilt auf sieben unterschiedlich große Wohnhäuser, 103 Menschen, darunter 20 Kinder und Jugendliche, die Hälfte Frauen, die andere Männer. Einer von ihnen ist Frank Kruschel. 52 Jahre alt, früher Sozialpädagoge, heute gibt er Seminare, zum Beispiel „Vom Ich zum Wir – Männerfreundschaft“. Ein großer, schlanker Mann mit Locken und jungenhaftem Gesicht.

Für die elf Frauen und Männer, die mit Kruschel um den roten Teppich stehen, ist das Zegg ein Sehnsuchtsort. Fünf Tage verbringen sie in der Kommune. Manche überlegen einzuziehen, andere wollen eigene Gemeinschaften gründen, ein paar sind gekommen, „um zu merken, dass die Welt auch anders sein kann“, wie ein Gast sagt. Tagsüber arbeiten die elf an der Seite von Bewohnern, im Garten, in der Küche, abends üben sie das Kommunenleben. Das Im- Kreis-erzählen-was-einen-bewegt sei eines der wichtigsten Werkzeuge, sagt Kruschel, damit das Banale nicht das Zwischenmenschliche belaste.

Kommunen sind nach Duden-Definition „Wohngemeinschaften, die bürgerliche Vorstellungen hinsichtlich Eigentum, Leistung, Konkurrenz und Moral ablehnen“. Laut dem Netzwerk Kontraste gibt es derzeit etwa 30 große Gemeinschaften, dazu bestimmt hunderte kleinere, davon etwa 20 in unmittelbarer Umgebung des Zeggs, und unzählige Hausprojekte. Zurzeit sind Ökodörfer besonders angesagt.

Man lebt die Polyamorie

Auch das Zegg ist ein solches Ökodorf, schon seit 20 Jahren. Die Kommunarden heizen mit einer Holzhackschnitzel-Heizung, seit drei Jahren kommt der Strom aus Photovoltaikanlagen und gasbetriebenen Blockheizkraftwerken. Die Selbstversorgung klappt noch nicht so gut, der Brandenburger Sandboden ist einfach zu unfruchtbar. Nur ein paar Möhren, Salate, Rote Bete, Lauch, Äpfel und Beeren wirft der Garten ab.

Trotz Ökodorf-Titels ist das große Thema im Zegg immer noch die sexuelle Befreiung, nicht die Nachhaltigkeit. Bei der Gründung verstanden die Kommunarden das Praktizieren der freien Liebe als Mission, erklärten in Interviews, offene Beziehungen würden die Welt verbessern. „Wer sie grundsätzlich ablehnt, wird sich bei uns nicht wohlfühlen“, sagt Kruschel im Seminarraum mit sanfter Stimme. Dann legt er ganz selbstverständlich den Arm um eine der Besucherinnen. Polyamorie und Liebesnetzwerke, wo zum Beispiel beide Partner einen Dritten lieben, sexuelle Freundschaften – all diese Beziehungsformen würden hier heute ganz selbstverständlich praktiziert.

Vor 21 Jahren war Frank Kruschel das erste Mal im Zegg, bei einem Festival im Sommer. Eine Kommilitonin hatte ihn mitgenommen. Damals erschrak er, als ihm eine Frau beim Tanzen erklärte, dass sie mit ihm schlafen wolle. Sechs Jahre später kam er wieder mal, im Frühjahr 2010 zog er ein. Kontakt nach draußen hat er seitdem immer weniger.

Mittlerweile arbeitet Kruschel, wie viele Kommunarden, im Zegg. Er verantwortet den Fahrradverleih für Besucher, beantwortet Mails und Anrufe von Gästen, gibt Kurse. Wie jeder Kommunarde muss er einmal in der Woche im Gemeinschaftshaus kochen und putzen. Jeden Tag kommt im Gästehaus Veganes und Vegetarisches auf den Tisch.

Über den Seminarbetrieb finanziert sich die Kommune auch. Nicht immer funktioniert das gut. 2013 hat die gemeinnützige Gesellschaft 16 000 Euro Verlust gemacht, im Jahr zuvor 30 000 Euro Gewinn. Die Schwankung lag an den Ausgaben: Gerade hat eins der Wohnhäuser einen neuen Dachstuhl bekommen. Jeder Bewohner zahlt etwa 500 Euro Miete und 250 Euro fürs Essen.

Der Veteran: Frank Kruschel, 52, führt die Neulinge ein.
Der Veteran: Frank Kruschel, 52, führt die Neulinge ein.

© Veronica Frenzel

„Mir ist hier zu sehr Konsumgesellschaft“, sagt Jonathan Hartwig, 23 Jahre alt, derzeit jüngster Kommunarde, seit einem Jahr hier. Für seinen Geschmack werden zu viele Nahrungsmittel zugekauft, er möchte komplett selbstversorgerisch leben, eine gemeinsame Ökonomie, nur veganes Essen, mehr Spiritualität. In ein paar Wochen zieht er erst mal in ein Ashram in Indien. Das Zegg versteht er als Ausbildungsplatz. Mit neun anderen jüngeren Kommunarden probiert er seit Kurzem „funktionales Wohnen“ aus: Die zehn teilen sich alle Räume einer Wohnung, Schlafzimmer, Arbeits- und Musikzimmer, Meditationsraum, Liebeszimmer. „Vielleicht gründe ich ja irgendwann eine eigene Kommune mit einem radikaleren Ansatz?“, sinniert Hartwig auf einer Bierbank vor der Dorfkneipe und zündet sich eine Selbstgedrehte an.

Den Jugendlichen ist es "voll peinlich"

In den vergangenen Jahren sind im Schnitt etwa zehn Bewohner im Jahr ausgezogen, etwa doppelt so viele neue kamen dazu. Viele frühere Bewohner leben heute in der Umgebung in kleineren Gemeinschaften. Die meisten Abtrünnigen fliehen vor den vielen Besuchern. „Manchmal habe ich mich regelrecht versteckt, weil ich meine Ruhe haben wollte“, erzählt Cordula Andrä, Mitte 40, die als Sprecherin der Kommune arbeitet, auf der Terrasse des Gästehauses. Sie ist gerade mit ein paar Freunden in ein Haus keine 500 Meter entfernt gezogen. Andrä, die früher für die Grünen im Bundestag gearbeitet hat, kam vor fünf Jahren in die Kommune, weil sie nicht mehr nur über Nachhaltigkeit diskutieren, sondern auch danach leben wollte. Sie habe am Anfang auch mit verschiedenen Liebesformen experimentiert, sagt sie. „Im Zegg kann jeder so lieben, wie er will, auch ganz klassisch monogam.“

Während sie erzählt, begrüßt sie immer wieder andere Kommunarden. Die Stimmung auf der Terrasse des Gästehauses ist gelöst. Überall sitzen kleine Grüppchen, lachen, unterhalten sich ernst. Hier sitzen auch zwei blonde 13-Jährige. Die Große ist schon im Zegg geboren, die andere erst vor fünf Jahren mit ihrer Familie hergezogen. Wie sie das Leben in der Kommune finden? „Mir ist das Zegg voll peinlich“, erklärt die kleine Blonde. „Ich lade nie Freunde aus der Schule ein, weil hier immer wieder Leute nackt rumlaufen und sich alle ständig umarmen.“ Sie verzieht das Gesicht. „So möchte ich nie werden.“ Die große Blonde schaut nachdenklich. „Es ist schon cool hier. Wir können immer draußen spielen, es sind viele Kinder da.“ Dann erklärt sie, ein wenig trotzig, dass sie später auch hier leben möchte.

Bisher sind alle Kinder, die im Zegg aufgewachsen sind, ausgezogen, sobald sie volljährig waren. Das Durchschnittsalter liegt zurzeit weit über 40, die meisten Bewohner sind zwischen 50 und 60.

Mitten auf dem Gelände steht ein kleiner Bungalow mit einem von dichten Hecken eingefassten Garten. Dort backt gerade eine kleine, weißhaarige Frau Käseplätzchen: Ursel Groeger, Ende 70, die älteste Bewohnerin. Die Käseplätzchen sind für Mittwoch. Mittwochs ist immer Plenum, ein Pflichttermin für die Zeggianer.

Vor sechs Jahren ist Ursel Groeger ihrer Tochter in die Kommune gefolgt. Nach dem Tod ihres Mannes war sie in ihrem Wohnort Hannover in eine Wohngemeinschaft älterer Frauen gezogen. Als es ihr immer schwerer fiel, die Stufen in den dritten Stock zu gehen, suchte sie nach einem Ort für den Rest ihres Lebens. Im Zegg fand sie ihn.

Hand in Hand: Tanz auf dem Kommune-Campus.
Hand in Hand: Tanz auf dem Kommune-Campus.

© Zegg

„Das war intensiv“, sagt nach fünf Tagen eine Besucherin. „Ich habe das Gefühl, dass wir uns alle ewig kennen.“ Auf die Dauer aber wäre ihr die Nähe „echt zu viel“. Außerdem findet sie, dass die Kommunenbewohner zu abgeschottet leben. „Ich habe den Eindruck, dass manche ohne die Gemeinschaft gar nicht mehr können.“

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