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Das Buch des Tagesspiegel-Kulturautors erschein am 29. August.

© Illustration: Katharina Metschl exklusiv für den Tagesspiegel

Literatur: Eine schön böse Liebesgeschichte

Ein Philosoph und seine junge Freundin: Sie überrascht ihn mit einer fabulösen Idee. Auszug aus dem neuen Roman von Peter von Becker.

Die Erzähler in Peter von Beckers Roman „Céleste“, der diese Woche erscheint, sind Männer: ein auf eine süditalienische Insel entführter Schriftsteller, ein Diplomat, ein Kunst-Anwalt und ein feuilletonistischer Philosoph. Doch die heimlichen, unheimlichen Protagonisten des Buchs sind die Frauen: zuallererst die 99-jährige Céleste Salvatori, eine aus Korsika stammende Königin der internationalen Kunstszene, die im Zweiten Weltkrieg in der französischen Résistance kämpfte und deren abenteuerliches Leben ein tödliches Geheimnis birgt. Doch da sind auch deren Tochter, die Juristin Beny, eine mysteriöse Studentin namens Giuliana, eine junge italienische Schauspielerin und vor allem Marie Bach, eine Berliner Fotografin. Sie alle sind in den Jahren 2012/2013 in einem Netz aus zeitgeschichtlichen, amourösen und kriminalistischen Motiven miteinander verbunden. „Céleste“ spielt vor dem Hintergrund einer globalen Zeitenwende. Dabei geht es in dem von Süd- und Mitteleuropa bis nach Japan ausgreifenden Roman um Blendung und Täuschung, um Verirrung und Verführung – in der Kunst, im Leben und in der Liebe. Das zeigt sich auch zu Beginn des Kapitels, in dem Julius („Juli“) Seelenberg, der Berliner Philosoph und Erzähler, auf seine neue Freundin, die Fotografin Marie Bach, gestoßen ist.

Marie ist meine Rettung, denke ich jedes Mal, wenn ich versuche, Konturen in mein dahinschwimmendes Leben zu bringen. Marie, die vernünftige Chaotin, die so viel spontaner ist als ich. Schriftsteller sind oft langweilige Leute, die aus Schwäche, Trägheit, Sehnsucht spannende Geschichten erfinden. Selten selbst erlebte. Nicht jeder ist ein Jack London oder Rimbaud, der das Abenteuer schon im Herzen trägt.

Mir kann nicht mehr viel passieren an Maries Seite, und der Tod hat noch Zeit. Das spüre ich, besonders in den Momenten, da mich Marie aus der Bahn wirft. Das ist komisch, wirklich zum Lachen merkwürdig und mir selbst nie recht erklärlich, seit wir uns kennen. Aber was heißt schon kennen nach einem Jahr, in dem sie mit ihren Überfällen auch meine Einfälle puscht und dem Dahindümpelnden neue Segel setzt. Eben wieder rauscht sie barfuß in mein Arbeitszimmer, pflanzt sich mit ihrem kurzen Rock auf den mit Papieren überhäuften Schreibtisch. Ihre nackten, um diese Jahreszeit schon früh gebräunten Beine schlägt sie erst links, dann wieder rechts übereinander, raucht eine Zigarette ohne Aschenbecher, ich angle nach der Tasse meines gerade halb ausgetrunkenen Cappuccinos, sage, für deine Asche, und sie schlägt ihre Beine zurück und hat die an ihr klebenden Blätter, meine verstreuten Notizen für ein vielleicht entstehendes Buch, zwischen ihren jetzt knisternden Schenkeln. Sie legt den Kopf zur Seite. Küss mich, sagt ihr wortlos geöffneter Mund, und ohne meine Reaktion abzuwarten, springt sie mir fast auf den Schoß, streift sich ein paar verknitterte Seiten, meine Seiten, vom Po und Bein und redet weiter auf meinem Knie. Juli, du, ich hab’ eine Superidee. Für eine Geschichte, ein Drama, das könnte was fürs Fernsehen werden.

Du meinst, die Idee für einen Film?

Ja, vielleicht. Ein Drehbucheinfall. Es geht um ein Paar, er so über achtzig, ein berühmter Künstler, ein Pianist, um den es in den letzten Jahren ziemlich still geworden ist, sie ist seine viel jüngere Frau, Muse, Mitarbeiterin, selber vielleicht Cellistin. Nun heißt es, der große Mann leidet an Alzheimer und beginnt, dement zu werden. Eine Wochenzeitung veröffentlicht mit ihm und seiner meist für ihn sprechenden Frau ein mehrseitiges Interview über das schwindende Gedächtnis eines Genies, das innere Verlöschen einer musikalischen Welt. Bald darauf folgt auch ein Gespräch im Fernsehen, die beiden sitzen bei sich daheim, in einem schönen Landhaus, sagen wir auf Sylt oder Usedom oder vielleicht am Bodensee, in Meersburg, wo wir zu deiner Lesung waren ... Man sieht die Wand voller Bücher und Bilder, Fotos von seinen gefeierten Konzerten, auf dem Kamin die gerahmten Widmungen von Karajan, Bernstein, Abbado, im Kamin kein Feuer, im Hintergrund der Steinway, zugeklappt, und er, der immer ... der immer die Ewigkeit der Töne beschworen hat, hockt nur stumm dabei. Die Frau redet, und er schaut mit seinen unbewegten, schon etwas milchigen Augen, wie sie alte Menschen oft haben, durch die Zuschauer hindurch, schaut ins weite Land hinter unserem Horizont.

Hinter unserem Horizont?

Ich denke in Bildern, du bist das Wörterhirn

Das Buch des Tagesspiegel-Kulturautors erschein am 29. August.
Das Buch des Tagesspiegel-Kulturautors erschein am 29. August.

© Illustration: Katharina Metschl exklusiv für den Tagesspiegel

Nicht unterbrechen! Also, ab und an nimmt sie seine Hand, streichelt ihn, streicht ihm eine Strähne seines weißen Haars aus der Stirn, und man weiß nicht, ob ... ob ein Zucken der Mundwinkel noch Freude ausdrückt, Dankbarkeit ... oder eher Trauer.

Marie springt mir vom Knie und lehnt sich an meinen Schreibtisch, es ist ein warmer Frühlingstag in Berlin, ihr kurzer Rock ist vorhin bis zum Slip hochgerutscht, ich fahre mit meinem Handrücken an der Innenseite ihrer Schenkel empor, da zupft sie den Rock zurecht und stippt ihre Zigarette in meinen nun aschgrauen Cappuccino. Lass’ das, hör’ zu, merk’ dir lieber die Story, falls ich später was vergesse.

Du hast es nicht aufgeschrieben, all die szenischen Details?

Nein, wozu? Dafür habe ich doch dich. Ich denke in Bildern, sagt Marie mit einer luftigen Geste, zwischen wegwerfend und wegweisend. Ich denke in Bildern, du bist das Wörterhirn. Also nochmal, die beiden erscheinen als rührend beeindruckendes Paar, die Frau veröffentlicht mit Hilfe eines Ghostwriters ein Buch über ihren erinnerungslosen Mann, der nur noch im Schatten seines Ruhmes lebt und natürlich im Licht ihrer Liebe. Das Buch wird ein Bestseller. Bald soll’s eine Verfilmung geben. Die zuvor in der weiten Öffentlichkeit fast unbekannte Frau, die Cellistin, ist nun selbst berühmt, verzichtet jedoch auf eigene Konzerte. Sie erklärt, die Sorge um ihren Mann sei die Aufgabe ihres Lebens, auch als Musikerin, und so weiter.

Ja und was weiter?, frage ich. Demenz ist ein grassierendes Thema, aber wo ist die Pointe?

Marie hockt sich neben mich auf den Boden, verknotet ihre Beine im Schneidersitz. Sie sagt, hör zu, und ich erwidere, ich höre dir immer zu, auch wenn es anders aussieht. Leichte Absenz ist noch kein Fall von Demenz, sondern meine Arbeitsgrundlage.

Sie schüttelt den Kopf und schaut amüsiert. Mein Philosoph! Okay, die Pointe ist, der Mann ist noch voll bei Trost.

Wieso das?

Na, tatsächlich hat der alte Künstler wegen der üblichen Anzeichen von Vergesslichkeit im Alltag eine wachsende Angst vor Konzerten, er glaubt, die Noten und seinen Anschlag, die Griffe zu verlieren. Und seine Frau! Er fürchtet, seine viel jüngere Frau, die er früher schon insgeheim der ... Treulosigkeit verdächtigt hat, könnte ihn als alzheimernden Greis umso leichter betrügen und irgendwann verlassen. Mitsamt dem Besitz, der ihr bereits überschrieben ist. Um jedoch seine Angst ... zu besiegen, beschäftigt er sich mit dem Thema Demenz und fängt an, seinen ihm drohenden Gedächtnisverlust selbst zu inszenieren. Er bindet seine Frau mit ein in die Komödie der Täuschung, gibt ihr sogar die Hauptrolle, und sie treiben nun gemeinsam ihr Spiel. Ein Spiel mit der ebenso ahnungslos faszinierten wie erschütterten Öffentlichkeit. Er verfällt ins große Schweigen, doch stumm setzt er sich mitunter mal an seinen Flügel, schlägt ein paar Tasten an, und auf ein Mal gibt es die Sensation: Der große Klaviervirtuose von einst tritt nun wieder auf, erst ganz klein, zum Beispiel ... bei sich am See, im Droste-Schlösschen von Meersburg, später auch in größeren Sälen, aber niemand erwartet von ihm noch, all die vormals auswendig beherrschten klassischen Partien mit tausend feinsten Nuancen zu spielen. Jetzt hat er als Grenzgänger die Freiheit, mit seinen Stücken nach Belieben zu improvisieren ... total groovy. Er, der mit zehn Jahren seine ersten Auftritte hatte, ist jetzt, mit über achtzig, zum zweiten Mal eine Art Wunderkind geworden. Es werden davon auch Aufnahmen gemacht, Mitschnitte, die sich super verkaufen, unter dem Motto: Das Genie ohne Bewusstsein spielt Variationen von Bach, Mozart, Chopin! Bisweilen klingt ein bekanntes Motiv noch an, manche der ausverkauften Konzerte dauern nur Minuten, ein andermal spielt er über eine Stunde, hat dann Schaumbläschen vorm Mund, aber er lächelt, und beim nächsten Mal sitzt er nur vorm Flügel, die Hände zittern, huschen unhörbar wie suchend über die Tasten, lassen ab, der ganze Mann ... sackt in sich zusammen. Aber in seinem Gesicht ist wieder diese Spur von Lachen, ein irres Lächeln, verzückt oder verwirrt ...

Der alte Mann stirbt, ganz plötzlich

Das Buch des Tagesspiegel-Kulturautors erschein am 29. August.
Das Buch des Tagesspiegel-Kulturautors erschein am 29. August.

© Illustration: Katharina Metschl exklusiv für den Tagesspiegel

Marie greift nach ihrer Zigarettenpackung am Boden, und beide schweigen wir eine Weile. Sie zieht am Filter der kalten Kippe, kneift dann ein Auge zu und nimmt mich im Rechteck zwischen Zeigefingern und Daumen ins Visier, als suche die Fotografin einen Bildausschnitt. Jetzt zoomt sie auf mich zu, und ich nicke.

Mach weiter.

Genau, sagt Marie und setzt die Fingerkamera ab. Längst protestieren einige prominente Ärzte, sie behaupten, die Frau missbrauche ihren so viel älteren, wehrlosen Mann, er agiere wie ein Roboter, man äußert den Verdacht, er stehe unter Drogen, was der Hausarzt dementiert ... Alles ein Fest natürlich für die Medien. Die Geschichte eines Phänomens. Hast du mal Feuer?

Obwohl ich beim Schreiben nie rauche, habe ich irgendwo Streichhölzer. Meist nehme ich sie vom Tresen mit aus Lokalen, die mir gefallen. Nur ein Aschenbecher fehlt.

Bleib sitzen! Denn der alte Mann stirbt nun, ganz plötzlich. Die trauernde Witwe. Schlagzeilen, Sondersendungen, ein Ehrengrab. Aber nach dem Begräbnis, so hat es der Pianist in seinem Testament verfügt, wird von seinem Anwalt noch eine letzte Botschaft veröffentlicht, ein Video für all seine Fans. Die DVD lag versiegelt in einem Banksafe, alle sind total überrascht, auch die Frau wusste nichts davon. In diesem Video spricht der Künstler mit etwas brüchiger, jedoch klarer Stimme – und erklärt seine Demenz als Fake. Seine Wahrnehmung sei nicht gelöscht und sein Verstand intakt, aber er habe sich in seinem Alter nun endlich von dem lebenslangen Zwang zur Perfektion und seiner ihm mehr und mehr zur Last gewordenen ... künstlerischen Selbstverantwortung befreien wollen. Manchmal sei er sich nämlich vorgekommen wie ein Artist, der nach Jahrzehnten auf dem Hochseil merkt, dass er noch immer balancieren kann, aber nicht mehr schwindelfrei ist. Meine Frau, sagt er mit einem Ausdruck heiterer Zufriedenheit, ist in dieses Spiel von Anfang an eingeweiht gewesen. Er liebe seine Frau, die ihn früher wohl mal betrogen habe. Jetzt habe sie mit ihm die ganze Welt betrogen! ... Doch er hoffe, sie alle hätten dabei ihre Unterhaltung und Freude gehabt.

Am Ende des Videos spielt der weißhaarige Virtuose dann noch ein ... Prélude von Chopin. Natürlich spielt er es meisterhaft.

Pause. Die zweite Zigarette landet in der Kaffeetasse mit dem Kohleschaumrest, die Marie neben sich auf den Boden gestellt hat. Nicht schlecht, murmle ich, und Marie sagt: Du sollst jetzt nicht murmeln. Ich staune über sie einmal mehr. Die Frage, wie sie darauf gekommen ist, unterdrücke ich lieber, sonst komme ich mir vor wie das Publikum bei einer Lesung. Maries Vater war Opernsänger, aber er ist bei einem Flugzeugunglück in Spanien gestorben. Abgestürzt über den Pyrenäen. Und sie spielt selbst Klavier. Ich sage: Nicht mehr schwindelfrei finde ich gut. Das späte Wunderkind, die schwarze Alzheimerkomödie, das Künstlerdrama ... Für mich ist es vor allem eine ... schön böse Liebesgeschichte. Mehrbödig.

Mehrbödig. Was für ein hübsches Wort, lacht Marie. Eine böse Liebesgeschichte.

Sie macht mit Daumen und Zeigefingern wieder ein Foto von mir. Oder ist es ein Selfie?

Peter von Becker: Céleste. Roman. Mare Verlag, Hamburg 2017, 240 Seiten, 22 €. Das Buch des Tagesspiegel-Kulturautors erscheint am 29. August. Präsentation mit Lesung am 31. August um 20 Uhr im Berliner Literaturhaus. Moderation: Andreas Platthaus, Literaturchef der „Faz“. Tickets unter literaturhaus-berlin.de

Peter von Becker: Céleste. Roman.
Peter von Becker: Céleste. Roman.

© Cover: promo

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