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Turner-Preisträger Mark Wallinger vor einem seiner Labyrinthe

© AFP

London: Der Kunst-Transport

Mind the Gap: London hat die älteste U-Bahn der Welt. Zum 150. Geburtstag wurde sie zur Galerie. Eín Report aus dem Untergrund.

Er ist ein Kind der U-Bahn, so nennt er sich selbst, aufgewachsen an der „Central Line“, am Londoner Stadtrand. Als kleiner Junge hat er sich immer auf die Fußgängerbrücke gestellt und den Fahrern der Underground zugewinkt, die hier eine Overground ist. Wenn er ins Bett ging, sang die U-Bahn (oder O-Bahn?) ihn in den Schlaf. Dadam-dadam-dadam. Die Tube, wie die Londoner ihre U-Bahn nennen, war eine Verheißung: Sie führte ihn vom Land in die aufregende Stadt.

Heute ist Mark Wallinger 54 Jahre alt und preisgekrönter Künstler. Andere mögen meckern über die Londoner Untergrundbahn, das Gedränge, die Hitze, die mühsamen Wege, die Unzuverlässigkeit – wenn Wallinger von der Londoner U-Bahn erzählt, die er jeden Tag benutzt, dann tut er es mit großer Zärtlichkeit. Ein enormes Freiheitsgefühl verbindet er mit ihr. Erst Recht, seit er Inhaber eines „Freedom Pass“ ist, den man als Londoner normalerweise mit 60 Jahren bekommt: freie Fahrt auf allen Zügen. „Das ist so, als würde einem der Schlüssel für die Stadt überreicht.“

Ein Privileg, das Wallinger seiner Arbeit verdankt. Der Turner-Preisträger hat schon den britischen Biennale-Pavillon in Venedig bespielt und den legendären Sockel auf dem Trafalgar Square, ist als Bär verkleidet durch die Neue Nationalgalerie getappt, doch das, was er jetzt gemacht hat, sprengt alles bisherige: Das gesamte Londoner U-Bahnnetz hat er mit seinen Arbeiten überzogen. 270 Labyrinthe auf Emailleschildern, für jede Station ein anderes, hat der Künstler für „Art on the Underground“ entworfen.

Das rätselhafte, mythenbeladene Labyrinth erscheint ihm als Sinnbild der Bewegungen von Millionen durch das Untergrundnetz, das auf den ersten Blick so verwirrend erscheint, das aber etwas Beruhigendes hat: wenn man nur immer weiter läuft, führt am Ende auch immer ein Weg hinaus. Jede Reise ist anders, so wie jedes Labyrinth von Wallinger, ihm gefällt die Vorstellung, dass die Leute sich darin verlieren. Das Labyrinth, das aussieht wie ein Hirn und an das U-Bahn-Netz erinnert, ist eine Hommage an die Zeichensprache der Londoner Underground.

Was für eine Bühne! Wallinger ist immer noch ganz aufgeregt. Mehr als drei Millionen potenzielle Zuschauer – am Tag! Im Februar wurde am St. James’s Park das erste Emailleschild enthüllt, seitdem kam peu à peu eins nach dem anderen hinzu, denn in London wird das ganze Jahr Geburtstag gefeiert: der 150. der Londoner U-Bahn. Am 9. Januar 1863 fuhr die Metropolitan Railway zum ersten Mal die Strecke von Paddington nach Farringdon.

Es gibt den Plan als Mousepad, als T-Shirt, als alles

Die Londoner Tube ist nicht nur die mit Abstand älteste U-Bahn der Welt (Paris zog erst 1900 nach, Berlin 1902, New York noch mal zwei Jahre später) – sie ist auch die bekannteste. Keiner anderen Metropole ist es gelungen, ihr Transportsystem zu einer solchen Marke zu machen, zum Synonym für die Stadt, die entlang ihrer U-Bahnstrecken immer weiter in die Umgebung wuchs. (Wobei London zusätzlich noch mit seinen roten Doppeldeckern und den schwarzen Taxis trumpfen kann.) Logo und U-Bahn-Plan liegen als Mousepad auf Berliner Schreibtischen, werden als T-Shirt durch Singapur getragen. Selbst die Durchsage „Mind the Gap“ hat Weltruhm erlangt, das London Transport Museum in Covent Garden gehört zu den Touristenattraktionen, die keine Schulklasse auslässt. Einer der Renner im Museumsshop ist das Plakat, das Man Ray 1938 für die U-Bahn entwarf: „Keeps London Going“. Der Spruch trifft es heute noch.

Grafik und Kunst, Architektur und Typographie haben ganz wesentlich zum Erfolg der Londoner Tube beigetragen, deren Boomzeit mit dem 20. Jahrhundert begann. 1908 schlossen sich die verschiedenen Linien zu einem gemeinsamen Verbund zusammen. Im selben Jahr gab Frank Pick, der neue Direktor für Öffentlichkeitsarbeit, das erste Plakat in Auftrag. Pick, ein eher mürrisches Genie, das bis in die höchsten Etagen des Unternehmens aufstieg, aber alle Ehrungen ablehnte einschließlich des Adelsstands, hat mehr als jeder andere das Bild der Londoner U-Bahn geprägt. Der Jurist, der Ästhetik und Marketing, Funktionalität und Moderne miteinander verband, schlug erst mal einen radikalen Pfad durch den ganzen Schilder- und Schriftenwald, schaffte ein klares Erscheinungsbild – ein Corporate Design. Unter seiner Regie wurde eine eigene Schrift entwickelt, entstand moderne Architektur, sowie das „Bullauge“ als Markenzeichen: ein Kreis, außen rot und innen weiß, mit blauem Balken in der Mitte, auf dem der Name der jeweiligen U-Bahnstation steht – „the most brilliant and elemental logo since the Christian cross“, so Andrew Martin, U-Bahn-Aficionado und -Historiker.

Unter Picks Ägide kam auch die Mutter aller U-Bahnpläne heraus, gezeichnet von Harry Beck. Was heißt gezeichnet, Beck atmete den Plan, lebte ihn, träumte ihn. Auf seinem Wohnzimmerteppich breitete er die Entwürfe aus, legte sich Papier und Bleistift unters Kopfkissen, falls ihm nachts eine Eingebung kam. Sein Geniestreich: die radikale Abkehr von der realistischen, maßstabgetreuen Darstellung der unter- und oberirdischen Welt. Der technische Zeichner brachte Ordnung ins Kuddelmuddel der ganzen Linien, die sich durch die Stadt schlängelten. Jetzt gab es nur noch drei Richtungen: horizontal, vertikal, diagonal. Durch die Erkennungsfarben, rot etwa für die Central, lila für die Picadilly Line, sind diese leicht zu unterscheiden. Beck hat die Metropole handlich gemacht: auf einen Blick zu erfassen, als Faltblatt in jede Manteltasche zu stecken.

1933 wurden die ersten 700 000 Exemplare des heutigen Designklassikers gedruckt, jedes Jahr aktualisierte der technische Zeichner gegen mageres Honorar seinen Plan. Denn die U-Bahn wächst und wächst: Die Victoria Line, heute von so zentraler Bedeutung, wurde erst in den 60er Jahren eröffnet, der zweite Abschnitt der schnellen Jubilee Line gar erst 1999.

Pick machte die U-Bahn zum Ausstellungsort: Er engagierte angesehene Künstler und junge Talente, deren Plakate die Londoner zum U-Bahnfahren verführten, indem sie ihnen – auf kunstvolle, farbenfrohe und moderne Weise – die ganzen Attraktionen zeigten, die sie mit der Bahn erreichen konnten, Rugby-Spiel bis zum Zoo, zu blühenden Gärten, spannenden Museen, schillernden Nachtclubs und die neuen Vororte: „Underground to anywhere – quickest way, cheapest fare.“ Die Poster, von denen 150 Klassiker noch bis Januar im London Transport Museum zu sehen sind, dienten auch der Orientierung und Information, schließlich mussten Millionen von Menschen möglichst reibungslos durch den Untergrund geschleust werden. Weshalb die Kunden auch gebeten wurden, außerhalb der Rushhour einkaufen zu fahren. Humorvoll bekamen die Passagiere U-Bahn-Etikette beigebracht, auf der Rolltreppe rechts stehen, links gehen, bitte nicht rauchen...

Die goldenen Zeiten reichten bis weit in die 30er Jahre. Dann kam der Krieg, in dem die Bahnhöfe als Luftschutzbunker dienten, und danach – ging’s bergab, mit der U-Bahn wie mit der Kunst. Anstelle von individuellen Designern wurden nun, wenn überhaupt, Agenturen mit der Gestaltung von Plakaten beauftragt, deren Qualität und Originalität deutlich nachließ. In den 70er, 80er Jahren hatte die Underground ihren Tiefpunkt erreicht, vor allem in Zeiten von Thatchers Turbokapitalismus hatte der öffentliche Nahverkehr keine Priorität. Je älter die Bahn wurde, desto maroder wurde sie auch. Wer es sich leisten konnte, verzichtete auf die Tube. Erst recht nach dem großen Feuer am Bahnhof King’s Cross 1987, bei dem 31 Menschen starben: Ein brennendes Streichholz, von einem Raucher fallen lassen, hatte die hölzerne Rolltreppe entzündet. Inzwischen sind die alten Modelle alle ausgetauscht.

Die Terroranschläge 2005 dagegen, mitten im morgendlichen Berufsverkehr auf drei U-Bahnstrecken und in einem Bus, die knapp 60 Menschen das Leben kostete, hatte einen gegenteiligen Effekt. Die Leute rückten noch stärker zusammen, identifizierten sich eher mehr mit Londons Underground. Deren Ruf sich schon seit den 90er Jahren wieder verbessert hatte – seit wieder in die Infrastruktur investiert wird und sie zuverlässiger, das Erscheinungsbild auch sympathischer wurde.

{Klar, es ist stickig zur Rushhour. Da muss man durch ...

2000 wurde das Programm „Art on the Underground“ gegründet, das in der Kuratorin Tamsin Dillon eine rührige Direktorin hat. Zum Jubiläum hat sie 15 Künstler, darunter Wolfgang Tillmans und Sarah Lucas, beauftragt, Plakate zu entwerfen. In zähen Verhandlungen hat sie auch durchgesetzt, dass das Cover des U-Bahnplans, der jedes Frühjahr in aktualisierter Form neu herauskommt, von einem Künstler gestaltet wird. Wobei die Kunst dort so diskret daherkommt wie Wallingers Labyrinthe.

Viele Passagiere haben wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt, dass der bunte Globus auf dem diesjährigen Plan das Werk einer Künstlerin ist, der gebürtigen Libanesin Mona Hatoum, die zwischen Berlin und London pendelt. Für sie ist „London die Welt“, die Tube ein polyglotter Ort, „wo fast jede Rasse, Kultur, Nationalität und Religion Seite an Seite lebt“. Einige Leute haben bereits angefangen, die Fahrpläne zu sammeln. Wann hat man schon die Chance, eine Arbeit von Tracey Emin oder Barbara Kruger zu besitzen?

Für Kuratorin Dillon geht es darum, die U-Bahnfahrt zu einem besseren, anregenderen Erlebnis zu machen. (Wozu übrigens auch die plakatierten Gedichte gehören, „Poems on the Underground“.) Darum, das London der Gegenwart widerzuspiegeln. Zu vermitteln, dass es sich bei der Underground um mehr handelt, als um eine Reihe von Strecken und Haltestellen, nämlich um etwas, was die Stadt zusammenhält. Und nicht zuletzt: um die Menschen. „Was ist die Stadt denn, wenn nicht ihre Menschen.“ Die, die bei der U-Bahn arbeiten – 19 000 Angestellte – und die, die sie benutzen. Beide soll das Kunst-Programm erreichen, beiden eine Plattform geben.

Zum runden Geburtstag hat die London Underground sich nicht nur selbst gefeiert, sie hat auch ein spannendes Geschenk bekommen. Der Penguin Verlag hat ein Taschenbuch-Set herausgebracht, zwölf Bände, für jede Linie einen: facettenreiche Auseinandersetzungen mit dem Thema. Das informativste Buch hat der Schriftsteller John Lanchester vorgelegt, das beunruhigendste der Soziologe Danny Dorling, das berührendste Camila Batmanghelidjh mit ihrer wohltätigen „Kids Company“: In „Mind the Child“ geht es um vom Leben geschundene Kids, die sich ein U-Bahn-Ticket gar nicht leisten können.

Natürlich heißt all das nicht, dass es immer das reine Vergnügen ist, in London U-Bahn zu fahren. Beziehungsweise nicht fahren zu können, weil sie schon so früh Feierabend macht. Vor allem in der Rush Hour ist die Underground die Hölle. Man muss endlose Gänge laufen, treppauf und treppab – mit Kinderwagen und Rollstuhl ein Ding der Unmöglichkeit. Aber es gibt keine Alternative. Wie sonst sollte man Milionen täglich durch die Stadt schleusen? Seit einigen Jahren wird an den Wochenenden auch mit Hochdruck an der Modernisierung des uralten Netzes gearbeitet. Entsprechende Plakate bitten, ganz im Pick’schen Sinne, um Verständnis, fordern die Fahrgäste auf, am Freitag im Internet die aktuellen Unterbrechungen nachzuschauen.

Als Berliner kann man ob all der Kreativität ganz neidisch werden. Und so fährt man zum Trost mit der U2 zum Wittenbergplatz, wo das berühmte Londoner Bullauge am Bahnsteig hängt, ein Geschenk der Briten zum 50. Geburtstag der Berliner U-Bahn. Vielleicht schafft die BVG es ja, sich zum 150. Jubiläum ein eigenes positives Image zu verpassen.

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