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Wuchtig: Einen ganzen Block nimmt der gebirgsartige Genossenschaftsbau ein.

© Volker Schopp

Neues Wohnmodell: Züricher Zusammenspiel

In der Schweiz befindet sich eines der interessantesten Experimente für urbanes Miteinander: die Genossenschaft Kalkbreite. Weniger individuelle Fläche, mehr Raum für Gemeinschaft

Was für eine Vorstellung! Man kommt, von der Arbeit erschöpft, nach Hause, schnauft einmal kurz durch – und setzt sich dann mit Nachbarn, die einem sympathisch sind, an den gemachten Tisch. Kein Einkaufen, kein Schnibbeln und Braten, nur selbst bedienen muss man sich. Eine Köchin, von der alle schwärmen, bereitet von montags bis freitags ein Biomenü zu, nach Wunsch auch vegan. An diesem Mittwochabend gibt’s dreierlei Salat, danach Gschwellti, Pellkartoffeln, mit Kräuterquark und Schweizer Käseplatte, zum Nachtisch zarten Schokoladenkuchen.
Auch Singles müssen sich nicht extra verabreden, um in Gesellschaft zu speisen, im modernen Esszimmer setzt man sich einfach, zu wem man will. Eine bunte Runde, der Kameramann erzählt von seinen Dreharbeiten, die Studentin von der Psychologie. Und wenn man genug hat, braust man seinen Teller ab und zieht sich zurück. Oder geht, zwei Stockwerke tiefer, ins Kino Houdini, die Wohnzimmerbar oder schnell noch im Bioladen eins der unzähligen Craftbiere und lose Heu-Milch kaufen.
Eine Luxusanlage? Eine Genossenschaft. Der „Großhaushalt“, dessen 60 Mitglieder fürs Bekochtwerden extra zahlen, ist Teil der Züricher „Kalkbreite“, das die Architekturkritikerin der „Süddeutschen“ zum spannendsten Wohnprojekt 2014 erklärt hat. Ein radikaler Gegenentwurf zur zersiedelten Stadt mit ihrer Verschwendung von Raum und Energie, ein komplexes Modell unterschiedlichster Formen des Zusammenlebens, deren Grundidee aber simpel ist: möglichst wenig individuelle und viel gemeinschaftliche Fläche, eine intensive Nutzung nach Bedarf. Was man nur sporadisch braucht, wie Waschmaschine, teilt man oder mietet es, wie Arbeitsplatz oder Gästezimmer, nach Bedarf dazu: In der hauseigenen Pension bringen Mieter ihren Besuch vergünstigt unter.

Die Kalkbreite ist eine extrem verdichtete offene Stadt in der Stadt. Kein Ghetto, sondern eine lebendige Mischung aus Jung und Alt, aus Wohnen, Arbeiten, Gewerbe und Kultur, nur eine S-Bahn-Station vom Züricher Hauptbahnhof entfernt, die Straßenbahn hält vor der Tür. Da fällt der vorgeschriebene Verzicht aufs eigene Auto nicht schwer. Zumal man fast autonom ist: Zu dem Komplex, der einen ganzen Block umfasst, gehören auch Arztpraxen, ein Geburtshaus, Cafés und Blumenladen. Knapp 260 Einwohner hat das im August eröffnete Projekt, in das auch Greenpeace Schweiz gezogen ist, und es werden immer mehr: Im Lift steht eine Hochschwangere.
Die Idee genossenschaftlichen Wohnens ist alt, allein in Zürich sind 20 Prozent der Wohnungen in Gemeinschaftsbesitz. Aber von der einst progressiven Idee des gemeinschaftlichen Lebens ist oft nicht viel mehr übrig geblieben als erschwingliche Mieten. In den 1980er, 90er Jahren begann eine neue Generation, die alte Idee mit neuem Leben zu füllen, jenseits des Kleinfamilienmodells. Aus dieser Bewegung kommen auch die Gründer der Kalkbreite, wie Geschäftsführer Res Keller, der seit zehn Jahren für das Projekt arbeitet.
Ein Mann mit gutem Sinn für Humor, immer wieder fängt er zu lachen an, auch als er von der Entstehung der Kalkbreite erzählt, was verblüffend einfach klingt: Ein paar Leute hatten eine Idee, wie man sozialer, ökologischer leben könnte, suchten über Anzeigen im Stadtmagazin Gleichgesinnte, entwickelten 2007 in einem Wochenendworkshop ein Konzept für das mehr oder weniger brachliegende Tramgelände an der Kalkbreitestraße – und einige Jahre später wird die konkrete Utopie gebaut auf dem Grund, den die Stadt als Erbpacht zur Verfügung stellt.

Wer einziehen will, muss Mitglied sein und eine Einlage zahlen

Großhaushalt: Von montags bis freitags lassen sich die Mitglieder hier abends bekochen.
Großhaushalt: Von montags bis freitags lassen sich die Mitglieder hier abends bekochen.

© David Gaus

Stefan Walt zog im Mai als einer der Ersten ein. Dem genossenschaftserprobten Rollstuhlfahrer lag die Idee des Großhaushalts besonders am Herzen. Sieben Leute zwischen 26 und 52 („alle WG-erfahren, das war uns wichtig“) teilen sich nun die leicht verwinkelte Neuneinhalb-Zimmerwohnung mit Gemeinschaftswohnküche und Putzfrau, in den weitläufigen Flur haben sie noch einen Kleiderschrank eingebaut. Walt, 52, ist der Älteste; die Jüngste ein kleines Mädchen, das zur Hälfte hier bei der Mutter, zur anderen beim Vater in einem anderen Teil der Komplexes lebt. Wer in die Kalkbreite einziehen will, muss Mitglied sein (1000 Franken für einen Anteilschein) und eine Einlage zahlen, 260 Franken pro gemietetem Quadratmeter, die er beim Auszug zurückbekommt. Dazu kommt die Miete, circa 1000 Franken für 50 Quadratmeter, kalt, was für Züricher Verhältnisse günstig ist. Wer sich das nicht leisten kann, darf Unterstützung beantragen, einige Migrantenfamilien werden von einer Stiftung unterstützt. Auch sozial möchte man sich mischen, selbst wenn drei Viertel der Bewohner, so Keller, „aus einer ökonomisch und sozial aufgeschlossenen urbanen Schicht kommen“. Die Miete berechnet sich nicht nur nach Größe, sondern auch nach Lage: „Die Aussicht wird mitbezahlt“, sagt Keller und grinst. Im sechsten Stock hat Stefan Walt einen grandiosen Blick über die Stadt, bis in die Berge. „Schöner Wohnen kann man sich in Zürich fast nicht vorstellen“, sagt der Behindertenbeauftragte und zeigt seinen Lieblingsplatz: die lauschige Dachterrasse an der WG, so versteckt, dass andere nur selten herfinden. Eine Rarität. Denn die große Offenheit des Projekts hat sich zur größten Herausforderung entwickelt. In der Kalkbreite gibt es nicht nur privaten und öffentlichen Raum, sondern auch halb privaten und halb öffentlichen. Die Grenzen sind nicht immer klar zu erkennen – und werden nicht von allen respektiert. Der große begrünte Innenhof ist für jeden da, der die steile Treppe von der belebten Straße hochsteigt. Die Dachterrassen dagen sind den Bewohnern vorbehalten. Man spürt eine Gereiztheit, wenn jemand zu weit vordringt. Zäune will man aber nicht aufbauen.

Die enorme Medienaufmerksamkeit hat Scharen zum Teil hemmungslos Neugieriger in die Anlage getrieben. Die fröhlich bunten Gartenmöbel vor dem Esszimmer des Großhaushalts etwa sehen aus, als gehörten sie zu einem Café. Tun sie aber ja nicht. Im Sommer kamen nachts Jugendliche und tranken lautstark ihr Bier, polterten die Metallrutsche runter. Auch „privat“ kann in der Kalkbreite Verschiedenes bedeuten. „Privat“ steht an der Cafeteria mit offener Küche und großen Fenstern zum Hof, den sich Bewohner, Gewerbemieter und Pensionsbesucher teilen. Greenpeace-Mitarbeiter machen hier ihre Pause, andere treffen sich zur Besprechung, mittags betreiben Eltern einen Kindertisch. Auf altbauverwöhnte Berliner wirkt die Reduzierung des individuellen Raums extrem. Ein Berliner Zimmer ist leicht doppelt so groß wie die Fläche, die einem Mitglied maximal zusteht: durchschnittlich 33 Quadratmeter pro Person. Und da ist die gemeinschaftlich genutzte Fläche anteilig miteingerechnet. Ein Besucher, erzählt Madeleine Hirsch, hat die Domizile in der Kalkbreite als Essenz der jeweiligen Bewohner beschrieben. Sie selber musste sich von vielem trennen, als sie aus einer 60 Quadratmeter großen Zweieinhalbzimmerwohnung mit Dachboden und Keller in ihr 44 Quadratmeter großes Apartment zog. Sie hat sich Zeit gegeben dafür, ein paar Monate lang. Jetzt hat sie Küchenzeile, Essecke, Sofa und Sessel, Bett, Regal, Kleider- und Aktenschrank, Tischchen für den Laptop, alles in einem Raum, gemütlich und geschickt arrangiert, auf einem ungewöhnlichen Grundriss. Dafür genießt sie die Sicht aus den breiten Panoramafenstern im dritten Stock auf ihre Champs Élysées, wie sie die viel befahrene Straße nennt – allein das Wetter zu beobachten, die Menschen da unten...

Der Umzug war ein großer Schritt für sie. Aber wann, wenn nicht jetzt. In ein paar Monaten wird die 62-Jährige pensioniert, die im Auftrag der evangelischen Kirche Initiativen in Albanien unterstützt. Nachdem ihr Mann vor einigen Jahren unerwartet starb, musste sie sich neu orientieren. Die Kalkbreite empfindet sie als große Chance. Die Geografin hatte keine Ahnung, was ein Cluster ist, als sie sich bewarb, jetzt wohnt sie in einem: Elf Bewohner, auf neun Wohneinheiten verteilt, alle Mitglied des Großhaushalts, teilen sich auf ihrem Stock einen Gemeinschaftsraum. (Es gibt auch andere Clusterwohnungen, die selber kochen, in Gemeinschaftsküchen.) Ihre Entscheidung für die Genossenschaft fiel schnell: „Die Grundstimmung hat mir gefallen.“ Neben den ökologischen und solidarischen Prinzipien haben sie vor allem „die Offenheit, die Neugier, das Lustprinzip, das von den Initiatoren gepflegt wird“ gereizt.

Es ist ein anspruchsvolles, kein bequemes Wohnmodell

Das Foyer mit Concierge und der Bibliothek.
Das Foyer mit Concierge und der Bibliothek.

© Volker Schopp

Hirsch hat sich bewusst für eine Form entschieden, die mehr privaten Rückzug als die WG erlaubt. Beim „Daheimsein unter mehreren“ gilt es ständig, Entscheidungen zu treffen: Hat sie Lust auf eine Begegnung, einen Schwatz? Dann läuft sie über die „Rue Interiéure“, einen auf Außenstehende etwas kahl, studentenwohnheimmäßig wirkenden Flur, in dem die Feuerwehr allein flache Metallschuhschränke erlaubt. Er verbindet die Wohnungen miteinander, ermöglicht beiläufige Begegnungen, ein bisschen wie auf dem Dorf. Hat sie es eilig, wählt sie die Abkürzung durchs Treppenhaus. „Auf wie viele Beziehungen, wie viel Engagement habe ich Lust? Was will ich hier? Wie viel gebe ich von mir preis?“ Immer wieder die Wahl zu haben, bedeutet eine große Freiheit, kostet aber Kraft. Kontrolliert fühlt sie sich trotz der Dichte nicht. „Die Menschen hier sind diskret, aber achtsam.“ Die Kalkbreite ist ein anspruchsvolles, kein bequemes Wohnmodell. Ein gelebtes Experiment, das die Mitglieder fortwährend gestalten. Einmal im Monat findet eine Vollversammlung statt, wo auch darüber diskutiert wird, was mit den frei stehenden „Boxen“ passiert. Einer wurde zum Yogaraum, in einem anderen wird jetzt gestrickt, es gibt eine kleine Fitnessbude (deren Einrichtung offenbar besonders umstritten war), auch die Jugendlichen haben ihren eigenen Raum plus Budget bekommen. Gewohnheitsrechte gibt es nicht, jedes Jahr wird neu diskutiert. Flexibilität gehört zu den zentralen Ideen der Genossenschaft. Dazu zählen auch die begehrten Jokerzimmer, die man für ein paar Jahre hinzumieten kann. Ein Paar hat dort die 19-jährige Tochter untergebracht, ein anderer Mieter seinen alten Vater. Flexibilität bedeutet allerdings auch, dass, wenn eine Familie schrumpft, der Wohnraum es ebenfalls tun muss. Was Madeleine Hirsch unter anderem gereizt hat: Man kann sich engagieren, in einer von vielen AGs, muss es aber nicht. Die zwei Mal im Halbjahr Großhaushalts-Küche sauber machen, die paar Stunden Einsatz auf dem Bauernhof, von dem sie ihr Gemüse bekommen, zählen für die erfahrene Ehrenamtlerin nicht. Man kann, aber man muss nicht: Das gilt für vieles, auch fürs Essen im Großhaushalt. Jedes Mitglied zahlt einen Vereinsbeitrag, dazu 140 Franken im Monat für die Küchencrew und für jedes Menü, zu dem man auch Gäste einladen kann, neun Franken. Wer keine Lust auf Gespräche hat, nimmt sich das Essen mit ins eigene Reich, wer spät nach Hause kommt, lässt es sich in den Kühlschrank stellen, und wer anderes vorhat, meldet sich erst gar nicht an.

Der Entwurf des Büros Müller Sigrist Architekten wurde von der Jury sicher nicht wegen herausragender ästhetischer Qualitäten zum Sieger des Wettbewerbs gekürt. Von der Straße sieht der Komplex erst mal wie ein gigantischer Siedlungsbau aus, die melierte Fassade, in verschiedenen Farben schimmernd, ist gewöhnungsbedürftig. Was den Architekten aber hervorragend gelungen ist: das riesige Bauvolumen zu verteilen und aufzubrechen, so dass dass man nicht erschlagen wird und im Inneren nicht das Gefühl bekommt, in einer rechteckigen Box zu stecken. Eher wirkt der Bau wie eine abwechslungsreiche Gebirgslandschaft. Der Innenausbau ist ziemlich roh, der Beton nackt – eine Möglichkeit, Geld zu sparen. Fröhlich toben die Kleinen treppauf und treppab. „Für die Kinder ist es paradiesisch“, sagt Geschäftsführer Keller. Laut ist es auch. Tagsüber hat man in der offenen, mit Büchern der Bewohner bestückten Bibliothek neben dem Waschsalon keine Ruhe. Abends kann man es sich auf dem Sofa gemütlich machen. Was der Bau an Eleganz und urbanem Schick vermissen lässt, machen einige der Ladenlokale wett, allen voran das Houdini, das Programm-Kino mit Bar und Lounge, von einem eigenen Architekten gestaltet. Dort, wie im benachbarten, ebenfalls sehr stylischen Café Bebek, kann man sogar auf die Straßenbahnen im nächtlichen Depot der Tram blicken. Das Experiment geht weiter: Die Genossenschaft hat schon ein neues Projekt, den Zollhof, noch näher am Hauptbahnhof. Dort wird es noch radikalere Angebote selbst geplanten molekularen Wohnens geben. Für Madeleine Hirsch ist in der Kalkbreite dies das größte Experiment: „dass wir eine Kultur des Umgangs miteinander entwickeln. Jeder kommt ja mit seiner Geschichte, auch seinen Erwartungen.“ Bisher ist sie sehr glücklich hier.

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