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Foto: Inside Media/Sophia Evans

© Inside Media/Sophia Evans

Psychologe Andrew Solomon: "Jeder vererbt etwas Schwäche"

Lieben Eltern ihr Kind auch, wenn es zum Mörder wird? Oder wenn es behindert ist? Andrew Solomon, Psychologe und Buchautor, hat in Familien geforscht - auch in seiner eigenen.

Von Julia Prosinger

Herr Solomon, Sie waren für den Pulitzer-Preis nominiert, „Saturns Schatten“ stand auf der „New York Times“-Liste der 100 besten Bücher des Jahrzehnts. In all Ihren Werken geht es um großes Leid. Zuletzt haben Sie elf Jahre lang 300 Eltern interviewt, deren Kinder schwer behindert sind …

… weil mich Menschen interessieren, die starkem Gegenwind ausgesetzt sind und das in Chancen für sich ummünzen. Mein letztes Buch „Weit vom Stamm“ handelt von Eltern, deren Kinder als unliebsamer Schock auf die Welt kommen. Schließlich schaffen sie es, diese Kinder zu lieben und sogar dankbar zu sein für die Schwierigkeiten, durch die sie zu besseren Eltern wurden.

Sie vergleichen darin Kleinwüchsige mit Hochbegabten, Kriminelle mit Babys, die bei einer Vergewaltigung gezeugt wurden. Was haben die einen mit den anderen zu tun?

Ich beschreibe die Geschichte von Lisa Hedley, die mit ihrer kleinwüchsigen Tochter im Aufzug stand, als eine andere Frau mit Kind reinkam. Das Kind hatte Down-Syndrom, sabberte. Lisa dachte: Mit meinem komme ich klar, mit ihrem könnte ich niemals umgehen. Als sie der Frau in die Augen schaute, stellte sie fest, dass die genau das Gleiche dachte – nur andersherum. Bei der Recherche zu dem Buch war praktisch jeder beleidigt von der Schublade, in die ich ihn steckte. Die Autisten sagten, wie können Sie mich neben Downies stellen, die Gehörlosen sagten, wir sind nicht so krank wie die Schizophrenen. Die Wunderkinder fragten: Was machen wir überhaupt in diesem Buch?

Und: Was verbindet sie?

Bis zur Geburt der Kinder wurden diese Eltern als normal wahrgenommen, plötzlich erscheint die ganze Familie als abnormal. Sie müssen den Schock überwinden, herausfinden, wie sie dem Kind, wie sie sich selbst mit diesem Kind ein gutes Leben schaffen können. Viele der Berechnungen, die sie machen müssen, sind sehr ähnlich. In dem Moment, in dem man feststellt, dass sie etwas gemeinsam haben, hat man einen ziemlich großen Teil der Menschheit versammelt.

Sie haben das Buch auch geschrieben, um Ihren Eltern zu vergeben. Was haben die falsch gemacht?

Sie haben nicht gerade gut aufgenommen, dass ich mich als schwul outete. Meine Mutter wollte meinen ersten Freund nicht treffen, mein Vater sagte, ich würde glücklicher, wenn ich mich überwinden könne, zu heiraten und Kinder zu haben. Sie gaben mir das Gefühl, ich sei eine Schande für sie.

Haben Sie ihnen das jetzt verziehen?

Ich glaubte lang, dass sie mich nicht liebten. Während meiner Arbeit ging mir auf, dass Liebe nicht gleich Akzeptanz ist. Natürlich liebten sie mich, sie konnten nur schwer annehmen, wer ich war.

Sie waren Ihren Eltern so fremd wie die Kinder im Buch.

Diese ganze Idee, dass mein Name im Kind weiterlebt, meine Person, das ist Eitelkeit. Und etwas anderes: Menschen wollen die Fehler vermeiden, die ihre Eltern bei ihnen gemacht haben. Du weißt doch genau, was sie hätten tun sollen, als du drei warst! Und dann ist da ein Kind, das vielleicht ganz andere Dinge will als du selbst damals, das radikal anders ist. Plötzlich weißt du nichts mehr. Diese Erfahrung machen alle Eltern, aber bei den Familien aus meinem Buch ist sie extremer.

Was wollten Sie im Alter von drei?

Mich in meiner ganzen Individualität ausleben. Meine Eltern hatten Sorge, dass ich eines Tages unglücklich werden würde, wenn sie mich ganz ich selbst sein ließen. Darum haben sie mich übertrieben eingeschränkt. Einmal stand ich mit meiner Mutter im Schuhgeschäft und durfte mir einen Luftballon aussuchen. Ich wollte den pinkfarbenen. Sie wollte, dass ich den blauen nehme. Schließlich setzte sie sich durch. Heute ist Blau meine Lieblingsfarbe, meine Mutter hat es geschafft. Schwul bin ich trotzdem.

Sie waren immer anders als die anderen Kinder.

Ich war etwas sonderbar. Auch als ich noch nicht wusste, dass ich schwul bin. In der ersten Klasse wurden wir gefragt, was unsere Lieblingsspeise sei. Die anderen Kinder nannten Hamburger oder Spaghetti. Ich sagte „Ekmek Kadayif“, ein Kuchen, den ich in einem armenischen Restaurant gegessen hatte. Außerdem liebte ich Opern, Baseball interessierte mich nicht im Entferntesten.

"Meine Eltern schleppten mich zum Psychiater"

Foto: Inside Media/Sophia Evans
Andrew Solomon

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Wie ist es Ihnen ergangen?

Einmal, ich war etwa neun, lud ein Junge die ganze Klasse zu sich nach Hause ein – nur mich nicht. Das tat weh. Meine Eltern schleppten mich zum Psychiater. Der sagte: Andrew kommt mit den anderen Kindern nicht klar, weil er ihre Interessen nicht teilt. Er versteht sich besser mit Erwachsenen. In zehn Jahren werden die Kinder Erwachsene sein, dann werden sie ihn mögen. Ein guter Ratschlag. Auf dem College hatte ich viele Freunde.

Mit drei erzählten Sie Ihrer Verwandtschaft, dass Sie Bücher schreiben werden. Ganz schön altklug.

Mir war vielleicht meine Sexualität unklar oder meine Nationalität. Aber ich wusste, ich wollte Schriftsteller werden.

Merkwürdig für ein Kind mit Legasthenie.

Ich war in der Welt der Worte daheim. Mein Vater hat mir jeden Abend vorgelesen. Meine Mutter hat hart mit mir gearbeitet, mir Handwerkszeug beigebracht, um mit der Legasthenie umzugehen.

Auch Ihre Sexualität wollten Sie in den Griff kriegen. Als Teenager versuchten Sie, mit einer Therapie heterosexuell zu werden.

Ich hatte hinten im „New York Magazine“ eine Anzeige gelesen. Nicht gerade ein vertrauenswürdiger Ort, ich geb’s zu. Therapeutinnen versprachen, mit Männern zu schlafen. Ziemlich demütigend. Es gab eine, die nekrophil war, sie mochte mich. Mein bleicher Körper ähnelte wohl einer Leiche. Ich bin nach wie vor schwul, doch die Therapie half mir, besser mit Sexualität umzugehen. Später hatte ich sogar glückliche sexuelle Beziehungen zu Frauen.

Soll man denn all seine Eigenschaften reparieren?

Eltern haben zwei gegensätzliche Impulse: Dinge an ihrem Kind zu verändern und Dinge zu feiern. Natürlich muss man es verändern, ihm Lesen beibringen, Benehmen, Werte. Es ist nur schwierig zu wissen, wann was angebracht ist. Meine Legasthenie sollte man beheben, das Schwulsein, fand ich, sollte man zelebrieren.

Im Buch opfern Eltern sich für ihre Kinder auf. Welche Geschichte hat Sie am meisten beeindruckt?

Wirklich jede. Ich erzähle gern von Clinton Brown, der kleinwüchsig ist. Nach seiner Geburt prophezeiten die Ärzte, dass er nie laufen, nie sprechen und bald im Krankenhaus sterben werde. Die Eltern – sie arbeitete im Callcenter, er auf dem Bau – fanden schließlich den besten Arzt. Der hat Clinton im Laufe seiner Kindheit 29 Mal operiert. Während der Junge eingegipst im Krankenhaus lag, büffelte er für die Schule. Er war der Erste seiner Familie, der studierte. Eines Tages entdeckte seine Mutter Clintons Auto, eine Sonderanfertigung, vor einer Bar. Sie rief mich verzweifelt an: „Er ist einen Meter groß, die anderen sind zwei Meter groß, zwei Bier für sie sind vier Bier für ihn.“ Dann lachte sie: „Wenn mir bei seiner Geburt jemand gesagt hätte, dass meine Sorge sein würde, dass er betrunken mit seinen Collegefreunden Auto fährt – ich hätte mich so gefreut.“

Sie haben auch die Familie von Dylan Klebold besucht, der 1999 gemeinsam mit einem Freund 13 Menschen an der Columbine High School ermordete und sich am Ende selbst umbrachte. Wie können seine Eltern ihn lieben?

Seine Mutter sagte: „Es ist schwer, Dylan zu verstehen, sich einen Reim auf ihn zu machen, sich zu versöhnen mit der Realität. Aber ihn zu lieben war immer einfach für mich.“ Ich fragte: „Was würden Sie gern von ihm wissen?“ Sein Vater antwortete: „Was zur Hölle er sich dabei dachte!“ Seine Mutter blickte zu Boden und sagte: „Ich würde ihn bitten, mir zu verzeihen, dass ich seine Mutter bin und nicht ahnte, was in ihm vorging. Für die Welt wäre es besser gewesen, wenn Dylan nie geboren worden wäre, aber ich habe entschieden, dass es für mich nicht besser gewesen wäre.“

Haben diese Eltern etwas falsch gemacht?

Anfangs wünschte sich seine Mutter, bloß nie nach Ohio gezogen zu sein, nie ihren Mann getroffen, nie diese Kinder geboren zu haben. Sie wünschte, sie hätte Dylans Zimmer durchsucht, seine Tagebücher gelesen. Dann hätte sie ja eine Ahnung gehabt, was er plante. Aber Dylan war gut darin, Geheimnisse zu verstecken. Er zeigte sich seinen Eltern ganz anders als seinen Freunden in der Schule. Ich habe sehr viel Zeit mit dieser Familie verbracht und keinen offensichtlichen Fehler gefunden.

Sie erzählen all diese Geschichten von bedingungsloser Liebe. Trivialisieren Sie die Sorgen dieser Eltern?

Diese Eltern haben sehr gelitten, aber gleichzeitig Freude empfunden, das ist das Spannende. Natürlich gibt es auch all jene, die ihre Kinder in staatliche Einrichtungen geben. Wahrscheinlich sind nur die bereit zu erzählen, die triumphierend aus der Erfahrung hervorgehen. Ich wollte Leute ermutigen.

"Depression ist nicht das Gleiche wie Traurigkeit"

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Andrew Solomon

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Ausgerechnet während dieser Recherche haben Sie entschieden, eigene Kinder zu bekommen. Sind Sie verrückt?

Ich wollte immer Kinder, aber ich dachte, sie könnten darunter leiden, einen schwulen Vater zu haben. Aus irgendeinem Grund hatte ich auch Angst, ich könne unfähig sein, sie zu lieben. Einmal wollte eine Frau in Ruanda von mir wissen, wie sie ihre Tochter, das Kind aus einer Vergewaltigung, mehr lieben kann. Ich stotterte irgendwas von „Versuchen Sie, mehr Zeit mir ihr zu verbringen“. Erst Wochen später wurde mir klar, wie viel Liebe bereits in der Frage steckte. Auf eine komische Art hat mich die Recherche ermutigt.

Jetzt leben Sie in einer besonderen Familie.

Davon wird mein nächstes Buch handeln: Ich habe eine Tochter mit einer Freundin in Texas, einen Sohn, den ich mit einer lesbischen Freundin aus Minneapolis gezeugt habe und mit meinem Mann in New York großziehe. Der hat zwei Kinder mit derselben lesbischen Frau. Alle vier nennen mich Daddy und meinen Mann Papa John.

Manche sagen, Kinder bräuchten Vater und Mutter.

Braucht man einen amerikanischen Vater und eine europäische Mutter? Einen Großstädter und eine Landfrau? Natürlich ist es wichtig, dass Kinder Frauen und Männer kennen. Noch wichtiger ist es für sie zu sehen, dass ihre Eltern sich lieben.

Sie sind depressiv. Hatten Sie nie Angst, die Krankheit weiterzuvererben?

Doch. Aber arme Eltern entscheiden, dass ihre Kinder in Armut aufwachsen dürfen, dumme Leute entscheiden, ihre Gene weiterzugeben. Jeder vererbt etwas Schwäche.

Depressive hören oft: „Reiß dich zusammen!“ Woher wussten Sie, dass Sie nicht einfach melodramatisch sind?

Wenn ich mich hätte zusammenreißen können, hätte ich es getan. Es ist sehr unangenehm, im Zustand der Funktionsstörung zu leben. Depression ist nicht das Gleiche wie Traurigkeit, obwohl man sich in einer Depression sehr traurig fühlen kann. Es ist die Abwesenheit von Lebensfreude.

Traurigkeit hat Gründe.

Umstände aus dem echten Leben können eine klinische Depression auslösen. Wenn zum Beispiel jemand gestorben ist, und man sich nach sechs Monaten weniger traurig fühlt, war man eher traurig. Ist es allerdings noch genauso schlimm und wird sogar schlimmer, dann hat man wohl eine Depression. Ich nehme diese Verlaufskurve sehr ernst.

Was waren Ihre Zeichen von Dysfunktion?

1994 habe ich meinen ersten Roman veröffentlicht – mein großer Traum. Ich hätte so glücklich sein müssen. Aber ich fühlte nichts. In den folgenden Monaten fand ich alles zunehmend anstrengend. Ich hörte meinen Anrufbeantworter ab. Anstatt mich zu freuen, dachte ich: Das sind aber viele Leute, die ich zurückrufen muss. Oder wenn ich duschen wollte. Dafür muss ich ja ins Bad gehen, den Wasserhahn aufdrehen, die Temperatur einstellen, die Seife finden. Zu viel. Gleichzeitig wusste ich, wie lächerlich diese Gedanken sind.

Ist Depression ein Problem derer, die keine existenziellen Probleme haben?

Eben nicht! Es ist keine moderne, westliche Mittelklasse-Erkrankung. Ich bin zu den grönländischen Inuit gereist, zu den Überlebenden der Roten Khmer in Kambodscha, habe Stammesrituale für die Behandlung von Depressionen in Westafrika mitgemacht. Die Krankheit kommt in allen Gesellschaften vor. Wenn eine genetische Schwachstelle depressiv macht, wovon man im Moment ausgeht, und durch bestimmte Umstände ausgelöst wird, stellt sich nur die Frage, ob arme Leute solche Umstände häufiger erleben. Das ist mangelhaft erforscht. Was ich aber weiß: Wenn du ein perfektes Leben hast und dich die ganze Zeit traurig fühlst, fragst du dich warum und gehst zum Arzt. Wenn du ein schreckliches Leben hast, denkst du, kein Wunder. Die Krankheit wird seltener diagnostiziert.

Warum ist Depression immer noch ein Tabu?

Sie wird als Charakterschwäche gesehen. Thomas von Aquin machte einst diese Trennung zwischen Krankheiten des Körpers und des Geistes auf. Die Menschen glaubten, Depression sei ein sichtbares Zeichen von Nichtglauben an Erlösung, also kriminell. Und wir reden nicht gern darüber, weil es uns bewusst macht, wie verletzlich wir sind.

Was ist die beste Medizin?

Depression ist ein vielgestaltiger Zustand, und die Leute, die sie haben, sind sehr unterschiedlich. Für mich war eine Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie hilfreich.

Ihr Vater stellt ein bekanntes Antidepressivum her: Citalopram.

Er arbeitete schon vorher in der Pharmaindustrie, hat sich aber erst für Antidepressiva interessiert, als er gesehen hat, welche Wirkung sie auf mich hatten. Ich selbst nehme andere Pillen – jeden Tag. Ohne sie könnte ich dieses erfüllte Leben nicht leben. Ich habe stets eine Notfallbox dabei.

Man sagt: Glück macht dumm, Liebe blind, aber Depression lässt klar sehen.

Für eine Studie hat man Leute vor Videospiele gesetzt und danach schätzen lassen, wie viele kleine Monster sie getötet hatten. Die Gesunden haben geglaubt, etwa 15 bis 20 Mal so viele Monster getötet zu haben wie tatsächlich, die Depressiven haben sich ziemlich korrekt eingeschätzt. Aber was hilft das? Zum Glücklichsein braucht man einen schützenden Mantel aus Optimismus.

Beflügelt Depression die Kreativität?

In der akuten Phase nicht. Wenn man die Depression überstanden hat, wird viel Energie frei. Ich glaube, die schlimmsten Momente unseres Lebens machen uns zu dem, wer wir sind.

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