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Wie hat er das nur gemacht? Die Bilder von Michael Rohde stellen Betrachter vor ein Rätsel.

© Michael Rohde

Räume von unten: Einfach mal die Perspektive wechseln

Der Künstler Michael Rohde zeigt Wohnungen aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel. Wie hat er diese nur Bilder nur aufgenommen? Ein Atelierbesuch.

Es ist das Chaos, das Michael Rohde in Wohnungen faszinierend findet. Keine Regale, in denen Bücher der Größe nach geordnet sind, keine Kommoden, auf denen die Kerzen nicht brennen sollen. Dieses Aufgeräumte, dieses absolut Durchdekorierte ist ihm zuwider. Deswegen fotografiert der Berliner Künstler Sofas, Waschmaschinen, ganze Räume von unten. Um echte Lebensspuren zu zeigen, Staubflocken und Dreck.

„Wir müssen immer alles so ordentlich haben“, sagt Rohde, 54, in seinem Arbeitszimmer im Wedding. „Aber bei den Spinnenweben unterm Herd, da hört die Kontrolle eben auf.“ Erst mit 30 Jahren kam er, der ausgebildete Maschinenschlosser und studierte Ingenieur, zur Kunst. Auf dem Holztisch vor ihm steht ein leeres Rotweinglas, Zeitschriften liegen kreuz und quer übereinander, ein paar Schokokrümel sind zu sehen. Nichts in dem Zuhause des Künstlers ist bewusst drapiert. Nichts, bis auf die Bilder an den Wänden. Zu sehen sind die Wohnungen von Freunden und Bekannten, die Rohde in den letzten Jahren fotografiert hat. Mittlerweile müssten es zwei Dutzend sein.

Des Rätsels Lösung: Wie die Bilder entstehen

Doch wie macht er das überhaupt? Wie fotografiert er aus dem Unterboden heraus? Gar nicht, Rohde grinst. Seine Bilder sind keine Einzelaufnahmen, sie sind eine Art Collage aus mehr als 200 Fotos. Wie das funktioniert, erklärt er so: In dem Zimmer, das er abbilden will, verrückt er jedes Möbelstück, jedes Detail, und nimmt es aus verschiedenen Winkeln auf. Um Türen von unten zu zeigen, hängt er sie aus den Angeln, Schränke legt er auf die Seite, Tische dreht er um. Fünf Tage, manchmal länger, dauert das Prozedere. Vor allem, wenn die Tage kürzer werden. Und was macht er bei einer Wand oder Dusche, die er nicht bewegen kann? Dafür fährt Rohde zu einer Baustelle oder einem Baumarkt, sucht dort nach einem ähnlichen Motiv, und beginnt zu Hause mit der Fummelarbeit.

Aus den vielen Fotos schneidet der Künstler am Computer die einzelnen Möbelstücke aus und fügt sie schließlich zu einem Gesamtbild zusammen. Jede Schnittkante, jeder Schatten muss dabei stimmen, kein Übergang darf zu sehen sein. Weil dieser Teil seiner Arbeit zwei Monate lang dauert, versteht sich Rohde nicht als Fotograf. Er versteht sich als Maler ohne Pinsel. Und ein bisschen als Philosoph.

Was Wohnungen über Menschen verraten

Wie hat er das nur gemacht? Die Bilder von Michael Rohde stellen Betrachter vor ein Rätsel.
Wie hat er das nur gemacht? Die Bilder von Michael Rohde stellen Betrachter vor ein Rätsel.

© Michael Rohde

Für ihn erzählen Wohnungen viel über einen Charakter: Ist da jemand ordentlich oder nicht? Pflegt er seine Sachen oder geht er achtlos mit ihnen um? Was für Bücher liest er, oder liegen Filme im Zimmer herum? Hat er Fotos, und wenn ja, von wem? „Leider ist es so, dass viele Menschen ein perfektes Bild von sich und ihrem Leben vermitteln wollen – und das Zuhause wird zu einer Fassade“, sagt Rohde. Deswegen möchte der 54-Jährige sichtbar machen, was wir vor Gästen lieber verbergen. Schmutzige Putzschwämme zum Beispiel, oder Kisten mit peinlichem Kram.

Wie überraschend oder sogar gefährlich diese kleinen Verstecke sein können, zeigt er auf dem Bild eines Kinderzimmers. Darauf sind Holzregale und kleine Hocker zu sehen, ein blaues Trampolin und ein Schaukelpferd. Ein Spielparadies. Was viele aber nicht sofort erkennen, sind die Sachen unter dem Bett, die Bombenanleitungen und Pistolen. „Das soll in krasser Form verdeutlichen, dass wir nicht immer wissen, was in den Köpfen von Kindern abgeht, und was sie so vor uns verheimlichen“, sagt er. In Wirklichkeit hat es dieses Detail nie gegeben. Es ist eine Montage des Künstlers. Eine dezente Provokation.

Betrachter sollen ihre Perspektive ändern

Was Rohde mit seinen Bildern noch bezwecken möchte, ist ein Perspektivwechsel. So wie der Englischlehrer John Keating in dem Film „Club der toten Dichter“. In der Szene, wenn er auf den Tisch springt und seine Schüler ebenfalls dazu animiert. „Sieht man die Dinge nur aus seiner Sicht, kann man vieles nicht verstehen. Auch keine anderen Menschen“, sagt Rohde. Deswegen der fremdartige Blickwinkel. Damit die vertrauten vier Wände sonderbar aussehen, damit Alltagsgegenstände wie ein pinker Plastikeimer interessant erscheinen und das Gewöhnliche besonders wirkt.

Bei den meisten Betrachtern stiftet Rohde Verwirrung. „Der Mensch ist eben so gestrickt, dass er alles sofort einordnen und begreifen möchte“, sagt der Künstler. Der erste Gedanke sei oft, ach, die Zimmer sind ja von oben aufgenommen. Doch das sind sie nicht, das waren Rohdes Bilder früher einmal.

Seine Idee entstand in verfallenen Häusern

Vor fünf Jahren war der Künstler eine Weile obdachlos. Er lebte damals am Rande von Berlin, schlief ab und zu bei Freunden oder in verlassenen, verfallenen Häusern. In dieser Zeit fühlte sich Rohde allein und schutzlos, sah sich in den Fängen des Jobcenters, das ihm seine heutige Wohnung zunächst nicht genehmigen wollte. Um seine Ohnmacht auszudrücken, fing er irgendwann an, seinen Schlafplatz mit der Kamera aufzunehmen. Und zwar von oben herab.

Die extreme Froschperspektive wählte Rohde erst, als er Monate später in den Weddinger Altbau einziehen durfte, rein intuitiv, wie er sagt. Dann hält er inne. Gut, vielleicht war es doch eine unterbewusste Entscheidung. Um zu zeigen, wie es ist, die Welt von einem Tiefpunkt aus zu sehen.

Mehr Informationen: http://www.michael-h-rohde.de/

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