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Downtown Chicago. 250 Millionen Autos sind in den USA zugelassen. Außerhalb der Zentren gibt es kaum öffentlichen Nahverkehr.

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Reisen ohne Auto: USA für Aussteiger

Der Mittlere Westen Amerikas ist das Land der Pick-ups. Unsere Autorin nahm lieber Heißluftballon und Trolley. Am Ende ging sie sogar zu Fuß.

Von Katrin Schulze

Nichts geht in diesem Land ohne Auto. Das ergibt sich schon allein aus den geografischen Dimensionen der USA. Ohne Fahrzeug hätten es die Menschen in abgelegenen Regionen wie Alaska und dünn bevölkerten Staaten wie Idaho, Utah oder Nebraska schwer, ihren Alltag zu organisieren. Der öffentliche Nahverkehr ist auf dem Land oftmals mangelhaft und selbst in zersiedelten Großstädten wie Los Angeles ist alles auf den Straßenverkehr ausgelegt. Vor den Reihenhäusern der Mittelschichtfamilie stehen deshalb oft vier Wagen – einer für jedes Familienmitglied, das älter als 16 Jahre alt ist. Sogar zum Wählen geht man in dem Land, in dem 250 Millionen Autos registriert sind, nicht mit dem Pass, sondern mit dem Führerschein.

Auch Touristen bleibt häufig nichts anderes übrig, als den Mietwagen zu nehmen. Aber kann man die USA auch anders erkunden? Was passiert, wenn man den Motor stoppt und aussteigt? Der Mittlere Westen ohne Auto. Ein Experiment – zu Lande, zu Wasser und in der Luft.

Einmal über den Lake Michigan fliegen

Los geht es in Chicago. Die 2,7-Millionen-Metropole kann einen einschüchtern. Mit den mächtigen Wolkenkratzern in Downtown, die im Film schon mal die Kulisse für Gotham City abgeben, und den ausufernden Wohnvierteln, in denen sich ein buntes Holzhaus ans nächste reiht, mit dem Lake Michigan, der wie ein Meer aussieht. Chicago ist eine gewaltige Stadt. Tatsächlich begreifen kann man ihre Größe aber erst, wenn man mit dem Helikopter abhebt und ein Bild erhascht, das durch die Windschutzscheibe eines Mietautos so nie zu haben wäre.

Der Hubschrauber steigt in die Luft, kippt nach vorne und fliegt den Uferstreifen entlang. Links die Hochhäuser, rechts das Wasser, dazwischen der schmale Strand. Dann legt der Pilot den Hubschrauber in eine Kurve und fliegt über Downtown Chicago, das von den Einheimischen wegen der kreisrunden Hochbahntrasse nur „The Loop“ genannt wird. Dahinter, im Norden und Westen liegen die wohlhabenden Vororte, von denen die Menschen jeden Tag in die Stadt und wieder hinaus pendeln. Zur Rush Hour stauen sich die Autos kilometerweit.

Galena lässt sich per Trolley erkunden

Der denkbar größte Kontrast zu Chicago liegt nur eine knappe Flugstunde weiter westlich. Hier an der Grenze zu Iowa findet sich das 3500-Einwohner- Städtchen Galena. Dieses vermeintlich verlassene Schmuckstück ist wohl eine der pittoreskesten Städte in den gesamten Vereinigten Staaten. Große Einkaufsketten sucht man hier vergebens. Die Stadtverwaltung möchte nicht, dass Galena zu einem 08/15-Dorf verkommt. Die Main Street, in der sich die meisten der kleinen Läden mit handgemachtem Schmuck, uralten Büchern und Antiquitäten befinden, wird deshalb mit zuverlässiger Regelmäßigkeit zur schönsten Straße des Mittleren Westens gekürt.

Durch die Stadt bewegt man sich nicht per Auto, sondern per Trolley: Gleich am Anfang der Flaniermeile stehen die an Cable Cars erinnernden Waggons mit den offenen Fenstern. Denn zu sehen gibt es viel. „Mehr als 85 Prozent von Galena sind im staatlichen Verzeichnis historischer Stätten der USA aufgelistet“, erklärt der Mann, der am Steuer sitzt und die Besucher durch seine Stadt kutschiert.

Die Mehrzahl der Gebäude stand hier schon, als der 18. Präsident der USA, Ulysses S. Grant, noch in Galena zu Hause war. An dessen früherem Wohnhaus geht es ebenso vorbei wie an alten Kirchen, dem zweitältesten Postamt der USA und an kleinen urgemütlichen Pensionen. Für die Dauer der Trolleytour fühlt man sich dank des behäbigen Tempos und der frischen Luft ein bisschen ins 19. Jahrhundert zurückversetzt.

Auf den Ballon umsteigen und staunen

Wenige Kilometer außerhalb von Galena startet auf einer Waldlichtung der nächste Teil der Rundreise. Traditionellerweise wird der berühmte Mississippi, der die Staatsgrenze markiert, ja per Boot erkundet – diesmal jedoch per Heißluftballon.

Beim Abheben schaukelt der Korb beachtlich, doch schon bald gleitet er so sanft durch die Luft, dass man direkt vergisst, über den Dingen zu schweben. Was bleibt, ist Staunen. Wie sich der Mississippi, den sie in Amerika alle nur Great River nennen, durch das ursprüngliche Land schlängelt. Wie die untergehende Sonne die Bäume einfärbt, wie der Schatten des Ballons auf die Erde fällt. Wie weit es bis zum Horizont sein kann. Auch das eine neue Erfahrung. Im Auto sieht man oft nur bis zur nächsten Hügelkette oder bis zum nächsten Laster.

Der Flug über die Weinberge, Felder und Höfe scheint kein Ende zu nehmen. Der Wind treibt und treibt den Korb. Erst im dritten Anlauf gelingt die Landung. Mitten auf einem Acker, irgendwo im Nirgendwo. Und prompt ist man zurück in der amerikanischen Autowelt. Um in die nächste Stadt zu kommen, braucht man nämlich einen fahrbaren Untersatz. Den zu finden, ist kein Problem. In den USA kommen auf jeden Einwohner 0,8 Autos, in der Autonation Deutschland sind es gerade mal 0,6.

Die Zahlen spiegeln sich in der Autobesessenheit vieler Amerikaner. Noch mehr als anderswo steht das Auto in den USA für Freiheit, Individualität und Unabhängigkeit. Zu praktisch jeder Tages- und Nachtzeit läuft auf einem Fernsehkanal eine Tuningshow, und es ist kein Vorurteil, dass viele Menschen in diesem Land selbst den Weg zum Briefkasten mit dem Fahrzeug erledigen oder dass man auf den Bürgersteigen der Kleinstädte so selten Menschen spazieren gehen sieht. Erzählt man denen, dass man die Stadt gerne zu Fuß erkunden möchte, erntet man ungläubige Heiterkeit. „Really? Are you serious?“

Auf Schritt und Tritt mit Lincoln

Wer das Auto gegen den Ballon tauscht, erweitert den Horizont – buchstäblich.
Wer das Auto gegen den Ballon tauscht, erweitert den Horizont – buchstäblich.

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In der Kleinstadt Springfield, 250 Meilen südlich von Galena, aber funktioniert das mit dem Spaziergang bestens. Diese Art der Fortbewegung passt zu der Zeit Abraham Lincolns, dem die Stadt ihre Berühmtheit verdankt. Die Familie des ehemaligen Präsidenten grüßt gleich am Eingang des Lincoln-Museums: Vater, Mutter und drei Söhne, alle schön zurechtgemacht, als würden sie gleich zum sonntäglichen Gottesdienst aufbrechen.

Der Weg Lincolns lässt sich in Springfield nachlaufen. Schließlich wohnte der bis heute populärste Präsident der USA, der durch seinen Sieg im Sezessionskrieg die Vereinigten Staaten zusammenhielt und die Sklaverei im Land offiziell beendete, lange Zeit in der Hauptstadt des US-Staates Illinois. Hier arbeitete er als Anwalt und saß im Repräsentantenhaus, bevor er in Washington, D.C., große Karriere machte.

Einen Einblick in das präsidiale Familienleben erhält man im früheren Wohnhaus. Viel Fantasie benötigt es nicht, sich vorzustellen, wie es wohl zu seinen Lebzeiten hier ausgesehen haben muss. Die komplette Straße, in der die Lincolns wohnten, ist nach alten Vorlagen wieder aufgebaut worden. Nachdem man das Haus gesehen hat, das Arbeitszimmer mit dem originalen Schreibtisch, die Küche, die winzigen Schlafzimmer der Kinder, und sich dann die schmale Treppe hinuntergekämpft hat, lohnt ein Spaziergang durch das Viertel und damit durch das 19. Jahrhundert. Autos würden hier nur stören.

Ein Boot pflügt sich mitten durch Chicagos Zentrum

Als Lincoln noch lebte, profitierte die Region im Mittleren Westen von der Erfindung der Eisenbahn. Wie Chicago, wo seit 1923 eine regelmäßige „Auto Show“ stattfindet, richtig groß wurde, hat der Präsident nicht mehr mitbekommen. Doch sich heute mit dem Auto durch die Stadt zu bewegen ist angesichts des Verkehrs eine Qual.

Und es gibt eine viel bessere Alternative: ein Boot, das sich mitten durch Chicagos Zentrum pflügt. Vorbei an allen Prachtbauten und Wolkenkratzern wie dem doppelzylindrigen The Marina oder dem einer Champagnerflasche nachempfundenen Carbide & Carbon Building.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Chicago das höchste Hochhaus der Welt sein Eigen nannte. Inzwischen hat Dubai zwar alle Rekorde gebrochen, aber der Willis Tower, der vielen wahrscheinlich immer noch unter seinem alten Namen Sears Tower bekannt ist, gilt weiterhin als höchster Punkt Chicagos. Knapp gefolgt vom neuen Trump Tower, der allerdings nicht annähernd so beliebt ist.

Zur Vielfalt der Stadt trägt die Architektur einen großen Teil bei. Moderne Hochbauten stehen hier neben Art-Deco-Gebäuden und einem alten Wasserturm inklusive Pumpstation aus den 1870er Jahren. So wirkt alles ein bisschen improvisiert, jedenfalls nicht durchgeplant.

Das passt zu Chicago. Fragt man Menschen, die hier leben, was sie so besonders macht, fallen die Antworten immer ähnlich aus. Man sei freundlicher, bodenständiger und nehme die Dinge ein bisschen gelassener als etwa die New Yorker. Beinahe zwei Stunden dauert die Bootstour.

Der spektakulärste Ausblick bietet sich jedoch erst am Abend. Treffpunkt ist der Navy-Pier gleich beim Riesenrad. Von dort fährt eine Yacht raus auf den Lake Michigan. Von Deck aus sieht man die goldene Sonne hinter den Hochhäusern versinken. Kein Auto hätte einen hierher bringen können.

Reisetipps für den Mittleren Westen

ANREISE

Air Berlin verkehrt mehrmals die Woche zwischen Tegel und Chicago (ab 370 € inkl. Steuern). Lufthansa fliegt über Frankfurt oder München (etwa derselbe Preis). Ein Visum ist nicht nötig. Allerdings braucht man eine Einreisegenehmigung (ESTA), die vorab online beantragt werden muss: esta.cbp.dhs.gov/esta

ÜBERNACHTEN

Hotels im Zentrum Chicagos sind recht teuer. Günstiger wird es in den Vororten, etwa im beschaulichen Oak Park. Von dort fahren Busse und Bahnen in die Stadt. In Galena kann man in gemütlichen Pensionen übernachten – zum Beispiel im Irish Cottage Boutique Hotel (DZ ab 90 €). In Springfield ist das zentral gelegene State House Inn (DZ ab 87 €) ein guter Ausgangspunkt für Spaziergänge durch die Stadt.

RUMKOMMEN

Von Chicago aus lohnt ein Ausflug nach Rockford mit seinem historischen Coronado Theater. Züge verbinden die meisten Städte. Wer für die Rundreise durch den Mittleren Westen doch nicht aufs Auto verzichten will, sollte auf jeden Fall einen Abstecher zur berühmten Route 66 machen.

BEI ENTZUGSERSCHEINUNGEN

Wer sich nach Motoren sehnt, besucht am besten Indianapolis und die dortige Rennstrecke, auf der das legendäre „Indy 500“ ausgetragen wird. In Chicago findet im Februar die größte Autoshow der USA statt.

ANSCHAUEN

Einen atemberaubenden Blick über Chicago aus 300 Metern Höhe bekommt man im John Hancock Tower. Einen Abend mit toller Aussicht und gutem Essen verbringt man bei der Odyssey Dinner Cruise: greatlakes.de

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