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Paulo Lins über seinen neuen Roman: „Rio ist ein Sehnsuchtort für hüftsteife Europäer“

Jahrelang hat Paulo Lins den Rhythmus seiner brasilianischen Heimat erforscht. Warum Blasmusik etwas für Heulsusen und der Samba eine Befreiung ist.

Senhor Lins, könnten Sie zur Einstimmung einen Sambarhythmus anschlagen?
Aber natürlich!

Lins zückt ein Feuerzeug und legt mit der Rechten und unter Zuhilfenahme des Metallknopfs an seinem Jackenärmel, den er abwechselnd zum Feuerzeug auf die metallene Stuhllehne schlägt, einen flotten Rhythmus vor. Dazu summt er eine Melodie.

Verblüffend, diese Leichtigkeit.
Ein tiefer Schlag für den Puls und ein paar helle zum Aufmischen, das geht mir locker von der Hand. Ich spiele alle möglichen Rhythmusinstrumente.

Ihr neues Buch zu schreiben, das von den Anfängen des modernen Sambas handelt, war für Sie offenbar nicht ganz so einfach. Sie haben 15 Jahre lang dazu gebraucht.
Finden Sie, dass das viel Zeit ist?

Es heißt, Sie litten nach dem großen Erfolg Ihres Erstlings „Die Stadt Gottes“ unter einer schweren Schreibblockade.
Das ist nur die halbe Wahrheit. Ich hatte jahrelang für „Die Stadt Gottes“ recherchiert, aber ich rechnete damit, dass es sich in Brasilien höchstens 3000 Mal verkaufen würde. Vor allem an Universitäten, wo das Thema die Soziologen interessieren würde. Es geht ja um den Aufstieg der Drogengangs in den Favelas und die Explosion der Gewalt. Aber dann erreichten meinen Verlag schon vor Auslieferung der ersten Exemplare 60 000 Bestellungen. Und nur eine Woche, nachdem der Roman 1997 erschienen war, rief schon ein Regisseur an, um ein Drehbuch mit mir zu verfassen.

Was war damals so revolutionär an „Die Stadt Gottes“?
Noch nie hatte jemand mit dieser Direktheit und Innenansicht über die Brutalität in den Favelas geschrieben. Das Buch ist ein Roman, doch vieles darin ist authentisch. Ich habe es von Bewohnern erzählt bekommen oder selbst erlebt. Ich wuchs ja selbst in der Cidade de Deus auf, einer Favela im Westen Rios. Meine Eltern zogen dorthin, als ich sieben Jahre alt war.

Ihr Buch verkaufte sich in Brasilien mehr als 100 000 Mal. Dann kam 2002 der Film „City of God“ heraus…
… und wurde ein Welterfolg. Woraufhin auch das Buch in 20 Sprachen übersetzt wurde. Ich reiste viel –  und trank auch viel. Parallel produzierte der Globo-Konzern die Fernsehserie „Cidade dos Homens“, die auf dem Buch basiert. Dann bekam ich einen Sohn. Ich hatte keine Zeit, mich anderen Projekten zu widmen.

Und was ist der andere Teil der Wahrheit?
Der Erfolg hat mich erdrückt. Ich war 39 Jahre meines Lebens unbekannt, und dann wollte plötzlich alle Welt etwas von mir. Die Journalisten, die Kellner, sogar die Stewardessen fragten: Paulo, wann schreibst du das nächste Buch? Ich wollte ja, aber ich hatte Angst, dass ich so einen Hit nicht noch einmal hinkriegen würde. „Die Stadt Gottes“ hatte 600 Seiten. Auch so einen Umfang produziert man nicht so schnell ein zweites Mal.

Dabei hatten Sie doch ein gutes Thema: den Samba.
Trotzdem, das Schreiben eines Buches ist eine sehr einsame Angelegenheit.

Sie waren in guter Gesellschaft: Auch Hemingway, Proust und Dostojewski hatten Schreibblockaden.
Das zu wissen, nützt einem nichts, wenn kein Wort aus einem heraus will. Mir hat die Zeit geholfen, einfach abwarten. Irgendwann ging es wieder.

Lins über Samba und Rhythmus.

Jetzt ist „Seit der Samba Samba ist“ fertig, ein Roman über die Anfänge dieser Musik im Rio der 1920er Jahre. Sie wollten über etwas Positives schreiben, nachdem Sie für die negative Darstellung der Cidade de Deus Kritik einstecken mussten?
Ach, das waren doch nur ein paar Favelaaktivisten, die mich angriffen. Sogar die Dealer in der Cidade fanden mein Buch klasse. Mir geht es mit dem Sambabuch nun eher darum, die Emanzipation der Schwarzen und ihrer Kultur in Brasilien zu beschreiben. Brasilien schaffte die Sklaverei erst 1888 ab, als letzte Nation Amerikas. Doch die ehemaligen Sklaven und ihre Kinder lebten weiter am Rande. Man hatte ihnen zwar Freiheit gegeben, aber weder Arbeit noch Rechte. Erst die Enkel fanden über die Wiederentdeckung ihrer afrikanischen Wurzeln zu neuem Selbstbewusstsein. Einer Identität! Ich war vor Kurzem in den französischen Überseedépartements in der Karibik. Die große Mehrheit der Bevölkerung dort ist schwarz. Die Franzosen haben die Vergangenheit dieser Menschen jedoch ausgelöscht. Man sieht keine Trommeln, hört keine Geschichten. Hier bei uns markierte die Geburt des Sambas die Geburt eines neuen, selbstbewussten Brasiliens. Es war die notwendige Abgrenzung von Europa und den USA.

Sie haben vorhin ja schon einen Samba angeschlagen. Welche Rolle spielte dabei der Rhythmus?
Er war und ist der Motor der Musik. Die ersten Sambistas erfanden oder entdeckten diverse Schlaginstrumente wieder: Tamburin, Pandeiro, Reco-reco, Cuica, Surdo. Die Namen werden Ihnen nicht alle etwas sagen, googeln Sie einfach mal, und Sie werden die Trommeln und Reiben wiedererkennen. Die Musiker sagten sich, Blasinstrumente sind was für Franzosen, Argentinier und Portugiesen mit ihrer Heulsusenmusik. Sie holten die Rhythmen Afrikas über den Atlantik. Sie wollten die Pflastersteine aus dem Boden treiben, sie wollten alle Leiden vertreiben, sie wollten singend und tanzend durch die Straßen ziehen.

Dabei waren der Samba und seine Instrumente verboten.
Alles, was auch nur nach Afrika roch, war Anfang des 20. Jahrhunderts in Brasilien verboten und wurde verfolgt. Ich habe viel Zeit in den Polizeiarchiven von Rio verbracht. Da wurden Musiker für Wochen, Monate, manchmal ein Jahr eingesperrt. Harmlose Instrumente wie das Tamburin wurden beschlagnahmt oder an Ort und Stelle zerstört. Man musste nur schwarz sein und ein Instrument dabei haben – da reichte eine Gitarre –, schon schikanierte die Polizei einen. Der Vorwurf lautete „vadiagem“: Herumtreiberei.

Es gibt in Ihrem Buch diese Szene, in der ein Polizist vor der schwarzen Musikgruppe steht und nicht mehr weiß, welche Musik schon verboten und welche noch erlaubt ist. Er fragt sich: Hat der Polizeichef den Maxixe jetzt untersagt oder nicht?
So absurd war das. Stoff für eine Komödie und eine Tragödie zugleich. Die hatten Angst davor, dass die Leute mit den Hüften kreisen und mit den Füßen trippeln.

Joaquim Barbosa, oberster Richter des Landes und der erste Schwarze in solch einer Position, hat gesagt, dass es gesellschaftliche Bereiche gebe, aus denen Schwarze ausgeschlossen seien.
So ist es. Je höher man steigt, umso stärker spürt man es. Wenn ich ein teures Restaurant besuche, sind da sofort die fragenden Blicke. Was macht denn der Schwarze hier? Muss ein Fußballer oder Musiker sein. Darüber reden Brasilianer nur ungern. Es gibt eine unsichtbare Mauer.

Auch die Liste der 70 Autoren, die von der brasilianischen Nationalbibliothek ausgesucht wurden, um das Land auf der Frankfurter Buchmesse zu repräsentieren, wurde für ihre Unausgewogenheit kritisiert.
Ich bin der einzige schwarze Autor auf dieser Liste. Wenn das kein Rassismus ist?!

Kann man Literatur nach Kriterien wie der Hautfarbe des Autors auswählen?
Es kommt natürlich darauf an, was und wo man sucht – und darauf, welche Vorstellung man von Literatur hat. Diese Liste repräsentiert nicht Brasilien.

Für ihr Sambabuch haben Sie wieder viel recherchiert. Sie schreiben, der moderne Samba sei nicht organisch gewachsen, sondern habe einen konkreten Geburtsort und eine Zeit gehabt.
Es passierte in den zwanziger Jahren in Estácio, einem Stadtteil im alten Zentrum Rios zwischen Hafen, Rotlichtviertel und der heutigen Favela São Carlos. Man nannte die Gegend auch „Pequena Africa“, kleines Afrika. Die Geburtshelferinnen des Sambas waren die „Tias“, die Tanten: schwarze Priesterinnen aus Bahia im Nordosten Brasiliens. Sie hielten in ihren Häusern Zeremonien der afrobrasilianischen Religionen Candomblé und Umbanda ab. Letztere war damals gerade erst aufgekommen, wie der Samba geboren aus den verschiedensten Einflüssen. Es war ein großer kultureller Synkretismus im Gange, ein Mix religiöser Ideen. Auch weil Rio nach dem Ersten Weltkrieg einen Einwanderungsschub aus Europa erlebte.

Die Religionen Candomblé und Umbanda waren sicher auch verboten?
Klar, doch weil die „Tias“ hoch angesehen waren, musste der Staat sich mit ihnen arrangieren. Auf ihren Feiern, die tagelang dauern konnten, gab es auch Speisen aus dem Nordosten: Xinxim, Acarajé, Abará, Sarapatel, Caruru. Und man trank viel: Aluá, Xequetê und Cachaça.

Diese Namen sind ja schon Musik!
Richtig musiziert wurde natürlich auch. Im Schutze der Feiern erklang die verbotene Musik.

Lins über die Freiheit des Schriftstellers.

Und was waren das für Männer, die den Samba erfanden?
Männer in ihren Zwanzigern, die ohne Musik nicht leben konnten. Sie spielten nicht für Geld. Sie entstammten einfachen, armen Familien, hatten allerdings im Gegensatz zu ihren Eltern schon Bildung genossen. Ismael Silva, der für mich der Schöpfer des modernen Sambas ist, war ein herausragender Schüler. Andere waren Spieler, Träumer, Hurenböcke, Capoeira-Kämpfer. Sie rauchten Marihuana, und wenn sie ausgingen, kleideten sie sich sehr stattlich: weißes Hemd, weißer Anzug, weißer Hut, dazu eine rote Krawatte und schwarz-weiße Schuhe. Sie waren das, was man im Portugiesischen „Malandros“ nennt, Vergnügung suchende Bohemiens mit schlechten Angewohnheiten. Manche prügelten sich, waren Diebe. Nur zwei Männer aus dieser goldenen Generation erlebten ein stattliches Alter, darunter Silva. Die anderen starben an Tuberkulose, wurden verrückt oder ermordet.

Der Ismael Silva in ihrem Buch ist schwul und leidet unter Syphilis.
Das hat mir scharfe Kritik in Brasilien eingetragen. Es ist keine Erfindung von mir, sondern bestätigt! In einem homophoben Land wie Brasilien darf der Begründer des Sambas nicht schwul sein.

Sie schmücken die schwulen Szenen aus. Es wird um die Wette onaniert, und jeder bespringt jeden.
Das ist die Freiheit des Schriftstellers. Ich empfand die Kritik jedenfalls als saudumm. Brasilien ist in vielen Fragen konservativer, als man in Europa glaubt.

Mag sein. Beim Begriff Samba denken viele zuerst an halb nackte Frauen, die mit Po und Brüsten wackeln...
... klar, Rio und ganz Brasilien sind zu Sehnsuchtsorten für hüftsteife Europäer geworden.

Laut Ihres Buchs stammt der erste moderne Samba von Ismael Silva: „Me faz carinhos“ – „Sei zärtlich zu mir“.
Silva schrieb ihn 1925 mit nur zwanzig Jahren. Er und seine Kumpels spielten das Stück in den Bars von Estácio. Richtig bekannt wurde es aber erst, als der berühmte weiße Sänger Francisco Alves alle Rechte an dem Lied kaufte und es auf Platte aufnahm. Silvas Name durfte nirgendwo mehr auftauchen. Alle Welt sollte glauben, es stammte von Alves.

Und Silva nahm das hin?
Er war glücklich, dass jetzt ganz Rio sein Lied kannte. Später entstand eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Silva und Alves.

Silva ist auch der Gründer der ersten Sambaschule der Welt. Wie muss man sich das vorstellen?
Am ersten Karnevalstag 1929 zogen rund 50 Leutchen, nur mit Trommeln bewaffnet, durch Estácio. Mit dabei waren die Musiker, die „Tias“, Prostituierte, Capoeirakämpfer, Männer, die als Bahianerinnen verkleidet gingen. Die Truppe nannte sich „Deixa Falar“ – „Lasst sie reden“. Es war eine Trotzreaktion. Sollte sich alle Welt doch lustig machen. Ein historischer Moment.

Sie erwähnen die Prostituierten. Das Rotlichtviertel Rios, in dem Sexsklavinnen aus Europa arbeiteten, beschreiben Sie als eher vergnüglichen Ort. Ihre Schilderungen sind verharmlosend.
Nein. Für die Frauen war es das Schlimmste auf der Welt. Viele Mädchen aus armen Familien in Osteuropa waren unter falschen Versprechungen nach Rio gelockt worden. Dabei spielte die Zwi Migdal eine entscheidende Rolle, eine jüdische Frauenhändlerorganisation. Das Rotlichtviertel Rios boomte damals, es boten sich Frauen aus ganz Europa und Brasilien an. Weiße, Schwarze, indianische Frauen. Die Sambamusiker verkehrten hier.

Sie selbst haben einen Teil Ihrer Kindheit in Estácio verbracht. Welche Erinnerungen haben Sie?
Es gab eine Bar, von der es hieß, dass dort nur Kleinkriminelle verkehren würden, weswegen mir meine Mutter verbot, dort vorbeizugehen. Später erfuhr ich, dass einige der größten Sambamusiker aller Zeiten dort verkehrten, darunter auch Ismael Silva.

Heute wird Rios Karneval vom Umzug der Sambaschulen durchs Sambódromo geprägt. Die Eintrittspreise sind horrend, die Schulen sind kommerzialisiert, stellen Fernsehsternchen als Tänzerinnen ein. Um mitlaufen zu können, muss man ein teures Kostüm kaufen. Viele Menschen aus den Favelas, wo die Schulen entstanden, können sich das nicht mehr leisten. Das hat nichts mehr mit der Welt zu tun, die Sie beschreiben.
Da muss man unterscheiden. Der Samba ist quicklebendig: in den Vierteln, auf der Straße, in den Bars, im Kreise der Familien – einfach überall, wo Leute mit Gitarren und Trommeln zusammenkommen. Das Sambódromo ist wie der Vatikan, aber die Religion wird im Alltag gelebt.

Haben Sie einen Lieblingssamba?
Natürlich, „Muleque atrevido“– Kecker Bengel. Er handelt von der Sambaavantgarde. (Lins beginnt zu singen, das ganze Lied, zwei Minuten lang:) „Wir stammen aus der Zeit des Sambas, ohne Geld, ohne Ruhm… Heutzutage ist es leicht zu behaupten, dass diese Musik unser aller Wurzel sei. Es gibt Leute, die über Samba reden und nicht wissen, was sie sagen. Deswegen pass’ auf, wo du hintrittst, respektiere das Hemd, in das wir geschwitzt haben, respektiere diejenigen, die so viel gewagt haben wie wir.“

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