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Ian Buruma.

© Mike Wolff

Schriftsteller Ian Buruma: „Ich bedauere, keine Tattoos zu haben“

Den Westen dekadent zu finden, ist keine exklusiv muslimische Idee, sagt Ian Buruma. Der Intellektuelle über bigotte Niederländer und künftige Kriegsherde.

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Herr Buruma, wir möchten mit Ihnen über aktuelle politische Entwicklungen vor allem in Europa sprechen. Bevor wir beginnen: Sie haben eine Professur für Demokratie, Menschenrechte und Journalismus. Merkwürdige Mischung!

Solche Kombinationen sind in den USA nicht ungewöhnlich. Man ist an den dortigen Universitäten sehr viel flexibler, was die Fächer angeht. Meine Professur am Bard College in New York gibt mir die Möglichkeit, jedes Frühjahr ein Thema zu wählen, das mich interessiert. Die Bandbreite reicht vom Kino über moderne japanische Geschichte bis hin zu Kriegsverbrecherprozessen.

Ihr jüngstes Buch heißt „’45“. Hält das letzte Jahr des Zweiten Weltkriegs einige Lektionen für die Gegenwart parat?

Einer der Gründe, warum ich es geschrieben habe, waren die Kriege im Irak und in Afghanistan. Die Neokonservativen, die sie vorangetrieben haben, stammen meist aus einer Generation, die keine persönlichen Erinnerungen mehr an Krieg hat. Sie haben gedacht, man müsse einen Diktator wie Saddam Hussein nur stürzen, schon wäre alles in Ordnung. Dabei hat selbst der absolut gerechtfertigte Krieg gegen das „Dritte Reich“ zu Rache, Chaos, Bürgerkriegen und Vertreibungen geführt. Das wollte ich zeigen.

Eine der großen Hoffnungen im Jahr 1945 war die Vereinigung Europas, meinen Sie.

Die Idee war natürlich älter, und sie fand sich sowohl aufseiten der progressiven Linken wie bei der extremen Rechten. Auch die Nazis wollten schließlich ein vereintes Europa – unter ihrer Vorherrschaft. Die Architekten der Europäischen Union, Männer wie Jean Monnet und Robert Schuman, hatten dagegen die besten Absichten. Als Technokraten haben sie die politischen Schwierigkeiten des Projekts unterschätzt, wie man sie jetzt erleben kann. Sie dachten, man könne ein Gefühl der Zusammengehörigkeit verordnen: Die Elite hat eine gute Idee, die Menschen werden folgen. So funktioniert Politik nicht, in einer Demokratie wollen die Leute ihre Interessen vertreten sehen.

Kann Europa an der derzeitigen Krise zerbrechen?

Die Situation ist sehr gefährlich. Jetzt, wo wir den Euro eingeführt haben, müssen wir einsehen, dass eine gemeinsame Währung nur funktionieren wird, wenn die reichen Länder im Norden bereit sind, den Süden zu unterstützen. Dazu braucht es Solidarität. Nicht aus sentimentalen Gründen, sondern weil es in unserem eigenen Interesse ist, dass Europa nicht auseinanderbricht. Wenige Politiker haben den Mut, das auszusprechen, nicht mal Angela Merkel. Dabei ist sie die Einzige, die in der Lage wäre, die Griechenlandkrise zu lösen. Sie müsste sagen: Wir werden alles tun, was nötig ist.

Viele fürchten sich vor der Rückkehr eines übermächtigen Deutschland. Ein Gespenst, das gerade erst verschwunden war, zumal in Ihrer niederländischen Heimat.

Noch in meiner Generation wuchsen wir in einer antideutschen Atmosphäre auf. Es gab Kinder, die bekamen von ihren Eltern zusätzlich Taschengeld, wenn sie sich im Deutschunterricht in der Schule schlecht anstellten. Interessanterweise war Holland zur selben Zeit kulturell näher an Deutschland als an der angelsächsischen Welt. Ein Überbleibsel der Vorkriegszeit. Wenn Sie sich die niederländische Hitparade anschauen, können Sie bis etwa 1962 Sänger wie Conny Froboess, Freddy Quinn oder Caterina Valente finden. Mit den Beatles verschwanden solche Namen dann.

Und was für ein Deutschlandbild hatten Sie?

Aus meiner Sicht waren manche Niederländer Heuchler. Einerseits fühlten sie sich den Deutschen moralisch überlegen, denn das waren die Täter. Gleichzeitig sah man in Badeorten wie Scheveningen endlos viele Schilder, auf denen auf Deutsch „Zimmer frei“ stand. Von den deutschen Touristen Geld zu nehmen, das war kein Problem für sie. Ich selbst hatte auch viele negative Vorstellungen, die ich erst verlor, als ich in Deutschland herumgereist bin. Dabei war mein Vater nicht sonderlich antideutsch eingestellt.

Obwohl er während des Kriegs als Zwangsarbeiter bei Knorr Bremsen in Berlin schuften musste.

Von 1943 bis 1945. Wir haben oft darüber gesprochen. Er hatte den Eindruck, dass die meisten Berliner, die er damals traf, nicht viel von den Nazis hielten. Die Fabrik selbst war ein mysteriöser Ort für ihn, es gab da Deutsche mit jüdischen Namen, von denen er vermutete, dass sie irgendwie versteckt wurden. Im Winter 1972 sind wir gemeinsam nach Ost-Berlin gefahren und haben uns das Werk angeschaut, nichts hatte sich verändert, sogar den Wachturm gab es noch. Ich habe das als sehr deprimierend in Erinnerung, auch weil man in Ost-Berlin nur in irgendeinem Fischrestaurant im Zentrum essen gehen konnte.

"Man kann die Menschen nicht in Züge setzen und zurückschicken"

Ian Buruma.
Ian Buruma.

© Mike Wolff

Ihre Mutter ist in London großgeworden, in einer Familie mit deutschen Wurzeln.

Die Vorfahren waren deutsche Juden. In den 1880er Jahren gingen sie aus wirtschaftlichen Gründen von Kassel und Frankfurt nach Großbritannien. Wollten sie vorher deutscher als die Deutschen sein, versuchten sie nun britischer als die Briten zu werden. Während des Zweiten Weltkriegs rettete die Familie zwölf Kinder eines Kindertransports aus Berlin. Das hielt sie nicht davon ab, gleich zu den ersten Bayreuther Festspielen nach dem Krieg zu fahren.

Sie haben chinesische Literatur studiert, 1975 sind Sie nach Japan gegangen. Was reizte Sie so sehr an Ostasien?

Ich wollte eine fremde Kultur studieren, etwas Ungewöhnliches tun. Wer sich damals für China interessierte, war entweder Maoist oder legte es darauf an, den Rest seines Lebens konfuzianische Klassiker zu lesen. Ich gehörte zu keiner der beiden Gruppen und war deshalb nicht sehr glücklich. Nach China reisen konnte man auch nicht, wenn man kein „Freund des Volkes“ war. Ich habe dann viele japanische Filme und zeitgenössisches japanisches Theater gesehen – eine nicht westliche, aber dennoch moderne Kultur, das hat mich angezogen. Dank eines Stipendiums konnte ich in Tokio Film studieren.

War man dort damals als Westler ein Exot?

Ja, aber das war von Vorteil. Ein Beispiel: In der japanischen Sprache gibt es vier verschiedene Arten, „Sie“ zu sagen, abhängig davon, wie alt jemand ist und welchen Rang er bekleidet. Wenn Sie Anfänger sind, erwartet niemand, dass Sie die alle beherrschen, aber je besser Sie sprechen, desto größer wird die Gefahr, durch einen Fehler sehr unhöflich zu sein. Die Leute haben so etwas aber verziehen, die waren warmherzig.

Ihr erstes von einem halben Dutzend Büchern über Japan beschäftigte sich 1980 mit Tattoos. Besitzen Sie eine Tätowierung?

Nein, und ich bedaure das. Ein Tattoomeister hat es mir angeboten, aber meine damalige japanische Freundin riet mir ab. Tätowierungen sind in Japan etwas für Gangster. Es wäre sicher ein Kunstwerk fürs Leben geworden. Ich habe für das Buch übrigens nur die Fotos gemacht. Die Tätowierungen, die ich aufgenommen habe, waren sehr traditionell, die wurden nicht mit elektrischen Nadeln, sondern per Hand gestochen.

Sie haben seit dem Aufbruch nach Tokio nie wieder in den Niederlanden gelebt. 2004 kehrten Sie in Ihr Heimatland zurück, um mit dem Blick von außen über den Mord am Filmemacher Theo van Gogh zu schreiben, den ein Islamist auf offener Straße getötet hatte. Fanden Sie ein verändertes Land vor?

Ja. Das eine waren die sogenannten Gastarbeiter, vor allem aus der Türkei und Marokko, die man nun sogar in kleinen Städten finden konnte. In den 60er Jahren waren sie noch weitgehend unsichtbar gewesen, aber in der Zwischenzeit hatten sie ihre Familien nachgeholt, Kinder bekommen. Das andere war die politische Stimmung. Als ich die Niederlande in den 70ern verließ, war die Atmosphäre links, und die Leute waren stolz auf ihre multikulturelle Toleranz. Dieser Stolz war einer Skepsis gewichen, ja einer Hysterie.

Woran machen Sie das fest?

Die Politiker sprachen von Bürgerkrieg. Ich habe das mit dem Schock über die deutsche Invasion 1940 verglichen. Damals waren die Leute davon überzeugt, dass die Neutralität der Niederlande wie im Ersten Weltkrieg respektiert werden würde. Als die Deutschen angriffen, fühlte es sich wie Verrat an. Mit dem Mord an van Gogh ...

.... der auf provokante Weise immer wieder Kritik am Islam übte ...

... war es so ähnlich. Viele dachten: Wie kann gerade uns, dem tolerantesten Land der Welt, so etwas passieren?

Seitdem hat sich die Situation nicht gebessert: In Europa hat es weitere Anschläge gegeben, immer mehr Menschen sehen den Islam als Bedrohung.

Manche glauben an einen Zusammenprall der Kulturen: Eine primitive, dörfliche Kultur stößt auf den modernen Westen, an den sie sich nicht anpassen kann. Mohammed Bouyeri, der Mann, der van Gogh getötet hat, ist ein gutes Beispiel dafür, dass diese These falsch ist. Bouyeri hatte nichts zu tun mit der marokkanischen Kultur seines Vaters, die hat er als noch fremder wahrgenommen als die europäische Kultur. Seine revolutionären Ideen bezog er von englischsprachigen Seiten im Netz. Das ist typisch: Die Radikalen sind oft junge Leute, die in vielerlei Hinsicht moderne westliche Ideen verinnerlicht haben, sich in unseren Gesellschaften aber blockiert fühlen.

In Ihrem Buch zum Fall van Gogh, „Die Grenzen der Toleranz“, fordern Sie, es sei an Europa, seine Muslime besser zu integrieren. Ist das immer noch Ihre Meinung?

Ich sehe dazu überhaupt keine Alternative. Diese Menschen sind hier geboren. Was will man denn machen, sie umbringen? Man kann sie auch nicht in Züge setzen und zurückschicken. Stattdessen müssen wir dafür sorgen, dass sie sich akzeptiert fühlen, eine Chance haben auf Bildung und Jobs.

Warum gehören muslimische Immigranten ökonomisch eher zu den Verlierern?

Ich sehe das nicht als kulturelles Problem. Die erfolgreichsten Immigranten in den USA sind momentan Menschen aus Indien und Afrika. Deren Hintergrund ist mindestens genauso dörflich.

"Der europäische Sozialstaat macht es schwieriger, Menschen aufzunehmen"

Ian Buruma.
Ian Buruma.

© Mike Wolff

Kritiker wie die gebürtige Somalierin Ayaan Hirsi Ali betrachten den Islam als totalitäre Bedrohung. Der Vormarsch des IS scheint ihnen recht zu geben.

Es gibt mehr als genug Muslime, die hervorragend in den säkularen Gesellschaften des Westens funktionieren. Warum sollten Demokratie und Islam nicht miteinander vereinbar sein? Indonesien, das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung, ist eine Demokratie. Wir werden die islamistische Gewalt nie ganz stoppen. Man muss verhindern, dass sie völlig außer Kontrolle gerät, und das geht nur mit Unterstützung der nicht gewalttätigen Muslime. Wenn Sie das Ganze, mit den Worten von Ayaan Hirsi Ali, als Krieg des Westens gegen den Islam betrachten, drängen Sie die Menschen in eine Ecke. Die gewalttätigen Revolutionäre werden dann immer mehr Anhänger gewinnen.

Im Essay „Okzidentalismus“ beschreiben Sie den Dschihadismus als antiwestliche Ideologie, deren Wurzeln nach Deutschland reichen.

Mein Kollege Avishai Margalit und ich wollten zeigen, dass die Idee, der Westen sei niederträchtig, seelenlos und dekadent, keine exklusiv muslimische Idee ist. Sie taucht immer dann auf, wenn sich Völker von einer überlegenen Macht bedroht fühlen. Die Antwort deutscher Intellektueller auf die Franzosen mit ihrem Rationalismus, der universelle Gültigkeit beanspruchte, war die Romantik. Arabische Intellektuelle, die später mit dem überlegenen Westen konfrontiert waren, sagten: Sie haben vielleicht mehr Geld und überlegene Waffen, aber wir müssen unsere Seele gegen ihre materialistische Kultur verteidigen. Das sind auch die geistigen Wurzeln der Muslimbruderschaft.

Herr Buruma, eine andere Frage ...

... eines noch: Ich war neulich in Oslo in einer Ausstellung über die erste norwegische Verfassung von 1814. Ein sehr interessantes Dokument. Es wurde von Gelehrten und Juristen geschrieben, die sich als stark von der Aufklärung beeinflusst sahen, besonders der deutschen. Die Verfassung war auch recht progressiv, es wurde zum Beispiel Religionsfreiheit gewährt – mit einer Ausnahme. Ein Artikel besagte: Juden können keine Bürger sein, ihre Religion ist unvereinbar mit westlicher Demokratie, sie bilden einen Staat im Staate, man kann ihnen nicht trauen. Genau dieselben Argumente, die man heute über den Islam hört.

Was kann man konkret für mehr Integration tun?

In gewisser Weise macht es der europäische Sozialstaat schwieriger, Menschen von anderswo aufzunehmen. Es gibt viele Regeln auf dem Arbeitsmarkt – in den USA kann man viel schneller einen Job finden und sich dann nach oben arbeiten. Gleichzeitig sorgt das Sozialsystem dafür, dass unter der einheimischen Bevölkerung sofort der Verdacht aufkommt, die Immigranten oder Asylsuchenden seien faul und nur hier, um Unterstützung abzugreifen. Man sollte deshalb darüber nachdenken, bürokratische Hürden abzubauen.

Würde man damit den rechten Parteien, die in Europa auf dem Vormarsch sind, nicht noch mehr Wähler zutreiben?

Es stimmt, dass der Verlust an sozialer Sicherheit für den Aufstieg dieser Parteien eine Rolle spielt. Ich glaube, das eigentliche Problem ist, dass viele Menschen den Eindruck haben, ihre Stimme sei nichts mehr wert und die Eliten würden sie betrügen. In einer globalisierten Welt, in der internationale Institutionen und multinationale Konzerne immer mehr an Einfluss gewinnen, sehen nationale Regierungen oft machtlos aus. Die Debatte über den Islam ist insofern nur ein Symptom, nicht das wirkliche Problem. Rechtspopulisten wie der Holländer Geert Wilders reden heute weniger über den Islam als noch vor ein paar Jahren, die neue große Gefahr für die nationalen Werte ist nun angeblich die EU.

Und Sie selbst, sehen Sie im Islamischen Staat das größte Problem der Gegenwart?

Es ist das größte Problem im Nahen Osten. Ich glaube nicht, dass es zu einem weltweiten Konflikt führen kann. Langfristig ist die Rivalität zwischen den USA und dem aufsteigenden China weitaus ernstzunehmender. Zwischen diesen zwei Mächten könnte es in der Zukunft zu einem wirklich verheerenden Krieg kommen.

Klingt alles nicht sehr optimistisch. Gibt es etwas, das Ihnen Mut macht?

Wir leben in einer garstigen Welt. Zumindest für Journalisten ist das doch etwas Gutes.

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