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Schüsse im Schweizer Menznau: Ein Jahr nach dem Amoklauf

Vor einem Jahr schießt im Schweizer Menznau ein Mann um sich. Drei Menschen sterben. Die Presse kommt, CNN, Bild, RTL – und macht das Dorf weltbekannt. Wie geht es den Menschen in Menznau heute? Ein Besuch.

Dass das bei uns geschieht.

Überall sonst, aber nicht hier.

Als der Regierungsrat kam, vielleicht zwei Tage nach der Tat, sagt jetzt Gemeindepräsident Blum am hellen Tisch, als die Regierung hier war, um uns zu helfen oder zu trösten, am Freitag oder am Samstag, fragten wir uns: Was können wir tun, damit unser Dorf nicht zum Sinnbild des Grauens wird?

Das Dorf: Menznau, Luzerner Hinterland, mit Hügeln, Bächen und Wäldern, einem Bahnhof, einer Holzfabrik.

Menznau ist Teil der politischen Gemeinde gleichen Namens, bestehend aus drei Dörfern, 3000 Menschen: 6125 Menzberg im Westen, 6123 Geiss im Osten, 6122 Menznau dazwischen, vier Fünftel katholisch, zwei Fünftel Christlichdemokraten, ein Zehntel Ausländer.

Überall, aber doch nicht am Fuß des Napf.

Allein 120 arbeiten in der Kronospan, sagt Gemeindepräsident Beat Blum, ein ehemaliger Schreinermeister, und rührt im Kaffee, isst den Kuchen seiner Frau.

Seit 47 Jahren steht die Fabrik, ein Getüm aus Rohren, Trommeln und Kranen – Herstellung und Veredelung von Holzwerkstoffen – am Rand des Dorfes, Eigentum der Familie Kaindl. An sieben Tagen, rund um die Uhr, stoßen hohe metallene Kamine weißen Dampf in den Himmel, Züge bringen ständig neues Holz, neuen Leim, täglich verlassen 60 Bahnwagen, beladen mit Spanplatten, das Werk. Mit dem imprägnierten Papier, das hier täglich entsteht, ließen sich 100 Fußballfelder bedecken, mit dem Laminat 15, mit den lackierten Platten fünf.

Vom Kleinsten bis zum Größten, dem Hilfsarbeiter bis zum CEO, wir sind hier alle per Du, spricht Mauro Capozzo aufs Band, 49, Chief Executive Officer der Kronospan Schweiz AG, Willisauerstraße 37, in der Firma seit er 16 war.

Hilflosigkeit!, sagt Pfarreileiter Kuhn, ich empfand eine große Hilflosigkeit.

Bei mir war es Wut, fast grenzenlos, flüstert Cécile Gilli, Lehrerin im Dorfschulhaus von Menznau, zwei Bildschirme im Rücken, Zeichnungen an der Wand.

Wut darüber, dass jemand sich das Recht nahm, Menschen zu verletzen, Menschen zu töten, darunter die Mutter meiner Schülerin Fränzi.

Frau Gilli bricht ab.

Vielleicht ist Trauer das bessere Wort, sagt sie endlich und legt die Hände auf den Tisch des Lehrerzimmers, Wolhuserstraße 3a.

An einem Mittwoch, 27. Februar 2013, 8 Uhr 41, fuhr ein Arbeiter der Kronospan, Viktor B., Schweizer kosovarischer Abstammung, der an jenem Tag nicht zur Arbeit musste, in seinem Wagen aufs Gelände der Fabrik, ein ruhiger Mann, unauffällig, höflich, er parkte rückwärts.

Dass Angestellte in die Fabrik kommen, selbst wenn sie frei haben, ist nicht außergewöhnlich, sagt CEO Capozzo in seinem Besprechungsraum, Holzmuster im Regal, Farbmuster, Prospekte, Swiss Floor 2013, Königsklasse. Manche kommen, sagt Mauro Capozzo, aufgewachsen im nahen Willisau, aus Verbundenheit zum Betrieb, aus Liebe zum Gerät, an dem sie fast täglich stehen, sie kommen, oft im Leibchen mit dem Logo der Kronospan, um zu erfahren, wie es der Maschine geht, den Kollegen, sie setzen sich in die Kantine, essen ein Paar Wienerli, etwas Brot, reden, plappern, plaudern.

Die Kronospan, sagt Capozzo, sei Teil des örtlichen Selbstverständnisses.

Um 9 Uhr 06 lud Viktor B., 42, Ehemann, Vater von drei Kindern, ruhig und höflich, ein Foto, das er mit seinem Handy gemacht hatte – die Fensterfront einer Autogarage – auf sein Facebookprofil, trat dann ins Gebäude der Fabrik, in der er seit 14 Jahren arbeitete, schoss im Flur auf die vier Menschen, die dort standen. Jetzt wechselte er, die Pistole in der Hand, in die Nichtraucherkantine, 17 Personen saßen darin, duckten sich, als der Kollege zu schießen begann, unter Tische und Bänke, der Mann traf zwei Männer in den Kopf, streifte einen dritten. Schließlich nahm sich einer mutig den nächsten Stuhl und griff, am Kiefer von einer Kugel verletzt, den Schützen an. Ringend taumelten sie durch den Raum, plötzlich löste sich ein Schuss, kraftlos fiel Viktor B. auf den Angreifer, ein Dritter holte mit einem Stuhl aus, zog ihn dem Mann über den Rücken, jemand griff sich die Pistole und schmiss sie aus dem Fenster, ein anderer holte Kabelbinder, fesselte den Täter.

Was Gott sich am Morgen des 27. wohl gedacht habe, fragten mich viele, sagt Markus Kuhn, Pfarrleiter in Menznau seit vier Jahren, Ehemann, Vater: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, sagt er am langen Tisch des Pfarreizentrums Menznau, Willisauerstraße 2, dass Gott nicht wollte, was damals in der Kronospan geschah, mein Gott ist keiner, der irgendwelche Rätsel setzt, unlösbar für die Menschen, Gott ist für das, was vor vier Monaten geschah, nicht verantwortlich.

Kuhn drückt die Schultern hoch.

Es sei ein Irrtum zu glauben, dass sich im Menschenleben alles erklären lasse, sagt Gemeindepräsident Blum, schweigt und isst von der Roulade seiner Frau.

Irgendwann kamen die Helikopter

Als dann an jenem Vormittag, es war während der zweiten Schulstunde, Deutsch oder Rechnen, immer mehr Krankenwagen durchs Dorf heulten, schloss ich endlich das Fenster und dachte wenig, sagt Cécile Gilli, 59, Klassenlehrerin der dritten Primar.

Und irgendwann, als auch ein Helikopter über Menznau flatterte, noch einer und noch einer, setzte ich mich ins Auto, erzählt der Gemeindepräsident, und fuhr in die Richtung, in die alle fuhren, Polizei, Ambulanz, Richtung Kronospan. Dort war längst abgesperrt, kein Durchkommen, ich fuhr dann, irgendwie seltsam, um Menznau herum, als wäre ich der Wächter des Dorfes, ich wollte sicher sein, dass nichts anderes geschehen war: nur ein Unfall in der Holzi, schlimm genug – dachte ich.

Und schließlich, kaum zurück im Gemeindehaus, der Anruf der Polizei: In der Kronospan sei geschossen worden.

Ein Selbstmord, dachte ich.

Der schwierigste Moment meines Lebens, stöhnt Mauro Capozzo, CEO der Kronospan Schweiz AG, in seinen Besprechungsraum, Holzmuster im Regal.

Meine schwierigsten Tage.

Nur Ohnmacht –

Verzweiflung –

Und ab und zu der Gedanke: Das ist nicht wahr, Capozzo, das kann nicht wahr sein, das hast du nur geträumt. Wach auf. Überall sonst, aber doch nicht hier am Rand von Menznau, Luzerner Hinterland, wo nur Wälder und Hügel sind, wo alle alle kennen, jeder jeden.

57 Vereine gibt es in der Gemeinde, davon zehn Sportvereine, fünf Musikgesellschaften, drei Jagdgesellschaften, drei Schützenvereine, drei Frauenvereine, drei Fastnachtsvereine, zwei Jodlervereine, eine Trachtengruppe, den Kegelklub, man trifft sich im Restaurant Lamm, im Bahnhöfli, manchmal im Menznauerhof, Thai Sawadii. In der Pfarrkirche liegt ein Buch auf, leere weiße Seiten, Gläubige tragen ihre Sorgen ein, Liebe Mutter Gottes, hilf uns heute, dass alles gut geht bei der Musiktaufe, ich glaube an dich. Lieber Gott, möge es mir gelingen, mein Buch fertig zu schreiben.

Der Zufall, sagt Pfarreileiter Kuhn, habe es gewollt, dass er an jenem Vormittag mit einer jungen Mutter telefonierte, um die Taufe ihres Kindes zu bereden, und diese Frau habe ihm erzählt, in der Holzi habe einer um sich geschossen, vielleicht zehn Menschen lägen im Blut, ihr Mann, der dort arbeite, habe sie angerufen, damit sie, falls das Radio nun den Schrecken ausbringe, beruhigt sei, er, ihr Mann, sei unverletzt, Gott sei Dank.

Ich wusste nicht, was ich denken sollte, sagt Pfarreileiter Kuhn, der einst Gärtner war.

Hilflosigkeit.

Ich dachte: Hoffentlich ist unter den Opfern keiner der jungen Männer, die demnächst ihr Kind zur Taufe bringen.

Man denkt Seltsames, wenn plötzlich eintritt, was man außerhalb seiner Welt vermutete.

Die Polizei bat den Gemeinderat von Menznau um einen Raum, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, um darin, mit der Hilfe eines Care Teams, das längst in Menznau war, jene zu betreuen, die das Verbrechen erlebt hatten, fast 20 Menschen. Und um einen Saal, geeignet, darin den Medien Auskunft zu geben.

Es ist ein Glück, sagt Gemeindepräsident Blum, dass man in solchen Momenten vor allem eines tut: funktionieren.

Es gibt nichts anderes.

Amoklauf in Menznau!

Online berichteten das Schweizer Fernsehen, 20 Minuten, Blick, Cash, Tribune de Genève, Tages-Anzeiger, NZZ, FAZ, CNN, Der Spiegel, Bild, The Guardian, Huffington Post, The Australien, RTL jagte einen Übertragungswagen nach Menznau, am Straßenrand lag schwerer schmutziger Schnee, versetzt mit dem Konfetti der vergangenen Fastnacht, drei Coiffeursalons sind im Dorf, zwei Bäckereien, Wolhuserstraße 4, Willisauerstraße 4, zwei Käsereien, zwei Sägereien.

Um neun fielen die ersten Schüsse!

Ich war in Zürich bei einem Kunden, das Handy neben mir auf dem Tisch, lautlos, ich merkte, dass ständig jemand anrief, ich nahm nicht ab und tat es endlich doch, ein Mitarbeiter sagte –

Mauro, in der Kantine –

Eine Katastrophe, einer hat geschossen.

Ich wollte nicht glauben, was der mir erzählte, und rief einen Dritten an: Ist es wahr?

Sofort setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Hause, zur Kronospan, sagt CEO Capozzo mit tiefer Stimme.

Und hier war nichts als Chaos, Polizei, Ambulanz, Medien, Leute weinten, manche schrien, Kameras überall, Mikrofone, man sagte, einige Menschen seien tot, andere verletzt, die meisten schwer.

Wer? Wer?

Ich muss wissen, wer tot ist –

Wer verletzt –

Wie viele?

Ich muss deren Familien anrufen, die Frau, die Kinder –

Wir sind hier alle per Du.

Capozzo, dunkles Gesicht, schaut zum Fenster.

Die Polizei hat eine Hotline eingerichtet

Er sei sehr froh gewesen, sagt Gemeindepräsident Blum am hellen Tisch in seiner Stube, als die Polizei mitteilte, von der Täterschaft gehe keine Gefahr mehr aus. Seine größte Sorge an jenem Mittwochvormittag, dem 27., sagt Beat Blum, habe der Frage gegolten, ob vielleicht noch ein zweiter Schütze unterwegs sei im Dorf, irgendwo. Oder ein dritter.

Die vierte Stunde, Mensch und Umwelt, hielt ich nicht in meiner eigenen Klasse, sondern, sagt Cécile Gilli, wie jeden Mittwoch, in der fünften. Ich stand in deren Raum, und irgendwann, vielleicht zehn Minuten vor Schulschluss, klopfte jemand an die Tür, ich öffnete, trat in den Gang, der Schulleiter reichte mir einen Zettel, flüsterte, ich las den Zettel und begann, vielleicht seltsam, sofort zu weinen.

Information an alle Schüler:

In der Kronospan ist ein Vorfall passiert. Die Polizei ist dort und hat die Situation unter Kontrolle. Es ist eine Verkehrsumleitung eingerichtet. Die Polizei macht darauf aufmerksam, dass man nicht dorthin gehen soll und auch keine Zuschauer erwünscht sind. Für die Schule oder für den Heimweg besteht keine Gefahr. Für Informationen über Angehörige, die allenfalls dort arbeiten, hat die Polizei eine Hotline eingerichtet: 041 248 83 83. Schüler sollen aber nicht selber telefonieren, sondern allenfalls die Eltern von zu Hause aus. Die Schulleitung hat im Moment nicht mehr Informationen.

Was konnten wir tun?, fragt Pfarreileiter Kuhn.

Wir trugen das Sorgenbuch, das hinten in der Kirche lag, nach vorn, legten es vor den linken Seitenaltar, wo die Kerzen sind, die ständig brennen, machten es so zum Kondolenzbuch.

Was noch?

Wir richteten den Pfarreisaal her, stellten Tische und Stühle auf, eine Leinwand für die Medienkonferenz um zwei Uhr.

Sie habe, sagt Cécile Gilli, als die Stunde zu Ende gewesen sei, wieder ins Schulzimmer ihrer Drittklässler gewechselt, einige Kinder seien noch dort gewesen und hätten ihr erzählt, vorhin sei Fränzis Großvater gekommen und habe seine Enkelin aus der Stunde geholt.

Eine halbe Stunde später trat ich ins Büro der Schulleitung, es war Krisensitzung, kurz nach zwölf, ich sah die Gesichter der Kollegen, Gesichter aus Stein: Ist etwas mit Fränzis Papa, Hauswart in der Kronospan?

Alle schüttelten den Kopf.

Oder mit ihrem Großvater?

Sie schüttelten den Kopf.

Mit ihrer Mami?

Fränzis Mami ist tot.

Um zwei Uhr war Medienkonferenz, kein Stuhl im Pfarrsaal leer.

Was weiß man über das Motiv des Täters?

Darüber wissen wir noch nichts.

Stimmt es, dass der Täter psychische Probleme hatte?

Das wissen wir noch nicht.

Stimmt es, dass er bis vor kurzem in den Zwangsferien war?

Dass er vor seiner Entlassung stand?

Seinen Vorgesetzten drohte?

Stimmt es, dass die Kronospan vor dem Zusammenbruch steht?

Drama in Menznau!

Amoklauf in Holzfirma!

In der Firma Kronospan Schweiz AG in Menznau kam es heute Mittwochmorgen zu einer Schießerei. Laut Kantonspolizei Luzern gab es drei Tote und sieben teils schwer verletzte Personen. Unter den Toten ist auch der mutmaßliche Täter. Die Schießerei fand am Morgen kurz nach neun Uhr auf dem Firmengelände des Holzverarbeiters Kronospan, einem Familienunternehmen, an der Willisauerstraße in Menznau statt. Es wurden verschiedene Rettungskräfte aufgeboten, das Gebiet großräumig abgesperrt. Zum Einsatz kam auch die Rettungsflugwacht, die mit drei Helikoptern im Einsatz war, wie eine Sprecherin sagte. Update folgt.

Vielleicht das Aufreibendste in jenen Tagen war es, die Unterstellungen der Medien dauernd zu dementieren, sagt Mauro Capozzo, vermutlich habe ich erst damals begriffen, wie die Medien funktionieren, sie suchen, brauchen, wollen schnelle Erklärungen, wo schnelle Erklärungen nicht zu haben sind, ein Fehlbarer muss her, ein Sündenbock, jetzt und sofort, und dient dazu nicht der Täter, dann die Firma, in der er arbeitete, oder die Behörde, die ihn einbürgerte, Viktor war seit dem 1. Februar 1999 bei uns, zuletzt als Maschinenführer, ein netter und freundlicher Mensch – und, bevor er starb, ein Mörder.

Ende Februar, knurrt Capozzo, habe er täglich fünf Zeitungen gelesen, heute noch zwei.

Was ich Ihnen erzähle, möchte ich lesen, bevor es in der Zeitung steht, bittet Pfarreileiter Kuhn.

Was ich erzähle, sagt Gemeindepräsident Blum, ist meine private Sicht.

Three dead in Lucerne shooting.

Swiss Finance Minister Eveline Widmer-Schlumpf said what had happened was unbelievable and terrible, adding that the cabinet extended its sympathy to the families of the victims. Last month, a 33-year-old man killed three women and wounded two men in a southern Swiss village.

Update.

"Jetzt gibt es ein paar Engel mehr"

Am Nachmittag des 27., sagt Cécile Gilli, fuhr ich in meinem Auto ins Dorf hinunter, an der Straße stand eine junge Frau und winkte heftig, ich kannte sie nicht und dachte, die will in die Mehrzweckhalle zum Care Team, eine Betroffene vielleicht, die Verwandte eines Opfers, ich hielt an, sie öffnete die Tür. Stieg nicht ein.

Sie haben bestimmt gehört, was heute in Menznau passierte, sagte die Fremde.

Ich habe davon gehört, ja.

Können Sie Namen nennen?

Herr, gib Fränzis Mutter die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihr. Der ganzen Familie wünschen wir Kraft und Frieden in dieser schweren Zeit.

Unsere herzliche Anteilnahme für alle, die um einen lieben Menschen bangen und trauern.

Jetzt gibt es ein paar Engel mehr, die euch begleiten und tragen helfen.

Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein: Worte Jesu.

Was das Schlimmste war? Dass hier möglich ist, was überall möglich ist, sagt Beat Blum, Gemeindepräsident seit fünf Jahren, Präsident der Feldmusik Menznau, Schafzüchter und Eselhalter.

Ja, sagt Pfarreileiter Kuhn, er habe in der Nacht danach tief geschlafen, allerdings kurz.

Ja, er habe in der Nacht danach geschlafen, sagt CEO Capozzo, erschöpft vom Geschehenen und einigen Tropfen Baldrian.

Dorf unter Schock!

Hier wurde Familienvater Viktor B. zum Killer!

Wie unsere Zeitung aus gut unterrichteten Kreisen weiß ...

Wie eine zuverlässige Quelle sagte ...

Wie die gleiche Quelle meinte ...

Am nächsten Morgen, dem 28., stand ich vor dem Zimmer meiner Klasse und reichte jedem Kind die Hand, nannte es bei seinem Namen. Wir setzten uns im Kreis, eine große Kerze in der Mitte, ich sagte, Fränzi sei heute nicht bei uns, weil ihre Mami in der Kronospan gestorben sei. Jetzt begannen sie zu sprudeln und zu erzählen, wilde Geschichten, wahr und unwahr, manche sagten, sie hätten gestern Abend zu Hause geweint, einige meinten, wie froh sie seien, dass der Täter nicht mehr lebe. Und ich merkte, es ging meinen Drittklässlern nicht so sehr um Fränzi, die nun keine Mutter hatte, sondern um ihre eigene kleine große Angst, um die Verunsicherung, weil in Menznau am 27. wirklich geworden war, was sie für unmöglich gehalten hatten, die unheile Welt.

Jedem Kind gab ich eine kleine Kerze, dann gingen wir hinaus in den Hof, eine Prozession, schweigend, obwohl ich nicht gesagt hatte, sie müssten dazu schweigen, wir stellten die Kerzen in eine Schale – vielleicht war dieser Moment für mich der schönste in jenen Tagen, als Menznau aus den Fugen war.

Zwar habe er auf den Straßen niemanden weinen gesehen, aber das Dorf sei irgendwie anders gewesen, schwer zu benennen, halb wach, verstört, als läge es unter einem Deckel, sagt Gemeindepräsident Blum.

Es ist schwierig, ins Haus eines Toten zu treten, mit seiner Witwe zu reden, die du kennst, eine Stunde lang –

Vielleicht zwei –

Und dann ihre Worte zu begreifen, die sie beim Abschied sagt: Lieber Mauro, gell, du bringst mir den Mann wieder heim.

Die Kronospan drosselte die Produktion, stellte sie dann ein, zwei Tage lang kein Rauch am Dorfrand von Menznau. Am Donnerstagnachmittag um drei, 30 Stunden nach den Schüssen, war ökumenischer Gedenkgottesdienst in der katholischen Kirche Sankt Peter und Paul von Willisau, keine Bank leer, drei der Männer, die schwer verletzt in Spitälern lagen, waren Willisauer, zwei über 60 Jahre alt, Familienväter, einer 50, vier Fünftel der Menschen, die bei der Kronospan arbeiten, leben höchstens 15 Kilometer von der Fabrik entfernt.

Ein Priester sprach, man sei nicht hier, um das Geschehene zu interpretieren, man sei nicht gekommen, um zu spekulieren. Nichts sei mehr so, wie es einst gewesen sei, sagte der Regierungspräsident aus Luzern. Schließlich stand Mauro Capozzo, CEO der Kronospan Schweiz AG, am Mikrofon, die Augen gesenkt: Wir alle sind fassungslos –

Ein paar Minuten haben unsere heile Welt zerstört –

Ich wünschte mir –

Ich könnte die richtigen Worte finden –

Die Frage nach dem Wieso lässt uns nicht los –

Wir verlieren nicht Mitarbeiter, wir verlieren Freunde –

Nein, sagt er jetzt am Tisch im Besprechungsraum, für seine Tränen habe er sich nicht geschämt. Dort zu stehen, sei für ihn sehr schwierig gewesen, die Augen von 500 Menschen auf ihn gerichtet, und zu spüren, die hier sitzen, die möchten nur eins: Dass ich irgendwie irgendwo einen Knopf drücke und alles ungeschehen mache.

Vor der Kirche warteten Reporter, lauerten auf Bilder, auf Töne und erzählten, als die Willisauer aus dem Gebäude traten, eben sei bekannt geworden, ein Vierter, schwer verletzt im Spital, sei gestorben .

Die Feldmusik Menznau probte, wie jeden Donnerstagabend, im Gemeindehaus, Wolhuserstraße 3. Wir dachten, das sei richtig so, sagt Gemeindepräsident Blum, Präsident der Feldmusik, wir dachten, so geben wir der Angst keine Chance, sich einzunisten im Dorf.

Angst? Ja, in den Tagen danach hatte ich Angst, ich saß zum Beispiel im Bus, sah vielleicht einen Mann und überlegte: Wenn der nun um sich schießt!, sagt Pfarreileiter Kuhn, Schmuck im linken Ohr, eine Kerze auf dem langen Tisch des Pfarreizentrums.

Und heute?

Fährt hier heulend und blinkend eine Ambulanz vorbei, denke ich an den 27. – Ja.

Hat der Tag Sie verändert?

Nein, sagt Markus Kuhn.

Nein, sagt Beat Blum.

Nein, Cécile Gilli.

Nur insofern, als ich jetzt weiß, dass manche Arbeiter es schätzen, wenn ich mich, wider jedes betriebliche Organigramm, ganz direkt um sie kümmere, mich zu ihnen an die Maschine stelle und plaudere oder mit ihnen das Znüni esse. Viele schätzen das. Ich weiß, es klingt überheblich, allenfalls zu schön, aber ich begreife die Belegschaft, 420 Mitarbeiter, als Familie, sagt Mauro Capozzo, CEO, bei der Kronospan seit er 16 war.

Wie gestern mehrere Personen unabhängig voneinander gegenüber unserer Zeitung berichteten, soll der Schütze mit einem Stuhl erschlagen worden sein. Eine Frau, die laut eigenen Aussagen mit mehreren Personen aus dem Kronospan-Umfeld gesprochen hat, sagt: Der tote Amokläufer wies keine Schussverletzung auf. Bei der Polizei wollte man sich dazu gestern nicht äußern.

Keines der Gerüchte war wahr, sagt Gemeindpräsident Blum am hellen Tisch und schaut hinaus auf die Weide, darauf seine Schafe.

Die Kantonspolizei teilte mit, der Mann, der vor zwei Tagen in der Kronospan um sich geschossen habe und dann selbst zu Tode gekommen sei, sei am 13. März 1998 vom Kriminalgericht Luzern wegen Raubes zu zwölf Monaten Gefängnis bedingt verurteilt worden.

Am 24. November 1998 hatte Viktor sich bei uns vorgestellt, sagt Capozzo, von seiner Vorstrafe erzählte er nichts, wir stellten ihn ein, er begann am 1. Februar 1999, er arbeitete, drohte nicht, war nie in Zwangsferien, stand nicht vor der Entlassung.

Es standen, sagt Pfarreileiter Kuhn, im Kondolenzbuch auch ganz andere Sätze: Dieses Ausländerpack gehört entsorgt! Ich bat den Sakristan, den Eintrag mit schwarzem Stift zu übermalen.

Was uns vielleicht am meisten zusetzte, war die Übermacht der Medienmenschen, ihre Schamlosigkeit, sagt Gemeindepräsident Blum.

Die standen am Bahnhof und fingen abends, wenn sie von der Arbeit kamen, die Leute ab und drückten ihnen das Mikrofon ins Gesicht, sagt Cécile Gilli, Lehrerin, acht Jahre im Kirchenchor Menznau.

Für ein Foto der Kantine boten sie unseren Mitarbeitern Geld, knurrt Mauro Capozzo, manche läuteten an der Tür der Opfer, einen Blumenstrauß in der Hand, und fotografierten ungefragt die Witwe und deren Stube.

Das Haus des Amokschützen stand gestern den ganzen Tag leer. Frau und Kinder des verstorbenen Todesschützen kommen zurzeit wohl bei Bekannten unter. In der hauseigenen Einfahrt steht ein Auto mit Luzerner Kennzeichen geparkt, im Eingangsbereich befinden sich diverse Kinderschuhe und ein Kickboard. Die Rollläden sind nur teilweise geschlossen. Alles macht einen ordentlichen und aufgeräumten Eindruck.

Wir beschlossen, die Kantine zu entfernen und eine neue zu bauen, sagt CEO Capozzo. Auch ein Mahnmal werden wir errichten, nicht auf dem Gelände der Fabrik, irgendwo in der Nähe.

Hat das Dorf sich verändert?

Er schiebt die Unterlippe hoch, schüttelt den Kopf.

Nein, sagt Gemeindepräsident Blum.

Am Freitagabend um halb acht, auf Wunsch vieler, war Gedenkfeier in der Pfarrkirche Menznau. Helferinnen empfingen am Eingang und reichten den Gläubigen Scherben aus Keramik, zerschlagene Tontöpfe, Markus Kuhn stand im Chor und sagte, diese Teile drückten aus, dass am Mittwoch in der Gemeinde sehr viel zerbrochen sei. Er lud ein, die Scherben, um wieder ein Ganzes zu werden, wenngleich in anderer Gestalt, auf die Stufen vor dem Altar zu legen, eine Prozession begann, die Orgel spielte minutenlang, selten zuvor war die Kirche so voll.

Wieder sprach der Regierungspräsident, dann der Gemeindepräsident, schließlich die Verwaltungsratspräsidentin der Kronospan, Pfarreileiter Kuhn las aus dem Markusevangelium: Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass es sich mit Wasser zu füllen begann. Jesus aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich, und es trat völlige Stille ein. Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben? Da ergriff sie große Furcht, und sie sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen?

Ich stellte dann die Frage, ob Gott am 27. geschlafen habe, ich sprach von den Stürmen des Lebens, die uns so oft in Angst und Krisen stürzen, ein solcher Sturm, sagte ich, sei auch das Attentat, das uns glauben lasse, Gott sei weit weg, abwesend, doch wie die Jünger Gottes Gegenwart in der Stille erfahren hätten, dürften auch wir in Menznau hoffen und glauben, dass er uns begleite durch alle Stürme, dass er, Gott, mit uns im gleichen Boot sei.

Ob das Dorf sich verändert habe? Ich stelle keine Veränderung fest, sagt Cécile Gilli, in Menznau seit 38 Jahren, vielleicht hat das damit zu tun, dass wir hier sehr bäurisch sind, dem Praktischen zugewandt, einer ländlichen Vernunft, das Leben, so banal die Aussage ist, geht weiter, hier kümmert es keinen, dass der andere, wenn er zur Kirchenchorprobe kommt, schwarze Nägel hat, vielleicht noch Sägemehl auf den Schuhen.

Wir sind hier, was Äußerlichkeiten angeht, eine eher grobe Gesellschaft, Menznau ist vom Holz geprägt, vom Wald, von den Hügeln. Wir sagen etwas – wenn wir denn etwas sagen – in deutlichen Worten auf direkte Art. Dieses Grobschlächtige, vielleicht Urtümliche oder Einfache hat uns geholfen, das Unfassbare zu bestehen, irgendwo zu versorgen, wo es, zwar unvergessen, nicht länger schmerzt, sagt Mauro Capozzo, CEO der Kronospan Schweiz AG, Mitglied der Konzernleitung, und schaut auf die Uhr.

Mach, dass morgen Mittwoch die Operation von Heidi gut verläuft und dass sie keine Chemo mehr machen muss. Danke, liebe Maria.

Bitte gib uns einen Schutzengel mit auf unsere Reise, vielen Dank.

Lieber Jesus, sei mit mir, wenn ich aufs Sozialberatungszentrum muss.

Am 18. März, drei Wochen nach der Tat, in Bern war Session, Fragestunde, bat der Luzerner Nationalrat Albert Vitali, Ehrenpräsident des Organisationskomitees der Schweizerischen Rammlerschau 2015, den Schweizer Bundesrat um Auskunft darüber, was er zu tun gedenke, damit Vorbestrafte nicht mehr Schweizer würden.

Viktor B. habe vermutlich unter psychischen Problemen gelitten, schrieb die Kantonspolizei, ein entsprechendes Gutachten, gestützt auf die Aussagen seines Umfelds, sei in Auftrag.

Die Trauer in der Region nimmt keine Ende!

Die Zahl der Todesopfer nach der Bluttat in der Kantine der Firma Kronospan in Menznau erhöht sich auf fünf. Wie die Staatsanwaltschaft Sursee mitteilte, verstarb am 4. April im Krankenhaus ein 61-jähriger Mann.

Das Leben im Dorf, sagt Pfarreileiter Kuhn, ist wieder wie damals.

Normal, sagt Gemeindepräsident Blum.

Trotz Schneegestöber und verschneiten Zufahrten: Die Braunviehzüchter der Region Menznau erschienen mit einer stattlichen Anzahl Tiere an der Viehschau. Den Miss-Titel bei den Braunviehkühen konnte die Jackpot-Tochter Joana von WTS-Genetics, Menznau, gewinnen.

Darf ich noch etwas sagen?

Wenn sich in Menznau etwas verändert hat, dann meine Drittklässler, die sich jetzt, seit sie keine Mutter hat, um Fränzi kümmern, sie begleiten, wenn sie Angst hat, sie einladen und beschützen, ein unscheinbares Mädchen, fast scheu, mit dem ich manchmal leide – ich weiß nicht, ob das gut ist.

Erwin Koch

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