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Johnny Depp als Inspektor im Ripper-Film "From Hell".

© pa/dpa

Serienmörder: Die Blutspur von Jack the Ripper

Seine Handschrift war eindeutig: Er durchtrennte seinen Opfern die Kehle und schlitzte sie auf. Wie der Serienmörder Jack the Ripper vor 125 Jahren zum Mythos wurde.

Von Andreas Austilat

Mag sein, dass es in London heute Gegenden gibt, an denen man längere Zeit unbehelligt herumstehen kann. Die Ecke Whitechapel Road/Gunthorpe Street gehört nicht dazu. Gerade hat der zweite Bettler vor dem White Hart nach Geld gefragt. Der Pub markiert die eine Seite der Einmündung, die nicht mehr ist als ein Torbogen. Dann ist da noch die junge Frau, die auf der anderen Seite der kaum zwei Meter breiten Gunthorpe Street steht. „Das ist das Tor zu einer anderen Zeit“, murmelt sie, „und ich kann dich hineinführen“.

Das hat sie schön gesagt. Vor allem, wenn man weiß, dass diese Gasse vor ziemlich genau 125 Jahren George Yard hieß. Im August 1888 starb dort die Prostituierte Martha Tabram, getroffen von 39 Messerstichen, allein neun in den Hals, fünf in die linke Lunge, zwei in die rechte, tödlich war der Stich ins Herz.

So grausam der Mord auch war, Martha Tabram wäre längst vergessen – wenn nicht die Möglichkeit bestünde, dass sie dem mutmaßlich berühmtesten Killer aller Zeiten in die Hände fiel: Jack the Ripper. Dafür sprechen: die Gegend, Whitechapel, damals ein übel beleumundetes Viertel im Londoner East End, heute in Teilen chic geworden, in anderen immer noch arm. Das Opfer, eine Prostituierte knapp über 40, der Ripper mordete ausnahmslos Prostituierte, und bis auf eine waren alle über 40. Die Waffe, ein Messer. Der Tattag, er folgte auf den Bankfeiertag, der Ripper schlug stets um Wochenenden oder Feiertage zu. Und 1888 war sein Jahr.

Gegen den Ripper als Täter spricht Donald Rumbelow. Der 73-Jährige mit den buschigen grauen Augenbrauen und einer Stimme, mit der er sich noch inmitten eines Verkehrsstaus Gehör verschaffen kann, ist führender Ripperologe. 30 Jahre lang war er Polizist in der City of London, dann Kurator des Londoner Polizeimuseums. Er hat „The Complete Jack the Ripper“ geschrieben, ein Buch, an dem kein Ripper-Forscher vorbeikommt. Johnny Depp auch nicht. Als der die Hauptrolle im Ripper-Film „From Hell“ übernahm, ließ er sich eine Stunde lang das Viertel zeigen. „Netter Kerl“, sagt Rumbelow, „hatte mein Buch gelesen.“ Er führt regelmäßig zu den Tatorten des Rippers. Das tun andere auch, aber seine Gruppen unterscheiden sich schon durch ihre schiere Größe – manchmal hat er 100 Leute und mehr im Schlepptau.

Als Martha Tabram das letzte Mal lebend gesehen wurde, war sie in Begleitung eines Soldaten. Auch wenn der nie ermittelt wurde, ihn hält Rumbelow für den Täter. Der Ripper, mögen andere sagen, was sie wollen, war es nicht. Der schlug seiner Meinung nach erst drei Wochen später zum ersten Mal zu.

Mary Ann Nichols’ letzter Weg begann am Abend des 30. August 1888 ebenfalls in der Whitechapel Road, wo sie wohl anschaffen ging. Anderthalb Stunden später wurde sie gesehen, wie sie den Pub „The Frying Pan“ in der Brick Lane verließ. Heute zieht die Straße mit ihren vielen indischen Restaurants die Touristen an, damals gab es hier nur schäbige Kaschemmen. Unglücklicherweise vertrank Nichols das Geld, das sie für das Nachtasyl gebraucht hätte, sie blieb auf der Straße. Dort wurde sie gegen 3 Uhr 45 gefunden. Ihre Kleidung war bis zum Bauch hochgeschoben, offensichtlich lag ein Sexualverbrechen vor. Keines, wie man es im East End schon gesehen hatte. Der Inspektor, der die Leiche in Augenschein nahm, sagte, die Tote sei regelrecht ausgeweidet worden, die Kehle durchtrennt, der Unterleib bis zum Magen aufgeschlitzt. „Das“, sagt Donald Rumbelow, „war die Art, wie der Ripper tötete.“

Gassen voller Dreck, Lumpen und stinkender Gülle

Die damalige Presse sah Mary Ann Nichols zunächst als zweites Opfer desselben Täters und sprach von einer Mordserie im East End, das den Zeitgenossen als Vorhölle galt. Die Whitechapel-Morde, wie man die Taten des Rippers zunächst nannte, machten weltweit Schlagzeilen. Der amerikanische Schriftsteller Jack London, der sich schon als Eisenbahntramp und Goldsucher durchgeschlagen hatte, wollte ein paar Jahre später mit eigenen Augen sehen, wie es dort zuging. Er verkleidete sich, tauchte 1902 für sechs Wochen im East End unter und schrieb mit „Menschen der Tiefe“ die Mutter aller Sozialreportagen. Wobei selbst dieser hartgesottene Autor das Nachtasyl genau eine Nacht durchstand, es im East End überhaupt nur so lange aushielt, weil er für teures Geld eine Basis angemietet hatte, in der er sich erholen konnte.

Jack London fand Gassen voller Dreck, Lumpen und stinkender Gülle. 900 000 Menschen gab es im East End, 80 000 davon lebten in Whitechapel. „Den Bodensatz bildeten Bettler und Halbkriminelle, über ihnen standen die ganz Armen, die Spitze der Gesellschaft waren die Armen“, sagt Rumbelow. 11000 hatten gar kein Zuhause und waren auf die Nachtasyle angewiesen. Frauen arbeiteten als Näherinnen in den Sweatshops oder putzten, mehr als 10 Pence Lohn für 17 Stunden Arbeit waren nicht drin. 55 Prozent der East-End-Kinder starben vor Erreichen des fünften Lebensjahrs. In der heute nicht mehr existierenden Dorset Street, dem Epizentrum des Elends, in dem übrigens vier der mutmaßlich fünf Ripper-Opfer zu verschiedenen Zeiten wohnten, lebten 800 Menschen auf einem acre, das sind rund 4000 Quadratmeter, in Normal-London waren es 50. Für viereinhalb Pence kaufte man ein Viertelpfund Käse, für zwei bis drei Pence eine Frau, wobei die Prostituierten sich manchmal mit einem Kanten Brot begnügten. Die einzige Möglichkeit, diesem Sumpf zu entkommen, war der Alkohol. Die Pubs hatten nicht nur bis elf Uhr abends geöffnet, wie es in England später üblich war, sondern bis in den frühen Morgen.

Gewalt war allgegenwärtig. Zwei Morde sind da noch keine Serie. Doch der Täter ließ sich nur acht Tage Zeit. Am Morgen des 8. September gegen sechs Uhr früh wurde im Hinterhof des Hauses Hanbury Street 29 die verstümmelte Leiche der Annie Chapman entdeckt. Auch ihr war die Kehle durchtrennt worden, auch bei ihr ging der Schnitt bis auf die Wirbelsäule, als hätte jemand versucht, ihr den Kopf abzutrennen. Wieder war der Unterleib entblößt und aufgeschnitten. Der Täter hatte sogar Organe entnommen, er müsse wenigstens rudimentäre chirurgische Kenntnisse haben, schrieb der Gerichtsmediziner.

Dies war nicht die erste britische Mordserie. William Burke und William Hare hatten 1827 in Edinburgh 16 Menschen umgebracht, meist in den Armenvierteln der Stadt. Ihr Motiv war Geld. Sie verkauften die Leichenteile an einen Anatomieprofessor. Aber damals hatte es noch nicht so viele Zeitungen gegeben, die um Leser konkurrierten. Über den Ripper berichteten nicht nur englische, sondern auch deutsche und amerikanische Blätter 1888 so ausführlich, dass sie noch heute zu den wichtigsten Quellen der Mordserie gehören. Denn viele Polizeiakten verschwanden im Lauf der Jahrzehnte. Darunter der komplette Bestand über die Verdächtigen, es waren über 300, welche die Beamten seinerzeit ins Visier nahmen. Was Theorien Nahrung gab, der Täter sei in allerhöchsten Kreisen zu suchen.

Die Berichterstattung nahm hysterische Züge an, als der nächste Mord geschah. In einem engen Hinterhof nicht weit von der Whitechapel Road entdeckte ein Kutscher gegen ein Uhr früh des anbrechenden 30. September eine Leiche. Es handelte sich um die 42 Jahre alte Elizabeth Stride, genannt „Long Liz“. Die Tote hatte keine oberen Schneidezähne mehr, aber das war nicht das Werk des Rippers, sondern eher den harten Lebensumständen im East End geschuldet. Der Täter hatte ihr die Kehle durchtrennt, sie jedoch nicht verstümmelt, auch nicht entblößt.

Anders Catharine Eddowes, deren übel zugerichteter Leichnam keine 45 Minuten später auf dem Mitre Square nur 15 Gehminuten entfernt vom ersten Tatort entdeckt wurde. Der Täter hatte ihr die Därme aus dem Leib gezogen, einen Teil ihrer Gebärmutter entnommen, eine Niere fehlte.

In Whitechapel hatte sich inzwischen eine Bürgerwehr formiert, der Polizeichef und der Innenminister wurden zum Rücktritt aufgefordert. Dabei sind sich Ripperologen nicht einig, ob Elizabeth Stride tatsächlich dem Serienmörder zum Opfer fiel. Lange akzeptierte man die Erklärung, der Täter sei bei ihr gestört worden und habe sein ursprüngliches Vorhaben wenig später an Catharine Eddowes vollendet. Rumbelow glaubt, dass es sich um zwei Täter handelte.

Der Bekennerbrief - ein übler Scherz?

Hunderte Bekennerbriefe gingen bei Polizei und Zeitungen ein, mindestens zwei erlangten Berühmtheit. Der eine war auf den 25. September datiert und an eine Nachrichtenagentur gerichtet. „Dear Boss“, heißt es darin, „beim nächsten Mal werde ich die Ohren der Dame abschneiden.“ Tatsächlich hat der Mörder von Catharine Eddowes seinem Opfer fünf Tage später die Ohrläppchen eingeschnitten und die Nasenspitze abgetrennt. Unterschrieben hatte der anonyme Absender mit „Jack the Ripper“. Erst jetzt bekam der Täter einen Namen. Inzwischen geht man davon aus, dass es sich um einen üblen Scherz handelte, den sich wahrscheinlich ein Redakteur der Nachrichtenagentur geleistet hatte.

Der zweite Brief war von noch ärgerem Kaliber und an den Gründer der Whitechapel-Bürgerwehr gerichtet. Er war mit den Worten „From Hell“ – „aus der Hölle“ – überschrieben und Teil eines Päckchens, das eine halbe menschliche Niere enthielt. Der Absender bezichtigte sich, den Rest verspeist zu haben. Es gelang mit den damaligen Methoden nicht, zweifelsfrei zu klären, ob es sich tatsächlich um die Niere der Catharine Eddowes handelte. Immerhin, ein hinzugezogener Rechtsmediziner schloss es nicht aus .

Die Möglichkeiten der Polizei waren begrenzt. Es sollte noch 14 Jahre dauern, bis zum ersten Mal ein Fingerabdruck in einem Gerichtsprozess als verwertbar zugelassen wurde. Blutgruppen konnten noch nicht bestimmt, tierisches nicht von menschlichem Blut unterschieden werden. Es gab nur eine vage Täterbeschreibung, gesucht wurde jemand mit dunklem Schnauzer, der einen Hut und schwarze Kleidung trug, zwischen 20 und 40 Jahre alt war. 76 Metzgereien und Schlachthäuser wurden durchsucht, falls der Ripper sein Handwerk dort gelernt hatte. Polizisten in Zivil, sogar in Frauenkleidern, postierten sich in Whitechapel, ohne Erfolg. Pogromstimmung kam auf, als ein Graffito entdeckt wurde, das die Juden der Tat beschuldigte. Wer immer unter Verdacht geriet, lief Gefahr, gelyncht zu werden. Londons Polizeichef testete persönlich zwei Bluthunde auf ihre Eignung, indem er sich von ihnen durch den Hyde Park verfolgen ließ. Seinen Posten konnte er damit nicht retten.

Mary Jane Kelly war mit 25 Jahren jünger als die übrigen Opfer, und die Zeitgenossen beschreiben sie auch als hübscher. Auf den überlieferten Polizeifotos ist davon nichts mehr zu sehen. Ihr Vermieter, der sie am Morgen des 9. November als einer der Ersten sah, sagte, „es sah aus wie das Werk des Teufels“. Kelly war die einzige, die in ihrer Kammer getötet wurde, und der Täter hatte bei ihr wohl auch die meiste Zeit. Er hat sie regelrecht zerfleischt. Das Herz nahm er mit.

Mary Jane Kelly – und darin stimmen die meisten Ripperologen überein – wurde wahrscheinlich das letzte Opfer des Rippers. Was verschiedene Gründe haben könnte: Er starb, wurde aus dem Verkehr gezogen, weil man ihn zum Beispiel eingesperrt hatte, er verließ das Land, oder er hörte einfach auf zu töten. Was eher unwahrscheinlich ist, wenngleich es solche Fälle gibt.

Selbst Prominente gerieten ins Visier wie Lewis Carroll, der Autor von „Alice im Wunderland“, oder Sir William Gull, königlicher Leibarzt, der angeblich den Thronfolger Prinz Albert Victor in einer Affäre schützen wollte. Ersatzweise wurde der Prinz selbst als potenzieller Killer gehandelt. 2002 investierte die amerikanische Krimiautorin Patricia Cornwall sehr viel Geld in umstrittene DNA-Tests, um Walter Sickert, einen deutschen Maler, posthum zu überführen. Die Tests hätten ihn allenfalls als Briefeschreiber entlarvt. Auch die These, Jack the Ripper sei in Wirklichkeit eine Frau gewesen, wurde schon vorgebracht. „Alles Unsinn“, urteilt Rumbelow. Für ihn war der Täter ein namenloser Ortsansässiger aus der Dorset Street oder der näheren Umgebung, angeblich sollen Catharine Eddowes und Mary Jane Kelly den Verdacht geäußert haben, dass sie den Ripper kennen.

Der Fall blieb ein Rätsel, wurde zum Mythos und zur Vorlage – für Schriftsteller wie Frank Wedekind, dessen „Lulu“ dem Ripper in die Hände fällt, und echte Killer wie den Briten Derek Brown. Der wurde 2008 in London wegen zweifachen Mordes verurteilt, ihm wurde auch zur Last gelegt, Jack the Ripper nachgeahmt zu haben, um berühmt zu werden.

Bis heute tauchen hin und wieder lange verschollene Artefakte auf, die mit den Morden in Verbindung standen. Das Interesse des Publikums wurde darüber immer wieder geweckt. Und die Gruppen, die Rumbelow durch Whitechapel führt, werden eher größer. „Gewiss ist eigentlich nur eines“, sagt er und zitiert einen Kinderabzählreim aus dem East End. Der endet mit der Zeile: „Der Ripper ist tot.“

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