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Fußball verbindet: Fans von Leicester feiern die Meisterschaft.

© Reuters

Stadt in England: Leicester: multikulturelles Vorbild?

Seit dem sensationellen Titelgewinn im Fußball ist Leicester berühmt. Und es gibt hier noch mehr zu staunen. Ein Besuch in der südasiatischsten Stadt Englands.

Die Sonne strahlt über Leicester, doch es ist noch empfindlich kühl, als an einem Sonntagnachmittag Ende April zwei höchst unterschiedliche Prozessionen durch die Stadt ziehen. Zwei Straßenumzüge, die für die jüngere Geschichte der mittelenglischen Metropole stehen.

Zunächst erfüllen Trommelschläge und indische Gebetsgesänge die Straßen der Innenstadt. „Vaisakhi“ heißt eines der höchsten Feste der örtlichen Sikh-Gemeinde, Höhepunkt ist eine alljährliche Parade. Die Farbe Orange beherrscht das Bild: Männer tragen Turbane, die Frauen Gewänder in knalligen Tönen.

Nur wenig später ist die Stadt komplett umgefärbt: überall Königsblau und Weiß, die Farben des Leicester City Football Club. Zehntausende Fans strömen aus allen Richtungen zum King Power Stadium, der im Süden der Stadt gelegenen Spielstätte ihres Vereins. „We love you, Vardy“, singt ein Gospelchor vor dem Eingang zum Stadion und huldigt damit dem Torjäger des Teams, Jamie Vardy. Die Mannschaft steht da kurz vor einer Sensation im europäischen Fußball: Am viertletzten Spieltag befindet sich der krasse Außenseiter an der Spitze der Premier League. Eine Woche später wird der Club, der vor der Saison als Abstiegskandidat gehandelt wurde, seinen ersten Meistertitel gewinnen.

Anhänger und Spieler nennen sich "The Foxes"

„The Foxes“ nennen sich Spieler und Anhänger, nach der in England jahrhundertelang betriebenen Fuchsjagd. Nun ist der Club selbst vom Jäger zum Gejagten geworden, zum ersten Mal in der 132-jährigen Vereinsgeschichte. Der Nobody unter den Big Playern aus London, Manchester und Liverpool steht plötzlich im internationalen Rampenlicht – und mit ihm eine bisher kaum beachtete Stadt.

Eine auffällig Unauffällige. Im Zentrum wechseln sich hübsche Häuser aus dem viktorianischen Zeitalter samt Säulen und Giebeln mit Betonbauten der 60er Jahre ab. In den Wohnvierteln drumherum dominiert roter Backstein.

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Außerhalb des Königreichs wissen viele von Leicester wohl höchstens, wie es ausgesprochen wird: „Läster“ nämlich. Manch einer wird noch vom spektakulären Knochenfund gehört haben, der 2012 weltweit durch die Nachrichten ging. Damals stieß man bei Ausgrabungen unter einem Parkplatz auf die sterblichen Überreste von König Richard III. Am 26. März vergangenen Jahres folgte die feierliche Umbettung des Regenten in die Kathedrale von Leicester. Zu dieser Zeit standen die Foxes abgeschlagen auf dem letzten Tabellenplatz. Doch seit der Monarch seine letzte Ruhe fand, verlor Leicester City nur noch vier von 45 Ligaspielen.

Das wirklich Bemerkenswerte an der Stadt in den East Midlands mit ihren knapp 340 000 Einwohnern ist die Bevölkerungsstruktur. Neben London, Luton und Slough ist Leicester eine von vier englischen Großstädten, in denen Einwanderer und deren Nachfahren die Mehrheit bilden. Im Jahr 2001 betrug der Anteil der white Britons ohne Migrationshintergrund hier 61 Prozent, bei der letzten Volkszählung vor fünf Jahren waren es nur noch 45,1 Prozent. Das bedeutet zugleich: Die Stadt besitzt keine einzelne ethnische Bevölkerungsmehrheit mehr, sie besteht allein aus Minderheiten.

Der viktorianische Uhrenturm ist das Wahrzeichen

Um das zu bemerken, muss man nur durchs Zentrum schlendern, vorbei am viktorianischen Uhrenturm, dem Wahrzeichen der Stadt, und über den Leicester Market, den größten überdachten Markt Europas. Ältere Hindus und Sikhs mit Turbanen sieht man hier, jüngere mit Patkas, den schlichteren Kopftüchern, muslimische Männer in weißen Kaftanen, mit langen Bärten und Gebetsmützen, die Frauen mit Hidschab oder Burka. Neben indischen Restaurants und Geschäften gibt es immer wieder polnische, rumänische und baltische Läden. Leicester zählt neben seinen Kirchen 50 Moscheen, 20 Hindutempel und knapp ein Dutzend Gurdwaras, geistliche Stätten der Sikhs.

Manchen britischen Medien gilt es schon als multicultural poster city, als Musterschüler in den Fächern Integration und friedliches Zusammenleben. Von einem Leicester model ist die Rede. Kann Europa für die Integration seiner Flüchtlinge davon lernen?

Ranvir ist ein typischer Bewohner der Stadt: Der Mann in seinen 40ern wurde in Leicester geboren, aber seine Eltern kamen 1946 als Einwanderer aus Indien. Der Vater, ein Maschinenbauer, hatte in der Heimat keine Arbeit gefunden. Ranvir lebt in einem Reihenhäuschen in Westcotes, einem polnisch geprägten Viertel westlich der Innenstadt. „Ich mag die Atmosphäre in Leicester“, sagt er. Manch einer kritisiere zwar, dass sich die einzelnen Minderheiten hier zu sehr separieren würden und es latente Spannungen zwischen den Communitys gebe, doch zumindest seine drei Schwestern dienen als Gegenbeispiel: „Eine von ihnen heiratete einen white Briton, die andere einen Schwarzen, die Dritte einen Muslim.“ Eine Familiengeschichte wie aus einer Culture-Clash-Komödie.

Am eindrücklichsten ist die "Golden Mile"

He's coming home: Die Überreste von Richard III. bei der Prozession in Leicester im März 2015.
It's coming home: Die Überreste von Richard III. bei der Prozession in Leicester im März 2015.

© Reuters

Ranvir hat eine Theorie, warum es trotz der verschiedenen Ethnien, trotz des bunten Religionsgemischs – Christen und Atheisten leben neben Hindus, Sikhs, Muslimen und Juden – kaum zu Konflikten kommt: „Hier treffen keine zwei Gruppen aufeinander, es gibt nicht nur Schwarz und Weiß.“ Stattdessen gebe es viele Grautöne, oder vielmehr Brauntöne, wenn man es auf die Hautfarben beziehe, sagt Ranvir. Die Gruppe der Einwanderer und ihrer Nachkommen sei in sich so divers, dass für Rassisten kaum ein scharf umrissenes Feindbild entstehen könne.

Highfields, das muslimisch dominierte Viertel in Bahnhofsnähe, sei früher in Verruf gewesen, erzählt Ranvir dann – wegen Prostitution und Drogenhandel. Inzwischen schreite die Gentrifizierung auch dort voran. Ob er sich sicher fühle dort? „Tagsüber schon, nach Einbruch der Dunkelheit meide ich es eher.“

Sein Vater, so erinnert sich Ranvir, wollte ursprünglich baldmöglichst zurückkehren nach Indien. Doch er blieb, für den Rest seines Lebens. „Je länger er in Leicester lebte, desto mehr kam Indien zu ihm.“ Die Zahl der Einwander aus Südasien, aus Indien, Pakistan und Bangladesch, wuchs in den folgenden Jahrzehnten, und mit ihr der Einfluss der entsprechenden Communitys.

Im Oktober steigt das hinduistische Lichterfest Diwali

Am eindrücklichsten spürt man diesen Einfluss in der Melton Road im Norden der Stadt. Die Straße mit ihren niedrigen, oft bunt gestrichenen Häusern trägt den Beinamen „Golden Mile“, wegen der zahlreichen Juweliergeschäfte. Diese werden genauso von südasiatischen Einwanderern und deren Nachfahren betrieben wie die zahllosen Restaurants und die Läden für Saris, die traditionellen indischen Wickelgewänder. Im Oktober steigt rund um diesen Boulevard das hinduistische Lichterfest Diwali, es gilt als das größte seiner Art außerhalb Indiens.

Die Golden Mile durchzieht den Stadtteil Belgrave, hier ist der Anteil der sogenannten BAME-Community, der „Black, Asian and minority ethnic“, besonders hoch. Manjula Sood sitzt für den Bezirk im Stadtparlament. Die gebürtige Inderin findet zwischen zwei Terminen Zeit für ein Gespräch. Schnell wird klar: Sood ist eine Person von verbindlicher Freundlichkeit, doch sie weiß, was sie will und wie sie sich durchsetzen kann.

Leicester erreichte sie an einem Dezembertag des Jahres 1970. Ihre ersten Eindrücke waren Eiseskälte und Schnee. Sood wollte sofort zurück nach Indien, doch der Großvater verbot es ihr. Also blieb sie in Leicester und wurde zu einer der wichtigsten Vorkämpferinnen für die Emanzipation südasiatischer Frauen.

1973 schaffte sie es zur Grundschullehrerin, der ersten asiatischen in ganz Leicester. Und 35 Jahre später, im Mai 2008, wurde sie Bürgermeisterin der Stadt. Als erste Asiatin in der mehr als 800 Jahre alten Geschichte des Amtes durfte sie sich Lord Mayor nennen. Bis zu diesem Triumph hatte sie einigen Widerständen trotzen müssen. Als sie Mitte der 90er in die Politik ging, saß sie im Stadtparlament fast allein unter Männern.

Vielleicht funktioniert das Zusammenleben in Leicester auch deshalb relativ gut, weil die Stadt eine lange Geschichte der Zuwanderung hat. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert blühte die Wirtschaft auf, 1936 galt Leicester als zweitreichste Stadt in Europa. Vor allem die Bekleidungsindustrie sorgte für Wohlstand, Einwanderer waren als Arbeiter gern gesehen. In den 20er und 30er Jahren kamen verfolgte Juden aus Osteuropa, nach dem Krieg Menschen aus der Karibik, dann die Südasiaten.

Eine Abschreckungskampagne lockte noch mehr Zuwanderer

Die Flüchtlinge belasteten die Sozialsysteme nie dauerhaft. In den 60er und 70er Jahren wurden die asiatischstämmigen Bewohner von Kenia, Tansania und Uganda, vor allem Inder und Pakistani, vertrieben. Viele von ihnen flohen nach Leicester. Manch einer befürchtete, die Stadt werde daran zerbrechen.

Als Ugandas Diktator Idi Amin 1972 alle Asian Ugandans zum Verlassen des Landes aufgefordert hatte, veröffentlichten die Stadtväter von Leicester sogar eine Anzeige in einer ugandischen Zeitung. Darin hieß es, die Lebensumstände in der englischen Stadt seien nicht mehr so wie früher. Tausende Familien würden auf Unterkünfte warten, hunderte Kinder auf Schulplätze. Das Sozial- und Gesundheitssystem stehe an der Grenze seiner Belastbarkeit. Die zur Abschreckung gedachte Kampagne bewirkte das Gegenteil: Viele wurden durch sie überhaupt erst auf die britische Stadt aufmerksam. Rund 10 000 Menschen flohen in der Folgezeit nach Leicester.

Sie glaubt, der ständige Dialog sei das Erfolgsgeheimnis

„Vaisakhi“ heißt eines der höchsten Feste der örtlichen Sikh-Gemeinde, Höhepunkt ist eine alljährliche Parade.
„Vaisakhi“ heißt eines der höchsten Feste der örtlichen Sikh-Gemeinde, Höhepunkt ist eine alljährliche Parade.

© Kaspar Heinrich

Manchmal treibt das friedliche Nebeneinander der Religionen in Leicester skurrile Blüten. Am Samstagnachmittag in der zentralen Fußgängerzone High Street: Zwei Muslime erklären an einem Informationsstand, warum Terror und Selbstmordattentate ihrer Meinung nach nichts mit dem Islam zu tun haben. Direkt gegenüber verkündet ein bibeltreuer Christ, ein Mikro in der Hand, den Vorbeilaufenden wild gestikulierend, dass Jesus für unsere Sünden gestorben sei.

Warum das Zusammenleben in Leicester heute so gut klappt? Manjula Sood glaubt, dass es vor allem an der Arbeit von Freiwilligen liegt, am ständigen Dialog zwischen den Communitys. „Manche Probleme kennen wir alle“, sagt Sood, „etwa Angriffe auf die Religion.“ Deshalb stehe man füreinander ein: So hätten Muslime schon mal eine Synagoge beschützt. In den vergangenen Jahren berichteten Juden von antisemitischen Beschimpfungen auf der Straße, das Haus eines Rabbis wurde mit Steinen beworfen.

Die Stadt habe immer nur die Vorzüge erlebt, sagt er

John Williams ist grundsätzlich skeptisch, was den Modellcharakter von Leicester angeht. „Die Stadt hat immer nur die Vorzüge der Migration erlebt, nie die Nachteile“, sagt der Soziologe der University of Leicester und spielt damit auf die privilegierte Herkunft vieler Einwanderer an. Nach Leicester kamen meist gut ausgebildete Arbeitskräfte, die zudem der englischen Sprache mächtig waren.

Williams, ein hemdsärmeliger Typ, hat zum sonntäglichen Gespräch in sein Haus eingeladen. Im Wohnzimmer sitzt die Familie bei Kaffee und Kuchen, während Williams nebenan Fragen beantwortet, vor einer Bücherwand mit Werken zu Fußball und Gesellschaft, seinen Forschungsschwerpunkten.

Wahrzeichen der Stadt: der viktorianische Uhrenturm am Haymarket.
Wahrzeichen der Stadt: der viktorianische Uhrenturm am Haymarket.

© Kaspar Heinrich

John Williams ist 61 Jahre alt, seit 40 Jahren lebt er in Leicester. Ursprünglich stammt er aus Liverpool, sein Herz schlägt für den dortigen LFC. Er ist Dauerkarteninhaber, in seiner Küche hängt ein Bild von Trainer Jürgen Klopp. Doch die Familie seiner Freundin hält zu Leicester City, und Williams gönnt dem Team den Titel. Ende der 90er Jahre hat er die Initiative „Foxes Against Racism“ gegründet.

In den 70er Jahren skandierten Skinheads unter den gegnerischen Fans: „Ihr lebt in Little India!“ Kein Wunder also, dass Anhänger mit dunkler Hautfarbe den Spielen fernblieben. Allerdings interessieren sich viele auch eher für Cricket, Nationalsport in Indien und Pakistan. Williams’ Kampagne setzte sich später für ein Vereinsmarketing ein, das gezielt Einwandererkinder ansprach, er warb für indisches Essen im Stadion und dafür, über rassistische Schmähungen einfach zu lachen. Nach dem Motto: „Ja, wir leben in ,Little India‘. Wo ist das Problem?“

Ein kleines Indien ist Leicester auch vor zwei Wochen. Mehr als 20 000 Sikhs sind es, die bei der Vaisakhi-Parade durch die Stadt ziehen. Die Vorhut der Kolonne bilden Jungen und Mädchen, Männer und Frauen, allesamt barfuß, die mit Besen die Straße fegen. Anschließend sprüht ein Mann die Fahrbahn mit Wasser ab, bevor ein anderer Blütenblätter streut. Wer als Sikh nicht mitläuft, verteilt am Straßenrand Essen und Getränke: selbstgekochte Speisen, vegetarisch und pikant, oder den mit Zimt und Nelken gewürzten Tee Masala Chai.

Zumindest in diesem Moment glaubt man sofort, dass Leicester ein Vorbild sein kann.

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