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Schlaf schön eingeschnürt. Ein gepucktes Baby.

© Steffen Zimmermann - Fotolia

Trend in der Kinderstube: Was puckst du?

Wieder mal gibt es ein Erziehungsthema, das die Republik erregt: Dürfen Eltern Babys zu Mumien wickeln? Vom Streit über das Pucken.

Die Sache endete im April dieses Jahres vor Gericht. Auf der Anklagebank im thüringischen Altenburg saßen vier Erzieherinnen aus der Kita „Spatzennest“. Sie mussten sich unter anderem wegen Misshandlung Schutzbefohlener verantworten.

Sie hätten Kinder zwischen null und zwei Jahren gefesselt und ihnen Tücher auf das Gesicht gelegt. Im dunklen Zimmer zwangen sie die Kinder so zum Mittagschlaf.

Jedenfalls erklärte das eine Schülerin, die in der Kita ein Praktikum gemacht hatte und unfreiwillig zu einer Art Geheimnisverräterin wurde. Für einen Praktikumsbericht hatte sie die Arbeit der Erzieherinnen gefilmt. Als sie die Aufnahmen in der Schule zeigte, löste sie eine aufgeregte Debatte aus.

Was manchen Eltern wie ein Fall für Amnesty International erscheint, finden andere ganz normal. Dieses Einwickeln, auch Pucken genannt, sei eine traditionelle wie effektive Technik, um Babys zu beruhigen. Und sie wird gerade beliebter – wenn auch normalerweise nicht bei zweijährigen Kleinkindern, wie es teils in der Altenburger Kita geschah.

Pucken bezeichnet eine Wickeltechnik, bei der Säuglinge in den ersten Lebensmonaten eng in Tücher eingebunden werden. Die Idee dahinter ist einfach: Bei Babys sind die Reflexe noch nicht ausgereift.

Deswegen bewegen sie sich in den ersten Wochen oft ruckartig. Wenn sie unvermittelt mit den Armen rudern, wachen sie davon oft auf. Die Enge durch das Einwickeln verhindert das. So sollen sie besser schlafen und zudem jene Geborgenheit spüren, die sie aus dem Mutterleib kennen.

Sofort geht es ans Eingemachte

Gegner warnen, Pucken könne eine Hüftfehlstellung zur Folge haben, das Risiko einer Atemwegsinfektion steige, die Gewichtszunahme verlangsame sich, die Gefahr einer Abplattung des Hinterkopfs drohe, und außerdem bräuchten Kinder den Hautkontakt der Mutter, den sie in den Tüchern nicht bekommen.

Seit dem Vorfall in der Kita „Spatzennest“ ist das Wort Pucken nicht nur frischgebackenen Eltern ein Begriff. Wie bei so vielen Fragen, die Eltern heute umtreiben, steckt Erregungspotenzial darin, geht es sofort ans Eingemachte, ja praktisch um Leben und Tod: Impfen oder nicht? Tragetuch oder Kinderwagen? Wie lange Stillen?

Kurze Stichprobe aus den einschlägigen Foren, jenen Orten digitaler Hemmungslosigkeit, an dem die Fundamentalisten sich wilde Vorwürfe vor das Lätzchen knallen: „Bin schwanger und habe gewagt, mir einen Pucksack zu bestellen. Meine Familie behandelt mich, als hätte ich einen Gasofen zum Spielen bestellt.“

„Eine Zwangsjacke, so eng gewickelt, dass es sich kaum bewegen kann? Warum soll ich mein Kind quälen, damit es sich beruhigt?“

„Es kostet schon einiges an Überwindung, sein Baby so fest einzupacken, aber irgendwann muss auch mal Ruhe sein.“

„Macht das nicht. Pucken ist brutal ... Oder wie würde es euch Müttern den ganzen Tag lang in einer Ganzkörperzwangsjacke gefallen?“

„Seitdem wir pucken, können Krümelchen und ich unser Leben wieder genießen. Nachdem wir so gute Erfahrungen gemacht haben, habe ich auch meinen Hund gepuckt.“

Erstaunlich an diesem Kulturkampf im Kinderzimmer ist: Anders als das neue Kunstwort Pucken existiert das Phänomen schon länger. Den berühmtesten Säugling der Welt- und Kunstgeschichte, Jesus von Nazareth, sieht man auf einer Vielzahl von Krippendarstellungen in Tücher eingewickelt.

In Griechenland war die Praxis noch älter, wie archäologische Funde aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus zeigen. Aber nicht nur die alten Griechen wickelten die Kinder ein, auch die Römer taten es.

Bis in die frühe Neuzeit war das gang und gäbe in Europa, bei den Ureinwohnern Nordamerikas oder in weiten Teilen Asiens. Nur in Afrika südlich der Sahara wurde wohl nicht gewickelt. Jedenfalls fehlen Quellen, die das bezeugen können.

Eltern wollen doch nur eines: mal richtig ausschlafen

Schlaf schön eingeschnürt. Ein gepucktes Baby.
Schlaf schön eingeschnürt. Ein gepucktes Baby.

© Steffen Zimmermann - Fotolia

Aber – Ironie der Wickelgeschichte – die Kritik an der Praxis ist fast genauso alt. Schon in der Antike verglich Plinius der Ältere das Pucken mit Fesseln.

Im 17. Jahrhundert machte sich der englische Philosoph John Locke dafür stark, Kinder nicht zu fatschen, wie das Wickeln damals genannt wurde, sondern ihnen lockere Kleidung anzuziehen. Jean-Jacques Rousseau, der 1762 mit seinem Roman „Emile“ den Grundstein für die moderne Pädagogik setzte, lehnte das enge Wickeln zur Beruhigung ab.

Ganz verschwunden ist es jedoch nie. Heute raten öfter Hebammen und Kinderärzte zum Pucken. Jedenfalls in den ersten Wochen könne das unruhigen Kindern helfen, Ruhe zu finden.

Studien setzen Schlafmangel mit Geldverlust gleich

Damit die Eltern auch mal schlafen können. Und dazu kommen sie recht selten. Eine Studie errechnete, dass ein Baby im ersten Jahr durchschnittlich zwischen 400 und 750 Stunden an elterlichem Schlaf koste.

Wie sich das aufs Wohlbefinden auswirkt, haben amerikanische Psychologen um den Nobelpreisträger Daniel Kahneman erforscht. Mütter, die weniger als sechs Stunden pro Nacht schlafen, sind unglücklicher, fand das Team heraus und setzte das in Bezug zu einer realen Bezugsgröße: Geld.

Der Unterschied in ihrer Zufriedenheit zu denjenigen, die mehr als sieben Stunden pro Nacht haben, sei größer als der Unterschied zwischen einem Einkommen von 30 000 Dollar und einem von 90 000 Dollar. Eine Stunde Schlaf mehr pro Nacht hat also den emotionalen Wert einer Verdreifachung des Jahresgehalts.

Der andauernde Schlafmangel hat weitreichende gesundheitliche Folgen. Der Schweizer Schlafforscher Christian Cajochen hat die These aufgestellt, dass, wer zehn Nächte hintereinander weniger als sechs Stunden schlafe, stark beeinträchtigt sei.

Er befinde sich, was Leistungsvermögen, Reaktionsgeschwindigkeit, Gedächtnis und Urteilsvermögen angehe, in einem ähnlichen Zustand, als wenn er ein Promille Alkohol im Blut habe.

Napoleon fand, nur ein Idiot brauche sechs Stunden Schlaf

In der Leistungselite gilt es als Statussymbol, mit wenig Schlaf auszukommen. Wer wenig schläft, hat mehr Zeit zu arbeiten, zu entscheiden, Dinge anzuschieben. Benjamin Franklin, der amerikanische Vorzeigeprotestant, war ein orthodoxer Frühaufsteher und verstand langes Schlafen schlichtweg als Gotteslästerung.

Napoleon sagte, vier Stunden schlafe der Mann, fünf die Frau, sechs ein Idiot. Von Politikern hört man ähnliche Töne, wenn mal wieder nächtelang EU-Kredite verhandelt werden.

Für Eltern ist der wenige Schlaf hingegen nichts Heroisches, nichts, womit man sich brüsten könnte, sondern bleischwerer, zermürbender Alltag. Kleine Kinder bedeuten Nonstop-Jetlag.

Eltern müssen sich mit den Kollateralschäden des Schlafentzugs herumschlagen, und das sind gar nicht so wenige. Man wird dicker, bekommt flackernde Augen, wächserne Haut, ein geschwächtes Immunsystem und, wenn man Pech hat, sogar Depressionen.

Schlafmangel zieht Glukose aus dem Gehirn, vor allem aus dem Präfrontalkortex, in dem die Selbstkontrolle gesteuert wird. Insgesamt 711 Gene verändern sich durch Schlafmangel. Vor allem jene, die für Entzündungen, Immunantworten und Stressreaktionen verantwortlich sind und den Stoffwechsel steuern.

Der Grund: Im Schlaf regeneriert sich das Hirn, es wird von Schadstoffen gereinigt. Schläft man dauerhaft zu wenig, warnen Wissenschaftler, drohen Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Epilepsie und Migräne. Kein Wunder, dass das Pucken für müde Eltern nach einem Wundermittel klingt.

Es gibt daneben eine globale Schlafindustrie, die den erschöpften und verzweifelten Eltern immer neue Produktideen anbietet, wie sie die polyphasischen Schlafgewohnheiten ihrer Kinder mit ihren eigenen monophasischen Schlafbedürfnissen ein bisschen in Einklang bringen können.

Kinder schlafen ja nicht weniger als Erwachsene. Im Gegenteil. Sie schlafen sogar mehr, nur eben immer wieder in kurzen Phasen und oft nicht dann, wenn die Eltern gerne würden.

Meterweise Ratgeber-Literatur beschäftigt sich mit dem Thema – wie das vielgekaufte, aber hochumstrittene Buch „Jedes Kind kann schlafen lernen“ von Anette Kast-Zahn.

Vollgepackt mit Zahlen, Diagrammen, Listen, Tabellen erklärt es, warum man die Babys in immer längeren Intervallen schreien lassen soll, bis sie irgendwann einschlafen. Wem das nichts hilft, der kauft vielleicht mechanische Kinderwagenschaukler oder eine Wackelvorrichtung fürs Kinderbett.

Oder gleich das Smartphone, beispielsweise mit „White Noise“-Apps. Hier wird das Baby mit beruhigenden Geräuschen beschallt. Einstellen kann man unter anderem Fön, Waschmaschine (neu oder alt), Staubsauger, Kaminfeuer, Meeresrauschen und sogar Nadeldrucker.

Experten beraten über Skype

Natürlich bietet eine ganze Riege von Experten ihre Dienste an. Es gibt Schlafseminare für Babys (250 Euro für neun Stunden) und Schlafcoaching mit Hausbesuch, wofür in England eine Expertin 420 Pfund die Nacht verlangt. Die Stars der Zunft sind international tätige Schlaftrainer, die in akuten Fällen per Skype oder E-Mail konsultiert werden können.

Das Pucken selbst hat längst sein Marktsegment erobert. Gibt man etwa bei Dawanda, jener Plattform, auf der aus einer häuslichen Bastelneigung schon mal ein solides Businessmodell entsteht, das Wort Pucken ein, bekommt man 1505 karierte, getupfte, bestickte und meist bonbonfarbene Produkte vorgeschlagen.

Darunter Einschlafdecken, Schlafsäcke, Puckschnecken oder Puckschildkröten, mit denen man den Babys eine räumliche Begrenzung geben kann. Eben ganz wie im Mutterleib.

Die Erzieherinnen der Kita „Spatzennest“ aus Altenburg wurden übrigens vor Gericht freigesprochen. Es ließ sich nicht beweisen, dass das Pucken den Kindern geschadet habe.

Die Betroffenen selbst konnten sich dazu nicht äußern. Sie sind zu klein. Auch die Gutachter konnten kein eindeutiges Urteil fällen. Eine der Erzieherinnen ist nun in Rente, die anderen drei sind vom Dienst freigestellt. Was jedoch vor Gericht in aller Klarheit bewiesen wurde: Pucken ist wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Silke Denk, Felix Denk

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