zum Hauptinhalt

Über das kurze Leben eines Kindes: Johanna geht

Wenn plötzlich jeder Tag zählt: Das Baby unserer Autorin wird mit schwerem Gehirnschaden geboren. Eine Geschichte von Trauer und Glück.

Jede schwangere Frau kommt irgendwann an den Punkt, an dem sie sich kurz fragt, ob sie auch mit einem behinderten oder kranken Kind leben könnte. Während meiner zweiten Schwangerschaft denke ich viel darüber nach, betone anderen gegenüber immer wieder, dass ich unser Mädchen liebe, wie es ist. Komisch, denn eigentlich gibt es gar keinen konkreten Anlass für diese Überlegungen: Johannas großer Bruder ist gesund, bis zum Tag ihrer Geburt im August 2012 ist sie es auch.

Dass ihr Gewicht mit 4600 Gramm sehr schwer geschätzt ist, steht in meinem Mutterpass, seit ich kurz vor der Entbindung wegen einer Nierenbeckenentzündung im Krankenhaus liege. Endlich im Kreißsaal, habe ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Es ist so, als würde Johanna mit jeder Wehe weiter nach oben in den Bauch rutschen statt nach unten. Die Assistenzärztin wirkt unerfahren, der Oberarzt herrscht mich an, ich solle mich zusammenreißen, er hole das Kind jetzt mit der Saugglocke, alles werde gut.

Später erfahre ich: Bei schweren Babys ist bei einer Vakuumextraktion Vorsicht geboten, weil die Gefahr besteht, dass sie im Geburtskanal stecken bleiben. Und so kommt es auch. Johanna steckt ungefähr eine halbe Stunde fest, bekommt über einen Zeitraum von insgesamt gut zwei Stunden hinweg immer wieder keinen Sauerstoff, weil die Nabelschnur sich mit jeder Kontraktion enger um ihren Hals zieht. Ich spüre ihr Sterben in mir. Ihr Herz schlägt nicht mehr, als sie schließlich auf die Welt kommt.

Ich hatte mich so auf ihren ersten Schrei gefreut. Die Geburt des großen Bruders hatte ich nur unter Vollnarkose erlebt.

45 Minuten lang reanimieren die Ärzte mein Mädchen, dann beginnt ihr Herz wieder zu schlagen. Noch im Kreißsaal – mittlerweile sind etwa zwölf Leute vor Ort – wird mir unmissverständlich mitgeteilt, dass es ab sofort einen ständigen Begleiter geben wird, den Tod. Ich übertrage meinem Baby sofort die Reiseleitung. Sie soll vorangehen, ich gehe hinterher.

Einen Tag nach ihrer Geburt darf ich dieses wundervolle Wesen, meine Tochter, endlich zum ersten Mal sehen. Sie liegt in der Kinderklinik. Man hat sie ins künstliche Koma versetzt. Zugänge, Schläuche, Tubus. Auf ihrem Kopf trägt sie eine EEG-Mütze. Ihr Körper wird auf 33 Grad gekühlt, um das Gehirn zu entlasten. Eine Art Sonnenbrille hält sämtliche Reize fern. So lerne ich sie kennen, und unter all diesem medizinischen Wirrwarr liegt das schönste Kind der Welt: Johanna Charlotte.

Johanna ist ein echtes Mama-Kind

Ich darf sie sieben Tage nicht berühren, dann beginnt das wirkliche Kennenlernen. Niemals werde ich diesen Moment vergessen. Die ersten Wochen sind extrem schwer, immer wieder steht der Tod im Raum, aber sie kämpft und kämpft. Sechs Monate Krankenhaus und Reha folgen, dann sind wir kurz zu Hause, dann wieder Krankenhaus …

Johannas Hirnschaden ist sehr ausgeprägt, sie kann weder wirklich sehen noch hören, nicht schlucken, nicht essen, nicht trinken, nicht husten, nicht sitzen, sich nicht drehen, selbst lautieren und weinen muss sie lernen.

Heutzutage kann man vieles mit Hilfsmitteln ausgleichen, aus mir wird eine hoch spezialisierte Säuglingsschwester, Fachrichtung Intensivmedizin. Ich sauge Johanna mit einem Spezialgerät ab, denn wer nicht schluckt, muss vom Schleim befreit werden. Ich verabreiche künstliche Ernährung per Sonde, gebe Medikamente, stimuliere sie, lerne, Notfälle zu erkennen und zu lösen.

Allein zu lösen, denn mit ihrem Vater ist es kompliziert. Wir waren nie wirklich ein Paar. Er besucht Johanna zwar regelmäßig, und es ist ihm sicher überhaupt nicht egal, was mit seiner Tochter passiert, aber mehr ist nicht möglich.

Kurz nachdem Johannas Epilepsie eindeutig diagnostiziert ist, sagt mir ein Oberarzt bei einem Klinikaufenthalt: „Johanna ist ein Kind, bei dem man damit rechnen muss, es morgens tot im Bett zu finden.“ Ich weine erst mal bitterlich. Dann fasse ich einen Entschluss. Wir nutzen jeden einzelnen Tag, den wir zusammen haben.

Sie ist ein echtes Mama-Kind. Wenn ich in den Raum komme, sieht man am Monitor, dass Herzschlag und Puls etwas runtergehen – sie entspannt sich.

Zuerst ist Johanna komplett lautlos, doch jetzt gurrt sie von Woche zu Woche mehr. Irgendwann verzieht sie beim Blutabnehmen den Mund, ein riesiger Schritt, Johanna spürt etwas! Und dann: Als ich ihr drei Elektroden von der Brust entferne, weint sie ganz zaghaft – und ich vor Freude gleich mit. Denn wer weinen kann, sollte ja auch lachen können.

Es sind tolle Momente. Ihr schiefes Grinsen ist großartig. Zusammen mit Julius sitzt sie bei meiner Mutter auf dem Schoß, sie kitzelt und ärgert die beiden zum Spaß. Johanna will gar nicht mehr aufhören zu glucksen.

Eins ihrer Lieblingsspielzeuge ist eine Panda-Rassel, wir nennen sie nur „Cro-Rassel“, nach dem Sänger mit der Pandamaske. Die Cro-Rassel entlockt ihr ein Riesengelächter, das eine halbe Stunde andauert. Sie braucht eben immer etwas länger.

Was sie liebt: abhängen, bäuchlings auf dem Schoß und dabei Rücken streicheln, so kann sie gut atmen und schlafen. Wannenbäder, zusammen mit ihrem großen Bruder. Eincremen, hübsch machen und Musik hören.

Im April 2014, acht Monate nach Johannas Geburt, baut unsere Kämpfermotte extrem ab, sie verliert auf einmal viel Gewicht, und ihre Epilepsie wird schlimmer. Die Anfälle häufen sich und werden länger.

Zu diesem Zeitpunkt haben wir schon Unterstützung vom Pflegedienst, der mir sehr nahelegt, mir doch endlich das Kinderhospiz anzusehen. Ein schwerer Schritt für mich.

Besiegele ich jetzt etwa das Sterben von Johanna? Gebe ich ihr den Weg vor, obwohl ich doch eigentlich ihr die Reiseleitung erteilt habe? Der gefürchtete Tag kommt, ich besuche das Kinderhospiz und bin überrascht. Es ist ein Haus voller Leben, Liebe und Wärme. Ich lerne Tanja vom Palliativteam kennen, sie ist Kinderkrankenschwester und Trauerbegleiterin. Tanja führt mich herum, wir trinken Kaffee, lachen über die Bauarbeiter im Garten. Ich fühle mich endlich am richtigen Platz und bekomme zum Glück recht schnell einen Termin dort.

Einen Termin wofür? Im Kinderhospiz geht es nicht nur ums Sterben. Eltern mit einem behinderten Kind oder einem kranken Kind, das eine verkürzte Lebenserwartung hat, dürfen dort vier Wochen im Jahr Urlaub machen. Ja, Urlaub. Die Kinder werden von Fachpersonal umsorgt, für die Familien gibt es Angebote, um einfach mal zu entspannen, erfahrene Leute helfen bei Alltagsproblemen.

Ich rede viel mit den Experten, auch eine Psychologin ist darunter, eigne mir neues Wissen an, wie ich zu Hause mit Johanna umgehen kann. Es gibt sogar einen Whirlpool! Und endlich kann ich mal wieder einfach so mit Julius rausgehen, an die Luft – mit Johanna im Schlepptau ist das so spontan, ohne genaue Planung und tausend Gerätschaften, nie möglich.

Jeder Aufenthalt im Hospiz ist für Johanna, ihren großen Bruder und mich eine wunderbare Entspannung. Die Motte begeistert alle mit ihrem Puppengesicht.

Mit einem Arzt entscheide ich, was sie jetzt braucht

Im Dezember 2014 machen wir dann den letzten gemeinsamen Urlaub dort, diesmal zu viert, denn Johanna hat im August 2014 eine kleine Schwester bekommen: Jette. Sie kommt genau zwei Jahre nach Johanna auf die Welt, diesmal zur Sicherheit mit einem geplanten Kaiserschnitt und der Hilfe eines einfühlsamen Arztes.

Jettes Vater lebt nicht bei uns.

Julius, Jette und ich verbringen zwölf Tage gemeinsam mit Johanna im Hospiz, und ich merke, wie unendlich stolz ich auf alle drei Kinder bin.

Meine Familie.

Julius entwickelt durch Johanna ein noch offeneres Wesen, er kümmert sich liebevoll um seine beiden kleinen Schwestern. Jette liegt ständig ganz nah bei Johanna im Bett, denn niemand kann voraussagen, wie viel Zeit zu viert wir haben werden.

Da es für mich ein sehr turbulentes Jahr gewesen ist, beschließe ich, Silvester 2014 bei meinem Bruder zu verbringen, der 200 Kilometer entfernt von uns wohnt, weit genug, um ein bisschen Abstand zu bekommen. Um Johanna kümmert sich die Kurzzeitpflege. Geplant ist ein Urlaub bis zum 6. Januar 2015. Meine Mutter besucht Johanna und schickt mir ein Foto. Mir schnürt sich die Kehle zu: Sie sieht blass, schlapp und kraftlos aus. Am 3. Januar fahre ich zurück zu Johanna. Als ich mit Jette bei ihr eintreffe, weiß ich sofort, jetzt bricht das letzte Stück unseres gemeinsamen Weges an. Sie liegt auf dem Arm der Schwester. So habe ich sie noch nie gesehen. Alle weinen, sogar der Arzt.

Wir fahren mit dem Rettungswagen ins Hospiz. Dank des Palliativteams des Hospizes haben wir 24 Stunden täglich die Möglichkeit, einen Arzt zu kontaktieren, der uns kennt und direkt helfen und unterstützen kann. Es ist gut, dass ich mich darauf verlassen kann.

Mit einem der drei Ärzte bin ich mittags verabredet, um zu entscheiden, was Johanna jetzt braucht. Unser intensivster Aufenthalt dort beginnt, wir haben ständig Freunde um uns herum, es wird alles ermöglicht, was uns den Weg erleichtert. Johanna geht es leider schlechter und schlechter, eine Lungenentzündung verursacht die Krise.

Natürlich sagt jetzt jeder: Eine Lungenentzündung kann man doch behandeln! Kann man auch, aber in Johannas Fall muss ich irgendwann entscheiden, was ich für sie möchte, und ich denke, ich habe in ihrem Sinne gehandelt. Ich beschließe nach ärztlicher Beratung, dass Johannas Leben nicht verlängert werden soll.

Ich habe alles getan, um ihr Leben schön zu machen, aber jetzt weiß ich: Ich muss sie ziehen lassen. Zum ersten Mal wird mir richtig klar, wie groß die Lücke sein wird, die sie hinterlassen wird.

Nach einer Reihe von Infekten, immer längeren epileptischen Anfällen bis zu zwei Stunden und kaum Fortschritten in der Entwicklung, will ich Johanna nicht meinen Lebenswillen aufdrücken. Ich habe immer danach gehandelt, was sie will, auch zu diesem Zeitpunkt, und ich denke, jeder wird nach dem nächsten Absatz wissen, dass es richtig war.

Johanna geht es immer schlechter, aber ich spüre, dass sie etwas hält, dass sie noch etwas erledigt wissen will. Ich überlege hin und her, was es sein könnte, bis ich darauf komme, dass sie mich jetzt nicht alleine lassen will. Sie weiß, dass sich mein Leben seit ihrer Geburt im August 2012 völlig verändert hat und dass mit ihrem Sterben eine große Lebensaufgabe beendet sein würde.

Was macht man in so einer Situation? Man gibt eine Party. Eine Party? Ja, alle Freunde, die uns die ganze Zeit über den Rücken gestärkt haben, werden eingeladen, bringen Salat, Brot und Kuchen mit, wir verbringen einen schönen Nachmittag miteinander. Johanna liegt im Kaminzimmer des Hospizes, alle sind um sie herum, es wird viel gelacht, und als wir zum Abend hin alle noch ein Foto machen wollen, baut sie plötzlich ab. Blutiges Sekret kommt aus der Nase, und ich weiß: Jetzt geht Johanna.

Ich bringe Julius und Jette bei meiner Mama unter, eine Freundin bleibt noch bis nach Mitternacht bei Johanna und mir. Diese Nacht werde ich nie im Leben vergessen. Und auch wenn es etwas absurd klingt, was jetzt folgt, es hat sich tatsächlich so abgespielt.

Ich habe mit Johanna einen sehr schwarzen Humor entwickelt, Sarkasmus hilft oft. Dazu kam ein neue, geschärfte Intuition. Ich habe so oft Dinge vorhergesehen, manchmal hat es mich selbst schockiert, dass sie immer eingetroffen sind.

Wir sehen beide gleichzeitig aus dem Fenster ...

Meine Freundin und ich sehen zeitgleich aus dem Fenster. Ein heller Schatten zieht vorbei. Wir blicken uns an, mit Tränen in den Augen. Was macht man in so einem Moment? Jalousien runter, den Tod aussperren.

Ja, schmunzelt jetzt ruhig, mach’ ich auch. Aber es hilft für kurze Zeit, Johanna stirbt erst ein paar Stunden später in meinen Armen. Nur wir zwei, sie mit einem Lächeln auf den Lippen.

Wir bleiben neun weitere Tage im Hospiz, bis zu ihrer Beerdigung. Ich nehme Abschied. Sie liegt bei mir, im Abschiedsraum, gekühlt auf einem speziellen Bett.

Der Abschiedsraum besteht aus zwei Teilen, man kommt erst mal in ein kleines Wohnzimmer mit Tisch und Sitzecke, erst dann rückt das Bett ins Blickfeld. Johanna liegt dort drei Tage offen, so dass wir kuscheln können, drei Tage unter einer Art Schneewittchenglasdeckel und die restliche Zeit im Sarg.

Einmal sitze ich mit Pizza auf dem Schoß neben ihr und erzähle ihr, was so passiert an dem Tag. Es ist alles irgendwie so selbstverständlich. Die meisten Menschen in meinem Umfeld verstehen das, manche nicht so. Dass wir sehr unterschiedlich trauern, akzeptiere ich.

Alle kommen und sagen ihr „Tschüss“. Ich gestalte ihren Sarg, es ist ein Moment nur für mich. Von außen weiß und innen unlackiertes Kiefernholz – nee, das finde ich doof. Ich male ihr einen blauen Himmel in den Sargdeckel, lege ihre Kuscheldecke und ein Stofftier dazu.

Ich bin dabei, als jemand vom Hospiz-Team sie in den Sarg legt, und helfe mit, den Sarg ins Auto zu tragen.

Die Beerdigung ist schwer, ich weine kaum. Ich will den Moment irgendwie klar erleben und auch meine Rede so gut wie möglich halten. Wenn ich an unsere Zeit bis zum Tag der Beerdigung denke, fühlt sich alles richtig an.

Trotzdem, ich muss ehrlich zugeben, gut geht es mir derzeit nicht. Johanna fehlt extrem, und auch 14 Monate nach ihrem Tod ist nichts wieder gut oder verheilt.

Ich bin umgezogen, weil die Nähe zum Ort der Geschehnisse zu weh tut. Julius, mein Großer, ist jetzt sechs und wird im Sommer eingeschult. Er lebt inzwischen bei seinem Papa und dessen neuer Freundin in meiner ehemaligen Wohnung. So ändert sich für ihn nicht viel. Ich sehe ihn an drei bis vier Tagen in der Woche. Das ist eine Lösung, mit der wir alle zufrieden sind.

Jette ist schon 20 Monate. Ich erzähle ihr viel von Johanna. Sie erkennt ihre große Schwester auf Fotos, nennt sie „Baby“, den Bruder „Jojo“.

Johanna hat es allen gezeigt. Sie hat sich ins Leben gekämpft und würdevoll Abschied genommen. Sie hat mich vieles gelehrt. Ich bin sehr stolz darauf, dieses tapfere Mädchen meine Tochter nennen zu dürfen.

Eine erste Version von Aylin Bucevacs Geschichte stand zuerst auf dem Blog stadtlandmama.de

Von Aylin Bucevac

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false